Telearbeit wird bleiben. Was bedeutet das für die Zukunft der Arbeit?

Do, 03.09.2020 — Redaktion

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Die Coronavirus-Pandemie hat die Welt stark verändert und dabei die zentrale Stellung von Wissenschaft, Forschung und Innovation im Kampf gegen das Virus aufgezeigt. Maßnahmen, die als Reaktion auf das Virus getroffen wurden, haben unsere Gesellschaften in vielen Bereichen umgeformt und dabei auch manche Prozesse - wie den Übergang zur Telearbeit - beschleunigt. Der Anteil der Europäer, die nun außerhalb ihrer Arbeitsstätte tätig sind, ist von 5% auf 40% gestiegen und laut Expertenmeinung ist es unwahrscheinlich, dass die Situation wieder auf das Niveau von vor der Pandemie zurückkehrt. Abgesehen davon, dass Pendeln und Bürotratsch ausfallen, wie wird dies unsere Arbeitsweise verändern? Das EU Research and Innovation Magazine "Horizon" berichtet darüber.*

Telearbeit hat im Jahr 2020 explosionsartig zugenommen. Schätzungen zufolge haben infolge der Pandemie EU-weit fast 40% der Beschäftigten angefangen im Home Office in Vollzeit zu arbeiten. "Was ein grundlegender, aber langsam fortschreitender Trend zu sein schien, wurde nun in kürzester Zeit beschleunigt", sagt Xabier Goenaga von der Gemeinsamen Forschungsstelle (JRC), dem wissenschaftlichen Dienst der Europäischen Kommission; Goenaga ist Mitautor eines Berichts aus dem Jahr 2019 wie sich Art der Arbeit und Qualifikationen im digitalen Zeitalter verändern [1].

Vor dem heurigen Jahr haben in der EU etwa 5 % der Menschen regelmäßig von zu Hause aus gearbeitet, ein Prozentsatz, der sich seit 2009 nicht wesentlich geändert hatte. Einige Berufssparten hatten mehr Erfahrung mit Telearbeit als andere. Telearbeit ist häufiger bei hochqualifizierten Arbeitskräften anzutreffen; am meisten bei Lehrern, IKT(Informations-Kommunikationstechnologie)-Fachleuten und Managern [2].

Es bestehen auch regionale Unterschiede. Im Jahr 2019 war Telearbeit in nordeuropäischen Ländern wie Schweden, Finnland und Dänemark häufiger anzutreffen - in diesen Ländern hat auch der Großteil der Arbeitnehmer während der Pandemie mit der Telearbeit begonnen. Teilweise liegt dies daran, dass es dort mehr Arbeitsplätze in Berufen gibt, in denen Telearbeit möglich ist. Laut Goenaga spielen jedoch auch kulturelle Unterschiede eine Rolle, da in Südeuropa viele Arbeitsplätze noch in gewohnter Weise etabliert sind.

"Sie stellen sich möglicherweise nicht auf Home Office um, weil ihren Mitarbeitern nicht in gleichem Maße vertrauen, wie manche Unternehmen in Nordeuropa", sagt er. "Das wird sich meiner Meinung nach in Zukunft aufgrund der Pandemie erheblich ändern."

Home Office - Vorteile, Risiken

Ein Wechsel zum Home-Office kann für Mitarbeiter Vorteile bringen. Durch den Wegfall des täglichen Pendelns können sie mehr Freizeit und eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben erreichen. Und es gibt den Nachweis, dass die Produktivität in normalen Zeiten nicht beeinträchtigt wird, sondern sogar gesteigert werden kann.

Man muss natürlich auch die Risiken ansprechen. Ein kürzlich veröffentlichter Bericht deutet an, dass Menschen im Home Office möglicherweise länger arbeiten und weniger Pausen einlegen als von den EU-Richtlinien empfohlen, da es schwieriger ist, Kontrolle über die Arbeitszeit zu haben. Und soziale Isolation kann ebenfalls ein Problem sein.

"Wir haben gesehen, dass sich Menschen einsam und depressiv fühlen und soziale Interaktion brauchen, um ein ausgeglicheneres Leben zu führen", sagte Goenaga. Sein Team untersucht derzeit das Problem, um herauszufinden, wie man Abhilfe schaffen kann.

Aufgrund von Schulschließungen während der Pandemie musste Fernarbeit häufig mit Kinderbetreuung in Einklang gebracht werden - mehrere Rollen, die häufig Frauen angelastet werden. Eine kürzlich in Frankreich durchgeführte Umfrage ergab, dass hauptsächlich Frauen berichteten Telearbeit wirke sich negativ auf ihre psychische Gesundheit aus. Dies wird auf die zusätzliche familiäre Verantwortung zurückgeführt, die während der Pandemie auf ihren Schultern lag.

"Wir sollten uns gemeinsam damit befassen und herausfinden, welche Maßnahmen wir ergreifen müssen, damit Frauen nicht erneut bestraft werden, weil sie Frauen sind", sagt Goenaga.

Nach der Pandemie

Wenn die Pandemie endet, wird Telearbeit wahrscheinlich fortgesetzt. Technologie Unternehmen wie Google haben bereits angekündigt, dass ihre Mitarbeiter bis zum Sommer 2021 von zu Hause aus arbeiten werden. Laut George Tilesch, einem globalen KI-Berater (KI: künstliche Intelligenz; Anm. Redn.) und Autor von Between Brains, einem Buch über die gegenwärtigen und zukünftigen Auswirkungen von künstlicher Intelligenz, werden kleine Unternehmen bald nachziehen.

