Neue Anwendungen für existierende Wirkstoffe: Künstliche Intelligenz entdeckt potentielle Breitbandantibiotika

Sa, 27.02.2020 — Inge Schuster

vIcon MedizinAuf dem Antibiotikagebiet dürfte ein großer Durchbruch erfolgt sein: Mithilfe von Künstlicher Intelligenz haben Forscher am Massachusetts Institute of Technology (MIT) und am Broad Institute aus einer Sammlung existierender Arzneimittel(kandidaten)  ein hocheffizientes Antibiotikum identifiziert, das einen neuartigen Wirkungsmechanismus aufweist. Diese, Halicin genannte Substanz tötete in vitro viele der weltweit problematischsten pathogenen Bakterien, einschließlich einiger Stämme, die gegen alle bekannten Antibiotika resistent sind. In vivo Untersuchungen an der Maus in zwei unterschiedlichen Infektionsmodellen bestätigten die in vitro Wirksamkeit.

"Der Mangel an neuen Antibiotika gefährdet die weltweiten Bemühungen, arzneimittelresistente Infektionen einzudämmen" So übertitelt die WHO eine Aussendung vom 17.Jänner 2020.

Infektionen mit arzneimittelresistenten Keimen und damit verbundene Morbidität und Mortalität sind weltweit auf dem Vormarsch und alle Länder sind davon betroffen. In Europa rechnet man jährlich mit rund 33 000 Todesfällen, in den US mit über 35 000 Toten bei mehr als 2,8 Millionen an Antibiotika-resistenten Infektionen Erkrankten (1). Derartige Infektionen bedeuten zudem eine enorme Gefahr für die moderne Medizin, für die wirksame Antibiotika ja eine Grundvoraussetzung sind, um komplizierte chirurgische Eingriffe, Transplantationen und Chemotherapien durchführen zu können.

Wie war es zu diesem Antibiotika Mangel gekommen?

Die Entdeckung des Penicillins hatte einen Boom in der Antibiotika-Forschung und Entwicklung ausgelöst, der bis in die 1980er Jahre anhielt. Praktisch alle großen Pharmakonzerne investierten damals in Infektionskrankheiten und generierten eine breite Palette an Wirkstoffen mit unterschiedlichen Wirkungsmechanismen, wie beispielsweise β-Laktame, Tetracycline, Aminglykoside oder Makrolide. Damit waren dann aber offensichtlich die "low hanging fruits" gepflückt und trotz intensiver Bemühungen wurden weitere Substanzklassen mit neuartigem Wirkmechanismus kaum noch entdeckt. Unter den vorhandenen Antibiotika herrschte zudem ein großer Konkurrenzdruck und man glaubte über ein ausreichend großes Arsenal an Wirkstoffen bereits zu verfügen, um für alle Eventualitäten  gerüstet zu sein. Die langdauernde, enorm teure Entwicklung neuer Wirkstoffe, die den vorhandenen dann wohl kaum überlegen sein würden, erschien finanziell nicht tragbar. So zogen sich die Pharmakonzerne aus der Antibiotikaforschung zurück.

Noch problematischer erschien später – mit dem Aufkommen der Resistenzentwicklung gegen die gängigen Antibiotika – ein Wiedereinstieg in das Gebiet. Um gegen ein neues Mittel nicht zu schnell Resistenzen entstehen zu lassen, darf es ja nur in äußersten Notfällen eingesetzt werden. In anderen Worten: enorm hohe Entwicklungskosten stehen der Aussicht auf einen minimalen Absatz gegenüber.

So kam es, dass in den letzten Jahrzehnten nur sehr wenige neue Antibiotika entwickelt wurden , wobei diese größtenteils nur geringfügig veränderte Varianten vorhandener Wirkstoffe sind.

