Außergewöhnliche Langlebigkeit: Wie haben die Cammalleri-Schwestern gelebt, um 106 und 113 Jahre alt zu werden?

Do, 14.05.2020 — Ricki Lewis

Ricki LewisIcon MedizinWas führt zu einer extrem langen Lebensdauer? In einer Aufsehen erregenden Untersuchung an zwei über 100 Jahre alten Schwestern wird deren Phänotyp an Hand von demographischen, klinischen, anamnestischen, kognitiven und funktionellen Daten sowie biochemischen und genetischen Parametern charakterisiert. Besonders bemerkenswert sind Daten, die u.a. auf das Vorhandensein von oxydativem Stress und stetiger Entzündung, ungesunden Cholesterinspiegeln und von der Norm nicht abweichende Längen von Telomeren hinweisen. Die Genetikerin Ricki Lewis berichtet über diese Untersuchung, deren Aussage auch ist, dass eine "one-size-fits-all" - eine für alle einheitliche - Medizin nicht immer der beste Weg ist, um Gesundheit zu beurteilen und Langlebigkeit zu prognostizieren.*

Kürzlich stieß ich auf einen neuen Artikel , welcher die Gesundheit von zwei italienischen Schwestern analysierte, die ein bemerkenswert hohes Alter erreicht hatten. "Die phänotypische Charakterisierung der Cammalleri-Schwestern, ein Beispiel für außergewöhnliche Langlebigkeit" stammt von Calogero Caruso und Kollegen von der Universität Palermo, Italien, und wurde in Rejuvenation Research veröffentlicht [1].

Filippa, geboren am 12. Dezember 1911 und verstorben am 6. Juli 2018,war mit 106 Jahren beinahe eine Supercentenarianerin (Person , die mindestens 110 Jahre alt ist; Anm. Redn). Ihre Schwester Diega, geboren am 23. Oktober 1905 und gestorben am 15. Juni 2019, war eine Supercentenarianerin , die 113 Jahre alt wurde. Von den Hundertjährigen schafft es nur 1 von 1.000 110 Jahre alt zu werden. Weltweit sind nur 27 Supercentenarier bekannt

Ein kürzlich in The New Yorker veröffentlichter Artikel: "War Jeanne Calment die älteste Person, die jemals gelebt hat - oder ein Betrug?" erzählte die Geschichte der berühmten Französin, die 1997 angeblich im Alter von 122 Jahren starb. Als jedoch historische Unstimmigkeiten auftauchten, stellten die Ermittler fest, dass die verstorbene Frau möglicherweise eine Tochter war, welche die Identität angenommen hatte. Lauren Collins schrieb: „Jeanne Calment… war eine zufällige Ikone, ihre Berühmtheit das Ergebnis einer Form von Passivität. Einhundertundzwanzig Jahre, fünf Monate und vierzehn Tage lang gelang es Calment, nicht zu sterben."

Aber Filippa und Diega Cammalleri waren real - und untersucht.

Anti-Aging-Industrie nach dem Schema "One-Size-Fits-All"

Im Juli 2017 überreichten die Forscher den Schwestern einen detaillierten Fragebogen, nahmen alle möglichen Messungen vor und führten Blutanalysen und in begrenzten Ausmaß genetische Analysen durch. Was ihre Erkenntnisse über die Physiologie der Schwestern aufzeigen, steht in mehrfacher Hinsicht im Widerspruch zu dem, wofür die „Anti-Aging“ -Industrie wirbt, um uns angeblich länger leben zu lassen.

Es stellt sich heraus, dass die super-alten Schwestern wahrscheinlich aufgrund des hohen Anteils an Prooxidantien und des niedrigen Anteils an Antioxidantien sowie der stetigen mäßigen Entzündung so lange lebten. Filippa hatte ungesunde Cholesterinwerte und beide Schwestern teilten offenbar einen Vorliebe für Süßigkeiten.

"Altern" bedeutet biologisch gesehen "sich im Laufe der Zeit zu verändern". Die einzige Anti-Aging-Strategie besteht daher darin, sein Leben zu beenden oder mit einer Zeitmaschine eine Reise zu unternehmen. Wie jedoch in dieser Zeit der Pandemie klar ist, sind populäre Ideen nicht immer wissenschaftlich sinnvoll. Abbildung 1.