Telearbeit ist für Unternehmen attraktiv, da sie Kosten senkt. Eine Umfrage hat ergeben, dass manche Mitarbeiter sogar bereit wären, eine Lohnkürzung in Kauf zu nehmen, wenn sie von zu Hause aus arbeiten könnten. "Ich denke, die menschliche Natur neigt dazu, an einer Sache festzuhalten, nachdem sie erkannt hat, dass diese funktioniert", sagte Tilesch.

Viele Unternehmen werden beim Übergang zum Telearbeiten möglicherweise Künstliche Intelligenz einsetzen, insbesondere mittels Echtzeitsystemen, mit denen Mitarbeiter im Home Office kontrolliert werden können. Es gibt bereits Überwachungstechnologien, die verfolgen, was Mitarbeiter tun, die beispielsweise E-Mails überwachen und wer auf Dateien zugreift und diese bearbeitet. Diese Methoden können aber noch verbessert und weiter verbreitet werden.

Unternehmen müssen auch die Cybersicherheit überdenken. Während der Pandemie haben viele Mitarbeiter externe Plattformen zur Kommunikation via Videokonferenzen genutzt, und einige waren anfällig für Hacking. "Unternehmen müssen bei der Auswahl der von Telearbeitern verwendeten Videokonferenzeinrichtungen vorsichtig sein, um das Risiko gehackt zu werden und sensible Informationen zu verlieren zu minimieren", sagt Goenaga.

Digitale Kompetenzen

Umschulung ist ebenfalls ein Problem, da viele Menschen nicht über die erforderlichen Fähigkeiten verfügen, um im Home Office zu arbeiten. In einem kürzlich veröffentlichten EU-Bericht wurde beispielsweise festgestellt, dass ein Drittel der Arbeitnehmer in der EU nur sehr begrenzte oder gar keine digitalen Kompetenzen besitzt. In Zukunft erfordern jedoch die meisten Jobs zumindest mittelmäßige Computerkenntnisse.

Abbildung 1. Arbeiten im Home Office kann höhere Produktivität bedeuten aber auch zu Isolation und längerer Arbeitszeit führen. (Bild: PickPik)

Große Unternehmen haben bereits einen Schritt gesetzt, um Arbeitslosen beim Erwerb digitaler Kenntnisse zu helfen. Im Juni hat Microsoft ein Covid-19-Wiederaufbau Programm in Zusammenarbeit mit LinkedIn gestartet, um Jobs, für die Bedarf besteht und welche Kenntnisse dafür erforderlich sind zu ermitteln. Sie wollen dann allen Interessierten freien Zugang zu relevanten Lernmaterialien anbieten.

"Diese Art von Initiativen, die von der Industrie ausgehen und an die sich hoffentlich die Regierungen anschließen, sind der Weg in die Zukunft", sagt Tilesch.

Goenaga geht davon aus, dass die EU im Rahmen des Wiederaufbaus nach Corona in den nächsten 18 Monaten auch Schulungen anbieten wird. "Ich denke, es wird viele Programme geben, die auf die Umschulung von Arbeitslosen und die Weiterbildung der arbeitenden Bevölkerung abzielen", sagt er.

Wenn Arbeit im Home Office bestehen bleiben soll, kann dies tiefgreifende Auswirkungen auf die regionale Verteilung von Arbeitsplätzen haben. Derzeit gibt es in Hauptstädten viel mehr hochbezahlte Arbeitsplätze als in anderen Regionen eines Landes. Goenaga glaubt jedoch, dass Telearbeit zu einer Umkehrung dieses Trends führen könnte. "In Unternehmen entscheiden sich möglicherweise viele Mitarbeiter dafür, dass sie ihre Arbeit von einem weiter entfernten Ort aus erledigen, der auch am Land sein kann", meint er.

Unternehmen können auch beschließen, ihre Büroflächen zu verkleinern. Seit der Aufhebung der Lockdowns wurde die Bürokapazität in manchen Fällen um 30% bis 50% reduziert. Wenn auch derzeitige Beschränkungen weitgehend eingeführt wurden, um die Richtlinien zur räumlichen Distanzierung zu befolgen, dürften Unternehmen feststellen, dass sie die Anzahl der intern arbeitenden Mitarbeiter dauerhaft reduzieren können. Laut Tilesch würden Büros nicht vollständig verschwinden, sondern nur genügend Raum benötigen, um etwa 30% der Mitarbeiter gleichzeitig aufzunehmen.

Auf lange Sicht sollte die Adaptierung an Telearbeit von Vorteil sein, wenn eine andere Gesundheitskrise oder vergleichbare Situation eintritt. "Organisationen, die bereits weitgehende Telearbeit eingeführt haben, werden imstande sein diese - noch effizienter und erfolgreicher - wieder einzuführen", sagt Goenaga.


*Der Artikel ist am 1.September 2020 im Horizon, the EU Research and Innovation Magazineunter dem Titel: "Teleworking is here to stay – here’s what it means for the future of work" erschienen (Autorin: Sandrine Ceurstemont). Der unter einer cc-by-Lizenz stehende Artikel wurde von der Redaktion möglichst wortgetreu aus dem Englischen übersetzt. Zahlreiche Literaturangaben können im Original nachgesehen werden.


 [1] The changing nature of work and skills in the digital age.  EU Science Hub. 2019. https://ec.europa.eu/jrc/en/publication/eur-scientific-and-technical-research-reports/changing-nature-work-and-skills-digital-age

[2] Telework in the EU before and after the COVID-19: where we were, where we head to. https://ec.europa.eu/jrc/sites/jrcsh/files/jrc120945_policy_brief_-_covid_and_telework_final.pdf