Der aktuelle Stand der Antibiotikaforschung

Vorhandene und potentielle neue Antibiotika, welche bereits in klinischer Prüfung sind und diese erfolgreich durchlaufen müssen, reichen nicht aus, um die steigende und sich ausbreitende Resistenzentwicklung zu bewältigen. Zwei aktuelle Berichte der WHO zeigen dies auf (1, 2):

So sind seit Juli 2017 zwar 8 neue Wirkstoffe zugelassen worden, deren klinischer Nutzen ist allerdings begrenzt. Wie auch die Mehrheit der 50 Antibiotika-Kandidaten, die sich zur Zeit in Phase 1 bis Phase 3 der klinischen Prüfung befinden, sind es Abwandlungen bereits existierender Antibiotika, die im Vergleich zu diesen kaum Vorteile bringen. Nur 2 Substanzen zielen auf die problematischsten resistenten (Gram-negativen) Keime ab.

Die präklinische Pipeline - das sind Substanzen am Beginn der Entwicklung - sieht besser aus (2): Diese enthält 252 Wirkstoffe, die innovativeren Charakter haben und größere Diversität aufweisen. Erfahrungsgemäß scheitert der überwiegende Teil der präklinischen Kandidaten dann in der Testung auf Wirksamkeit und Sicherheit am Menschen. Vielleicht schaffen es 2, vielleicht auch 5 der präklinischen Substanzen schlussendlich zur Anwendung zugelassen werden; bis es soweit ist, kann es noch ein Jahrzehnt dauern.

Akteure in dem Geschehen sind nicht die großen Konzerne, sondern zum überwiegenden Teil kleine und mittelgroße Firmen und auch non-profit Organisationen wie die Global Antibiotic Research and Development Partnership (GARDP).

(Information zum Prozess der Arzneimittel-Forschung und -Entwicklung:  Insgesamt braucht es heute im Durchschnitt 12 - 13 Jahre, um ein neues Medikament auf den Markt zu bringen, die dafür aufzubringenden Forschungs-und Entwicklungskosten liegen im Mittel um 2,6 Milliarden US $ und nur etwa 5 % der in die klinische Prüfung gelangenden Kandidaten erreichen die Zulassung.)

Neuanwendungen bereits vorhandener Wirkstoffe (Drug Repurposing)…

oder eine Nebenwirkung wird zur Hauptwirkung.

Dass Arzneimittel nicht nur mit ihrer Zielstruktur (ihrem Target) wechselwirken und damit die erwünschte Wirkung hervorrufen, sondern auch mit anderen Strukturen im Organismus interagieren und damit Nebenwirkungen auslösen können, ist hinlänglich bekannt. Derartige Nebenwirkungen haben in bereits zahlreichen Fällen zur Identifizierung neuer Anwendungsmöglichkeiten geführt. Ein Beispiel ist hier das in den 1960er Jahren millionenfach verkaufte Beruhigungsmittel Contergan (Thalidomid), das schwerste Missbildungen bei Neugeborenen auslöste, nun aber bei Lepra und bestimmten Krebserkrankungen (u.a. Myelomen) erfolgreich zum Einsatz kommt. Viagra, das gefäßerweiternd wirkt, wurde ursprünglich gegen Bluthochdruck und Angina pectoris geprüft; die recht offensichtliche Nebenwirkung hat es zum Blockbuster bei erektiler Dysfunktion werden lassen. Das klassische, seit mehr als 50 Jahren erfolgreich angewandte Antidiabetikum Metformin wird nun in hunderten klinischen Versuchen in verschiedensten Indikationen von Neoplasmen bis hin zu Anti-Aging getestet. Ein Beispiel aus eigener Erfahrung war eine bei Sandoz für Herz-Kreislauferkrankungen synthetisierte Substanz, die sich in unserem Wiener Sandoz-Forschungsinstitut als hochaktiv gegen pathogene Pilze erwies; nach Optimierung entstand daraus der Blockbuster Terbinafin, der gegen Haut-und Nagelpilz angewandt wird.

Je nachdem, ob es sich um ein bereits zugelassenes Medikament oder um eine Entwicklungssubstanz handelt, können Daten zu Aufnahme, Verteilung, Metabolismus und Ausscheidung im menschlichen Organismus und zu Sicherheit und Nebenwirkungen bereits vorliegen und der Wirkmechanismus bekannt sein. Bei einer Neuanwendung in einer anderen Indikation lassen sich daher Dauer und Kosten der Entwicklung erheblich reduzieren.