Abbildung 1. Wie man sich Anti-Aging m 16. Jahrhundert vorstellte: "Der Jungbrunnen" von Lucas Cranach d. Ä (1546), Gemäldegalerie Berlin.

Nehmen Sie Sephora, die Kette von Kosmetikprodukten und Superstores für Hautpflege. Zu deren Anti-Aging-Elixieren gehören Peelings, Seren, Polypeptid-Feuchtigkeitscremes, Öle, das völlig nutzlose Kollagen (ein zu großes Molekül, um unter die Oberhaut zu gelangen), Pitera-Essenz (ein aus Sake gebrautes „Wundermittel“; so schnell, wie ich es gegoogelt hatte, versuchte Facebook es mir bereits zu verkaufen), Milchsäure, Retinolcreme, Litschi Früchte, Hyaluronsäure und natürlich die allgegenwärtigen Antioxidantien.

Fragen und Messungen

Die Schwestern haben ihr ganzes Leben in Canicattì, Sizilien, verbracht. Was hat ihre Herzen so lange schlagen lassen?

Sie beantworteten weitreichende Fragen. Woran war jede der Schwestern erkrankt? Welche Medikamente hatten sie genommen? Hatten sie geraucht? Tests beurteilten Depressionen, den kognitiven Status, Aktivitäten des täglichen Lebens, die Fähigkeit zur Ausführung komplexer Aufgaben sowie Schlaf- und Essgewohnheiten. Eine Erwähnung körperlicher Übungen ist mir nicht aufgefallen.

Zu den Messungen gehörten der Body-Mass-Index und die Analyse der bioelektrischen Impedanz (diese bestimmt Fettgehalt und Muskelmasse mittels eines schwachen elektrischen Stroms, der durch den Handrücken und einen Fuß fließt.)

Die Familiengeschichte war unkompliziert und wies auf Langlebigkeit und Darmkrebs hin.

Filippas und Diegas Vater Calogero Cammalleri war im Alter von 97 Jahren verstorben - Ursache nicht bekannt - und ihre Mutter Maria Di Pasquale im Alter von 73 Jahren an Krebs. Von deren drei Söhnen starben die Zwillinge an Darmkrebs und ein Sohn bei einem Unfall.

Diega hat an einer Grundschule unterrichtet; Filippa hat die Grundschule abgeschlossen. Die Schwestern haben nie geheiratet und in einer Wohnung gemeinsam gelebt. Sie waren ausreichend situiert, um sich eine Pflegekraft leisten zu können.

Die Schwestern haben nie geraucht, 5 bis 6 Stunden pro Nacht geschlafen und nahmen an Medikamenten Blutdrucksenker, Diuretika und Blutverdünner ein. Diega hatte Makuladegeneration und Filippa hatte Grauen Star. Beide litten an Arthrose (ein Abbau des Gelenkknorpels ohne Entzündung) und Osteoporose.

Filippa wurde im Alter von 100 Jahren mit einem Bruch des Oberschenkelknochen und fünf Jahre später wegen Verstopfung ins Krankenhaus eingeliefert. Sie hatte eine leichte Demenz. Die Krankengeschichten der beiden Schwestern waren also wenig bemerkenswert.

Erst in ihrem letzten Jahrzehnt brauchten die Schwestern Hilfe beim Anziehen, bei der Hygiene, beim Toilettengang, beim Umhergehen und beim Essen. Während dieser letzten 10 Jahre konnten sie auch keine Mahlzeiten zubereiten, sich nicht um ihre Finanzen kümmern, den Haushalt führen, das Telefon benutzen und ihre Medikamente verwalten.

Was die Essgewohnheiten angeht, haben sich die Cammalleri-Schwestern nicht sehr an die viel gepriesene mediterrane Ernährung gehalten. Sie liebten Nudeln, Olivenöl extra vergine, Milch und Obst, haben aber nur zwei- oder dreimal pro Woche Gemüse gegessen. Die Schwestern konsumierten zweimal täglich Kuchen und / oder Kekse, einmal Eier und Kartoffeln. Ein- oder zweimal im Monat aßen sie rotes oder gepökeltes Fleisch, mochten aber weißes Fleisch, Hühner und Blaubarsch.

Zu den Daten

Die Schwestern waren klein und mager, die Bezeichnung „Wasting-Syndrom“ - tauchte auf. Beide Frauen waren kaum größer als 1,50 m, Filippa wog 50 kg, Diega 53 kg. Einer der physiologischen Tests (für PHA, auch bekannt als Polyhydroxyalkanoate) schreibt den Kleinwuchs einem Flüssigkeitsverlust aus ihren Zellen zu.

