Fr 07.08.2020 Inge Schuster
Diclofenac (ursprüngliche Markenbezeichnung Voltaren) ist einer der weltweit am meisten angewandten Wirkstoffe gegen Entzündungen und Schmerzen und dies vor allem im Bereich des Bewegungsapparates. Da auf Grund des Wirkungsmechanismus auch zahlreiche unerwünschte Nebenwirkungen auf Leber, Niere, Verdauungstrakt und Herz-Kreislaufsystem auftreten können, verspricht man sich eine signifikante Reduktion solcher Risiken durch die sogenannte topische Anwendung, d.i. durch auf die Haut aufgetragene Wirkstoff enthaltende Cremen, Salben oder Gele (darüber wurde vor Kurzem im ScienceBlog berichtet [1]). Der Nutzen solcher Anwendungen ist allerdings meistens bescheiden, die Gefahr für die Umwelt - der überwiegende Teil des Wirkstoffs gelangt über das Abwasser in den Wasserkreislauf - dagegen groß.
Massensterben von Geiern
Als ich vor rund 30 Jahren das erste Mal in Indien war, gehörten Geier zum gewohnten Straßenbild. Sie hockten in Massen auf Bäumen und warteten darauf, dass ein Tier verendete, dass ein Tier überfahren wurde und ihnen dann für einige Zeit reichlich Nahrung garantierte. Abbildung 1.
Abbildung 1. Entlang der Straße von Agra nach Fatehpur Sikri (Uttar Pradesh, Indien) waren 1991 Geier in großer Zahl anzutreffen (Bild I.Schuster) |
Aus anfangs unerklärlichen Gründen begannen in den darauffolgenden Jahren die Geier-Populationen zu schrumpfen - 2007 gab es von einzelnen Stämmen nur mehr 0,1 bis 3 % der Tiere. Als offensichtliche Ursache für das Aussterben entdeckte man Diclofenac (der Wirkstoff von Voltaren), das in Indien nicht nur am Menschen sondern auch in der Veterinärmedizin an Rindern gegen verschiedenste Erkrankungen - von Pneumonie bis Arthritis - angewandt wurde. Da Rinder in Indien nicht der menschlichen Nahrung dienen, bleiben ihre Kadaver auf den Straßen liegen und wurden bis in die 1990er-Jahre üblicherweise von den Geiern "entsorgt". Diclofenac-Rückstände in behandelten Tiere erwiesen sich dann aber als hochtoxisch für die Vögel, die an Nierenversagen verendeten. (Nierentoxizität gehört u.a. auch zu den unerwünschten Nebenwirkungen von Diclofenac in der Humananwendung).
Die Auswirkungen auf das Ökosystem waren massiv. Die verrottenden Kadaver - eine ideale Brutstätte für verschiedenste infektiöse Keime - wurden nun von wilden Hunden und Ratten gefressen, welche Infektionen (von Anthrax über Tollwut bis hin zur Pest) weiter verbreiteten. Schlussendlich wurde 2006 dann in Indien, Nepal und Pakistan die Anwendung von Diclofenac in der Tiermedizin verboten (und als Äquivalent das für Geier angeblich ungiftige Meloxicam erlaubt).
In der EU wurde allerdings Diclofenac 2014 für veterinärmedizinische Anwendungen zugelassen. Für Spanien, das die größte Geier-Population Europas beherbergt, wird nun ein ähnliches Schicksal der Tiere wie in Indien befürchtet.
Geier sind ein zwar markanter Indikator für Diclofenac-verursachte Schädigungen, stellen aber nicht einmal die Spitze des Eisbergs ökologischer Risiken dar. Zahlreiche ökotoxikologische Studien weisen darauf hin, dass Diclofenac schädliche Auswirkungen auf aquatische Lebensgemeinschaften und ebenso auf Tiere und Pflanzen an Land haben kann. In verschiedenen Säugetiersystemen wurden toxische Effekte auf Herz-Kreislauf, Leber, Niere, Nervensystem u.a. aufgezeigt.
Diclofenac gehört zu den weltweit populärsten Mitteln gegen Entzündungen und Schmerzen
und wird in oraler Form (Tabletten), in Form von Injektionen und in topischer Form (Salben und Gele) angewandt. Der Bedarf für Diclofenac am Weltmarkt belief sich 2018 auf mehr als 2000 Tonnen (https://topicsonchemeng.org.my/paper/ICNMIM080.pdf) und steigt weiter an. Auch, wenn das Patent auf diesen Wirkstoff bereits vor langer Zeit abgelaufen ist und darauf basierende Arzneimittel billig sind, wird für 2025 ein Umsatz von 5,6 Milliarden $ US prognostiziert.
Haupteinsatzgebiet sind dabei Schmerzen im Bewegungsapparat, die man durch Einreiben der Haut mit Salben und Gelen zu lindern versucht (siehe [1]). Allein in Deutschland lag der Verbrauch von Diclofenac bei rund 85 Tonnen im vergangenen Jahr, in Österreich bei rund 5,6 Tonnen im Jahr 2014 (Zahlen vom Deutschen resp. Österreichischen Bundesumweltamt).
Diclofenac im Wasserkreislauf
Der weitaus überwiegende Teil dieser Wirkstoffmengen landet schlussendlich im Abwasser. Aus oral verabreichtem oder injiziertem Diclofenac entstehen im Organismus mehrere (z.T. biologisch wirksame) Metabolite, die neben unveränderter Substanz vorwiegend über den Urin ausgeschieden werden. Von dem in Salben/Gelen topisch aufgebrachten Wirkstoff gelangen nur wenige Prozente in den Organismus, die dann - wie im Fall des oral oder durch Injektion verabreichten Diclofenac -metabolisiert und ausgeschieden werden; bis zu 95 % (und mehr) verbleiben in unveränderter Form auf der Haut und werden abgewaschen.
Abbildung 2. Der Weg des Diclofenac vom Patienten in die Fliessgewässer. Auch eine effiziente Kläranlage hält nur einen Teil des im Abwasser vorhandenen Wirkstoffs zurück. (Bild modifiziert nach[2]: C.Font et al., https://doi.org/10.5194/gmd-12-5213-2019 [2]; Lizenz: cc-by 4.0) |
Tausende Tonnen Wirkstoff werden also laufend über das Abwasser in die Flusssysteme, von dort ins Grundwasser, Trinkwasser in die Seen und schlussendlich ins Meer geleitet. Abbildung 2 skizziert diesen Weg in vereinfachter Form.
Die in Abbildung 2 dargestellten Schritte sind Basis des GLOBAL-FATE Modells, eines ersten Modells das darauf hinzielt weltweit aus dem Verbrauch von Arzneimitteln deren Eintrag undin die Gewässersysteme zu simulieren. Input sind Parameter wie Bevölkerungsdichte, Arzneimittelverbrauch pro Kopf, Metabolisierungs- und Ausscheidungsrate im Menschen und morphologische und hydrologische Parameter des Gewässersystems. Als Output wird angestrebt die Konzentration des Fremdstoffs und seine Verweilzeit in Gewässern zu prognostizieren. Die Leistungsfähigkeit des Modells wird am Beispiel des Diclofenac dargestellt: Die Simulierung für die Fluss-Systeme in Zentral- und Südeuropa und in anderen Ländern im Mittelmeerraum zeigt in weiten Bereichen mittlere Diclofenac-Konzentrationen, die über O,1 µg/l liegen - Ergebnisse, die mit direkten Messungen korrelieren (siehe unten) Abbildung 3.
Abbildung 3. Mit dem GLOBAL-FATE Modell erstellte Simulation der mittleren jährlichen Diclofenac-Konzentrationen in europäischen Gewässern und Ländern des Mittelmeerraums. An vielen Stellen überschreitet Diclofenac die Konzentration von 0,1 µg/l (= 100ng/l; rot). (Bild aus [2]: C.Font et al., https://doi.org/10.5194/gmd-12-5213-2019 [2]; Lizenz: cc-by 4.0) |
Dieses benutzerfreundliche Multi-Platform Modell sollte es Wissenschaftern und auch Politikern ermöglichen die Auswirkungen eines veränderten Arzneimittelverbrauchs und/oder verbesserter Kläranlagen auf den Eintrag von Wirkstoffen in die Umwelt zu simulieren und Maßnahmen zu begleiten.
2015 hat die Europäische Kommission eine erste Watchlist für Arzneistoffe mit erheblichem Gefährdungspoteial für die aquatische Umwelt herausgegeben und Bewerungskriterien festgelegt. Diclofenac ist in dieser Liste vertreten, daneben u.a. 3 Antibiotika und ebenso viele Steroidhormone.
Basierend auf experimentell gemessenen Konzentrationen (über 120 000 Messwerten) aus insgesamt 1016 Publikationen und Datenquellen hat das Deutsche Umweltbundesamt 2016 eine Analyse und Bewertung des weltweiten Vorkommens von Arzneimitteln in der Umwelt herausgegeben [3].
Insgesamt wurden 713 Substanzen (plus 142 Metabolisierungsprodukte) geprüft. Von allen Substanzen wurde Diclofenac am häufigsten (nämlich in insgesamt 50 Ländern) in der Umwelt - d.i. im Oberflächen-, Grund- und Trinkwasser - nachgewiesen. Länderbasierte Mittelwerte zeigten in vielen Regionen Konzentrationen über 0,1 µg/l (die sogenannte Predicted No Effect Concentration, siehe unten). Die höchste Durchschnittskonzentration - 1,55 µg/l - trat in Pakistan auf. Betrachtet man die höchsten, in jeweiligen Regionen gemessenen Konzentrationen, so übersteigen diese - wie Abbildung 4 zeigt - in einer Reihe von Ländern die 1µg/l Marke.