…und eine Datenbank vorhandener Wirkstoffe (Drug Repurposing Hub)…

Das Broad Institute des MIT (Massachusetts Institute of Technology) und der Harvard University wurde 2004 gegründet u.a. um die Biologie humaner Erkrankungen besser zu verstehen und eine Basis für neue Therapien zu schaffen. Forscher haben hier mit Drug Repurposing Hub eine open access Datenbank errichtet, die derzeit mehr als 6000 Substanzen enthält, wobei es sich bei etwa zwei Drittel davon um von der FDA bereits zugelassene Stoffe handelt oder um Entwicklungssubstanzen, die bereits in der klinischen Prüfung sind. Ein Drittel sind Substanzen vorwiegend in der präklinischen Phase. Von allen Substanzen sind Bezeichnung, chemische Struktur, Entwicklungsstatus, Wirkungsmechanismus, Targets im Organismus undIndikationen eingetragen.

…in der Künstliche Intelligenz ein neues Antibiotikum entdeckt...

Um zu vollkommen neuen antibiotisch wirksamen Substanzen zu gelangen, hat ein großes Team von der Harvard University, dem MIT und dem Broad-Institut unter der Leitung von Regina Barzilay und James Collins sogenannte neuronale-Netzwerk-Modelle des Maschinellen Lernens angewandt. Diese lassen sich trainieren Molekülstrukturen zu analysieren und mit bestimmten Eigenschaften - wie der Fähigkeit Bakterien zu töten - zu korrelieren und zu Algorithmen umzusetzen. Der wesentliche Punkt: Der Algorithmus lernt ohne irgendeine Ahnung wie Substanzen nun wirken.

Im konkreten Fall haben die Forscher nach chemischen Merkmalen gesucht, welche Molekülen die Fähigkeit verleihen das Bakterium E.coli zu töten. Dazu haben sie das Modell mit empirischen Daten zur Wachstumshemmung von E coli durch insgesamt 2 500 Moleküle mit unterschiedlichsten Strukturen und biologischen Aktivitäten trainiert; 1700 dieser Verbindungen waren von der FDA zugelassene Arzneimittel und 800 waren Naturstoffe .

Nachdem das Modell trainiert war, haben die Forscher dann damit auf potentielle antibiotisch aktive Verbindungen im Drug Repurposing Hub getestet. Aus den rund 6000 Verbindungen selektierte das Modell dann eine Verbindung, für die es hohe antibiotische Aktivität prognostizierte und die strukturell völlig anders war als die bisherigen Antibiotika. Es war dies eine Substanz, die gegen Diabetes getestet worden war, in der klinischen Prüfung aber wegen mangelnder Wirksamkeit durchfiel. Mit einem unterschiedlichen Modell prognostizierten die Forscher geringe Toxizität für menschliche Zellen.

...Halicin

Die Forscher nannten diese Verbindung Halicin und testeten sie in vitro an einer Reihe von E.coli Stämmen, die Resistenzgene gegen Antibiotika wie Poymyxine, Chloramphenicol, β-Laktame, Aminglycoside und Fluoroquinoline trugen und sodann an Dutzenden Bakterienstämmen und Isolaten von infizierten Patienten. Mit Ausnahme des die Lunge befallenden Keims Pseudomonas aeruginosa konnte Halicin viele resistente Keime abtöten (darunter Clostridium difficile, Acinetobacter baumannii und Mycobacterium tuberculosis). Abbildung 1.