Ich habe die vier Tabellen mit Testergebnissen analysiert, um festzustellen, ob meine Interpretation mit den Schlussfolgerungen der Forscher übereinstimmt. Und dies war der Fall

Die Tabellen enthalten:

  • Anthropometrische Werte und Werte für die Körperzusammensetzung
  • Bluttests
  • Tests auf oxidativen Stress und Entzündung
  • In limitiertem Ausmaß Gentests (einige Gene und microRNAs)

 

Die Tabellen bieten eine gute visuelle Möglichkeit, um die Ergebnisse zu präsentieren. Jede Tabelle hat vier Spalten. Die Spalte ganz links enthält den Test, dann gibt es jeweils eine Spalte für die Werte jeder Schwester, dann eine Spalte für den Normalbereich der Werte von gesunden italienischen Frauen im Alter von 50 bis 65 Jahren. Fettdruck zeigt an, wo sich jede Schwester außerhalb des Normbereichs befindet, also musste ich mich zum Glück nicht mit irgendeiner Mathematik befassen.

Insgesamt wurden nur wenige Messungen in Fettdruck angezeigt; Ausnahme waren Bestimmungen von „oxidativem Stress und Entzündung“. Von den Dutzend Marker-Werten lagen die Zwillinge meilenweit entfernt.

Paradoxe Muster von Antioxidantien und MicroRNAs weisen auf Entzündung hin

Die Schwestern hatten niedrige Spiegel an Antioxidantien wie Paraoxonase und Glutathion sowie an den schwefelhaltigen Aminosäuren, die für deren Synthese benötigt werden. Sie hatten jedoch einen hohen Gehalt an Malondialdehyd, einem Marker für oxidativen Stress. Erhöhtes Kynurenin spiegelte eine körperweite Entzündung wider, ein Teil der angeborenen Immunantwort.

Die Ergebnisse für MicroRNAs waren ebenso aussagekräftig. MicroRNAs sind winzige RNA-Moleküle, die unterschiedliche Kombinationen von Genen an- und ausschalten und einige davon blockieren, transkribiert und in Protein übersetzt zu werden. Sie werden als "Dimmschalter" für das Genom bezeichnet. Kombinationen der rund 2.500 microRNAs im menschlichen Genom überwachen und optimieren die Proteinproduktion.

Die Spiegel von drei Arten der in den Blutkreisläufen der Schwestern zirkulierenden microRNAs entsprachen einem sogenannten „Langlebigkeitsphänotyp“ - einem Entzündungsgrad, der für eine viel jüngere Person normal ist.

Durfte ein Immunsystem, das für ein langes Leben ohne Infektionskrankheiten verantwortlich war, auf kleiner Flamme köcheln?

Genetische Informationen in limitiertem Ausmaß

Die genetische Analyse erfasste bloß einige wenige Marker für das Altern und keineswegs eine genomweite Landschaft von Single-Base- (SNP-) Markern oder Sequenzen des Exoms oder gesamten Genoms.

Die Forscher zogen zwei mit dem Altern verbundene Gene: FOXO3A und ApoE in Betracht.

An einer bestimmten Stelle des FOXO3A Gen kann eine Person nun zwei DNA-Basen "GG", zwei "TT" oder jeweils eine "TG" haben. Ein „G“ zu haben wurde mit Langlebigkeit verbunden. Filippa war TG und Diega TT. Es stellt sich also heraus, dass diese Assoziation nur für einige Bevölkerungen gilt, allerdings nicht für Sizilianer.

Die Varianten ε2, ε3 und ε4 des ApoE-Gens standen ebenfalls auf der Speisekarte. Dieses Gen ist weithin bekannt für seinen Zusammenhang mit dem Alzheimer-Risiko: Die ε4-Variante erhöht das Risiko, ε2 senkt es und die häufigste ε3-Variante ist neutral. Die Schwestern hatten öde ε3-Varianten.

Auch hier gelten die genetischen Assoziationen nicht für Sizilianer. Wenn wir nun zum Stoffwechsel zurückkehren, der ja unter genetischer Kontrolle steht, so hatten die Schwestern grenzwertig ungesunde Cholesterinspiegel. Diega hatte ein niedriges HDL und Filippa hatte einen niedriges HDL und dazu ein hohes LDL.

Es wurden auch Telomere bestimmt (Abbildung 2). Dies sind die Chromosomenenden, die normalerweise mit zunehmendem Alter reduziert werden. Bei langlebigen Menschen würde man längere Telomere erwarten - die Schwestern zeigten jedoch keine Abweichungen von den Normalwerten.

Abbildung 2. Menschliche Chromosomen, (grau) deren Enden Telomere (weiß) bedecken. (Bild: http://science.nasa.gov, cc 0)

Für den Befund, dass leichte Entzündungen manche Menschen lange am Leben halten, gibt es einen Präzedenzfall. Forscher des Zentrums für Überhundertjährigen-Forschung der Keio University School of Medicine in Tokio haben dies 2015 in einem Artikel mit dem Titel „“Inflammation, But Not Telomere Length, Predicts Successful Ageing at Extreme Old Age: A Longitudinal Study of Semi-supercentenarians,” berichtet; es war eine Gemeinsamkeit unter den meisten der 1.554 sehr alten Leute, die sie analysierten.

Sie schrieben: "Wir schließen daraus, dass Entzündungen ein wichtiger plastischer Treiber für ein Altern bis zum extrem hohen Alter beim Menschen sind".

Was kann man daraus schließen?

Bei beiden Schwestern, die bei relativ guter Gesundheit ihren 100. Geburtstag überschritten hatten, gab es:

  • Erhöhtes LDL-Cholesterin
  • Mäßige persistierende Entzündungswerte
  • Oxydativen Stress
  • Zweimal täglichen Verzehr von Süßigkeiten
  • Begrenzten Verzehr von Gemüse
  • Keine gegen Alzheimer schützenden ApoE-Gene

Diega und Filippa waren sicherlich außergewöhnliche Menschen. Ihr Fall zeigt aber, dass eine "one-size-fits-all" - eine für alle einheitliche - Medizin nicht immer der beste Weg ist, um Gesundheit zu beurteilen. Artikel in Fachzeitschriften feiern die Präzisionsmedizin, aber es ist unwahrscheinlich, dass der durchschnittliche Konsument im Gesundheitswesen darauf stößt.

Meine Hausärztin hat mich nie etwas zur Gesundheitsgeschichte meiner Familie gefragt. Hätte sie es getan, so würde sie erfahren haben, dass es da überhaupt keine Herz-Kreislauf-Erkrankungen gibt, trotz ungesunder Cholesterinwerte. Sie möchte mich auf ein Statin setzen. Nun, das wirklich nicht. Sie verschreibt mir weiterhin Naproxen, auch wenn es mich krank macht, weil Versicherer und Protokolle es als Mittel erster Wahl empfehlen, da Ibuprofen die Darmschleimhaut reizt. Ibuprofen macht das aber nur bei einem Prozent der Bevölkerung, und da bin ich nicht darunter.

Diega und Filippa hatten Glück - wir wissen nicht, ob sie aktiv etwas unternommen haben, um ihr Leben zu verlängern. Was wir aus dem Studium biologisch außergewöhnlicher Menschen lernen ist, dass wir mehr darüber erfahren, in welcher Weise wir uns unterscheiden. Und Dienstleister im Gesundheitswesen sollten in Betracht ziehen, dass ihre Patienten Ausnahmen von den medizinischen Regeln sein können.


[1] G. Accardi etal., The Phenotypic Characterization of the Cammalleri Sisters, an Example of Exceptional Longevity. Rejuvenation Research, Ahead of Print. 11 May 2020 https://doi.org/10.1089/rej.2019.2299 (open access)


* Der Artikel ist erstmals am 7. Mai 2020 in PLOS Blogs - DNA Science Blog unter dem Titel " Meet the Cammalleri Sisters: How Did They Live to Be 106 and 113? " https://blogs.plos.org/dnascience/2020/05/07/meet-the-cammalleri-sisters-how-did-they-live-to-be-106-and-113/ erschienen und steht unter einer cc-by Lizenz . Die Autorin hat sich freundlicherweise mit der Übersetzung ihrer Artikel durch ScienceBlog.at einverstanden erklärt, welche so genau wie möglich der englischen Fassung folgen. Abbildung 1 und die Legenden zu beiden Bildern wurden von der Redaktion eingefügt .