Abbildung 4. Höchste Konzentrationen von Diclofenac in Oberflächenwässern übersteigen in einigen Ländern 1µg/l. Dies kann auf ökotoxikologische Probleme an diesen Messstellen hinweisen. (Bild aus Bericht des Deutschen Umweltbundesamtes, Texte 67/2016 [3]) |
Diclofenac findet sich auch in österreichischen Gewässern. Eine rezente Studie des Österreichischen Umweltbundesamtes hat 90 verschiedene Arzneimittel-Wirkstoffe in insgesamt 2o repräsentativen Fließgewässern und Abwässern aus allen Bundesländern analysiert, wobei die Probennahme zu jeweils zwei Zeitpunkten erfolgte.
Diclofenac konnte in allen Wasserproben nachgewiesen werden, in 9 der Gewässer in Konzentrationen um und über 0,1 µg/l. Besonders hohe Konzentrationen - um 1,0 µg/l traten an der Messstelle der Wulka (Burgenland) auf, die einen hohen Anteil an Abwasser mit sich führt. Abbildung 5.
Abbildung 5. Diclofenac Konzentrationen in österreichischen Fließgewässern. An den einzelnen Messstellen wurden 2 mal Proben genommen: im Herbst/Winter 2017 und im Frühjahr 2018. Die hohe Konzentration um 1,0 µg/l in der Wulka erklärt sich aus deren hohen Abwasseranteil. Die Bewertung eines No-Toxic-Effect Levels (rote Linie) wurde hier bei 0,05 µg/l festgesetzt.(Bild aus [4], GZÜV Sondermessprogramm 2017/2018) |
Können diese Konzentrationen ein ökotoxikologisches Risiko darstellen?
Aus standardisierten Laborexperimenten mit Organismen wie z.B. Daphnien, Fischen oder Pflanzen wurde eine sogenannte Predicted No Effect Concentration (PNEC) von 0,1 µg/l für Diclofenac bestimmt (EU 2013), d.i. eine Konzentration bei deren Einhaltung man davon ausgehen kann, dass keine Schädigung des aquatischen Ökosystems zu erwarten ist.
Sowohl die Simulierung des GLOBAL-FATE Modells (Abbildung 3) als auch die Messwerte aus den 50 Ländern (Abbildung 4, 5) zeigen, dass in vielen Ländern die No Effect Konzentration von 0,1 µg/l überschritten wird und es an den entsprechenden Messstellen zu einer Gefährdung der Ökosysteme kommen kann.
Der Eintrag von Diclofenac in Abwasser und Fließwasser führt in weiterer Folge zu messbaren Konzentrationen im gesamten Wasserkreislauf - in Grundwasser, Trinkwasser, Seen- und Meereswasser und im Sediment. Aus dem Wasser gelangt Diclofenac in Meerestiere - in diversen Fischen und in Muscheln wurden Konzentrationen bis über 20 µg/kg nachgewiesen [5]. Aus dem Boden /Wasser dringt Diclofenac in Pflanzen ein - in Tomaten aus Zypern wurden rund 12 µg/kg gemessen, in Melanzani aus Jordanien waren es < 20 µg/kg [5]. Über die Nahrungskette kann sich Diclofenac dann über die gesamte Biosphäre ausbreiten und sensitive Spezies und Ökosysteme negativ beeinflussen.
Es ist offensichtlich, dass der Eintrag von Diclofenac in die Umwelt verringert werden soll. Am einfachsten kann dies durch eine reduzierte Anwendung des Schmerzmittels erfolgen, vor allem in der Form von Salben und Gelen, die ja bei bescheidener Wirksamkeit [1] einen besonders hohen Eintrag in das Wassersystem verursachen.
[1] Inge Schuster, 27.06.2020: Auf die Haut geschmiert - wie gelangt Voltaren ins schmerzende Gelenk?
[2] C.Font et al., GLOBAL-FATE (version 1.0.0): A geographical information system (GIS)-based model for assessing contaminants fate in the global river network. Geosci. Model Dev., 12, 5213–5228, 2019. DOI:10.5194/gmd-12-5213-2019
[3] Tim aus der Beek et al., Pharmaceuticals in the environment: Global occurrence and potential cooperative action under the Strategic Approach to International Chemicals Management (SAICM). Umweltbundesamt Texte 67/2016
[4] Manfred Clara, Christina Hartmann und Karin Deutsch: Arzneimittelwirkstoffe und Hormone in Fließgewässern. GZÜV Sondermessprogramm 2017/2018 (Bundesministerium für Nachhaltigkeit und Tourismus, Herausgeber)
[5] Palanivel Sathishkumar et al., Occurrence, interactive effects and ecological risk of diclofenac in environmental compartments and biota - a review. Science of the Total Environment 698 (2020) 134057
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