Abbildung 1. Halicin, ein möglicher Durchbruch in der Antibiotikaforschung. Das kleine Molekül (rechts), das ursprünglich gegen Diabetes getestet worden war, wurde von MIT-Forschern mithilfe von Künstlicher Intelligenz aus einer Sammlung existierender Wirkstoffe als hochwirksames Antibiotikum identifiziert, das viele Bakterienstämme abtötet. Links: Untersuchung an E.coli Kulturen. Links oben (Bild 1,2): Kulturen mit Halicin. Links unten (Bild 1,2) Kulturen mit Ciprofloxacin. Gegen Halicin entwickeln E.coli Bakterien auch nach 30 Tagen (Bild 2) keine Resistenz - E.coli wird abgetötet, die Platten bleiben klar. Gegen das Antibiotikum Ciprofloxacin tritt Resistenz bereits nach drei Tagen auf und erreicht nach 30 Tagen (Bild 2) den 200 fachen Wert; die Kulturplatte is von Keimen überwuchert.  (Bild: courtesy of the Collins Lab at MIT; CC-by-nc-sa)

Auch im Wirkungsmechanismus unterscheidet sich Halicin von den bisherigen Antibiotika. Halicin dürfte  Bakterien abtöten, indem es verhindert, dass die Bakterienzelle über ihre Zellmembran ein elektrochemisches Potenzial aufrecht erhält, das u.a. zur Bildung des essentiellen Energielieferanten ATP unabdingbar ist.

Halicin zeigte auch außergewöhnliche Aktivität in vivo, im Infektionsmodell in der Maus. Die Tiere wurden dazu mit einem gegen alle Antibiotika resistenten Keim (Acinetobacter baumannii) infiziert, unter dem auch viele US Soldaten im Irak und in Afghanistan gelitten hatten. Unter Halicin-Behandlung war der Keim innerhalb von 24 Stunden aus dem Körper der Maus verschwunden.

Nach der Entdeckung von Halicin erprobten die Forscher ihr Modell an einer Datenbank - ZINC15 -, die mehr als 1,5 Milliarden Verbindungen erfasst. Die Testung eines Pools von mehr als 100 Millionen Molekülen benötigte nur drei Tage und führte zu 23 Treffern (Hits); im nachfolgenden Test an mehreren Bakterienstämmenzeigten 8 Verbindungen antibakterielle Wirkung. (Die Arbeiten sind in (3) beschrieben)

Outlook

Der erfolgreiche Einsatz von Künstlicher Intelligenz zur Auffindung neuer Wirkstoffe in großen Kollektionen bereits existierender Arzneimittel bedeutet zweifellos  einen gewaltigen Durchbruch und kann nicht nur das Antibiotikagebiet revolutionieren. Werden alte Substanzen für neue Indikationen wiederverwendet, so können diese ja viel schneller den Entwicklungsprozess durchlaufen und - in vielleicht 3 - 4 Jahren - zu ungleich geringeren Kosten den Markt erreichen als es im  konventionellen Prozess der Fall ist. 

Es ist zu hoffen, dass Halicin diesen Prozess erfolgreich besteht. Nebenwirkungen sind nicht auszuschließen, da sein Target  im menschlichen Stoffwechsel eine wichtige Rolle spielt. Es könnte auch sein, dass Halicin unser gesamtes Mikrobiom  (temporär) auslöscht. Derartige potentielle Probleme sind gegen die Möglichkeit abzuwägen ein Arzneimittel anzuwenden, das hilft, wenn sonst nichts mehr hilft.


1. World Health Organization: 2019 ANTIBACTERIAL AGENTS IN CLINICAL DEVELOPMENT - an analysis of the antibacterial clinical development pipeline. https://apps.who.int/iris/bitstream/handle/10665/330420/9789240000193-eng.pdf

2. World Health Organization: ANTIBACTERIAL AGENTS INPRECLINICAL DEVELOPMENT - an open access database. https://apps.who.int/iris/bitstream/handle/10665/330290/WHO-EMP-IAU-2019.12-eng.pdf

3. JM Stokes et al., A Deep Learning Approach to Antibiotic Discovery.Cell 180, 688–702, February 20, 2020


Weiterführende Links:

The Drug Repurposing Hub at the Broad Institute. (13.11.2019) Video 2,5 min.

Halicin is a powerful new antibiotic drug discovered by AI algorithm of MIT. (21.02.2020) Video 4:17 min.

Artikel im ScienceBlog:

Zu künstlicher Intelligenz:

Zu Antibiotika: