Das Genom des Riesenkalmars birgt Überraschungen

Do, 13.02.2020 — Ricki Lewis

Ricki LewisIcon BiologieSchauergeschichten über Meeresungeheuer, die mit ihren Fangarmen ganze Schiffe samt Besatzung umschlingen, haben Seeleute früherer Epochen in Schrecken versetzt. Tatsächlich wurde die Existenz enorm großer Kephalopoden - der Riesenkalmare - im 19. Jahrhundert nachgewiesen. Da die scheuen Tiere in ihrem Lebensraum aber nur selten gesichtet werden, müssen sich Forscher auf Analysen der Funde von toten Tieren beschränken - so ist über Biologie und Verhalten der Tiere noch wenig bekannt. Einer dänischen Forschergruppe ist es nun gelungen das Genom des Riesenkalmars zu entschlüsseln. Die Genetikerin Ricki Lewis berichtet über die Organisation des Genoms und die für diese Tierart spezifischen Gene.*

Ich habe in letzter Zeit oft über Wirbellose nachgedacht und war sehr erfreut zu erfahren, dass das Genom des Riesenkalmars sequenziert wurde. Ich werde nie müde, neue Genompapiere zu lesen.

Als eines der größten Tiere, die wir kennen, ist der Riesenkalmar auch eines der am schwersten zu fassenden. Er tritt hauptsächlich in Form von ans Land gespülten Körperteilen in Erscheinung, die mit augenfälligen Saugnäpfen bestückt sind. Ein ausgewachsener Riesenkalmar lässt sich nicht einfach in ein Aquarium setzen. Also kennen ihn die meisten von uns bloß aus Erzählungen.

Von Legenden umwobene Tiere

Das als Kraken titulierte riesige Meeresungeheuer der skandinavischen Sagen hat entlang der Küstengewässer Norwegens und Grönlands die Seeleute auf ihren Schiffen in Schrecken versetzt. Dabei hat es sich dabei wahrscheinlich um den Riesenkalmar gehandelt, ebenso wie bei der mit Fangarmen versehenen Skylla in Homers Odyssee. Jules Vernes hat in seinem 1869 geschriebenen Roman "20.000 Meilen unter dem Meer" das Tier berühmt gemacht. Abbildung 1.

Abbildung 1. Der Riesenkalmar. Links: in einer von Alphonse-Marie-Adolphe de Neuville stammenden Illustration aus dem 1870 erschienen Roman "20 000 Meilen unter dem Meer" von Jules Verne. Rechts: Die Besatzung der Alecton versucht 1861 einen Riesenkalmar 120 Meilen nordöstlich von Teneriffa zu harpunieren. Illustration von Henry Lee (1884) (Beide Bilder stammen aus Wikipedia und sind gemeinfrei)

In jüngster Zeit ruft der aus dem Jahr 2005 stammende Film "Der Tintenfisch und der Wal" das Bild eines Riesenkalmar wach, wie er in einem faszinierendenden Diorama gegen einen Pottwal kämpfend im American Museum of Natural History dargestellt ist. Der Regisseur Noah Baumbach hat sich das Bild als Metapher für die kämpfenden Eltern seiner jungen Protagonisten geborgt.

Wahre Geschichten vom Riesenkalmar sind ebenso faszinierend

Die erste Beschreibung stammte vom Kapitän der HMS Daedalus, Peter M’Quhae. An einem Augustnachmittag im Jahr 1848 segelte das Schiff zwischen dem Kap der Guten Hoffnung und der Insel St. Helena vor der Küste Afrikas, als eine riesige Seeschlange aus den Tiefen auftauchte. Viele Männer waren Zeugen des Ereignisses, und ihre Geschichten fanden Eingang in die Zeitungen.

Laut Kapitän und Besatzung war das Tier 60 Fuß lang und dem Schiff ziemlich nahe gekommen. Der Kapitän machte eine Skizze und die Zeitungsleser fanden verschiedene Erklärungen. Hatten die Seeleute einen Dinosaurier gesehen, einen ungewöhnlich langen Aal, einen riesigen Seehund oder eine gigantische Schlange, die sich verirrt hatte?

Japetus Steenstrup, ein Zoologe an der Universität von Kopenhagen, sammelte 1857 Hinweise verschiedenen Urprungs zur Identität des Riesen: von den kleineren Tintenfischverwandten, welche Menschen zur Nahrung dienten, von den schleimigen an Land gespülten Tentakeln, von einem geheimnisvollen braunen Riesenschnabel und von den vermutlich übertriebenen Geschichten der Seeleute.

In einem völlig anderen Gebiet, der Neurologie, sind Riesenkalmar-Axone berühmt geworden: ihre gigantischen Axone messen bis 1,5 Millimeter im Durchmesser und fast einen Meter in der Länge und sind damit groß genug sind, um sichtbar zu sein und sich daher hervorragend für Experimente zur Nervenleitung eignen.

Anatomie eines Riesen

Der wissenschaftliche Name des Riesenkalmars lautet Architeuthis dux. Er ist ein Kephalopode - Kopffüßer- aus der Gruppe der Weichtiere. Zu den rund 800 Kopffüßer-Arten gehören Tintenfische, Oktopoden sowie einige Nautilusse. Die meisten sind weich und matschig.

Kephalopode bedeutet "Kopf und Fuß" und das ist eine ziemlich gute Beschreibung. Der Fuß des Tintenfischs ist das Gegenstück zu dem einer Schnecke, ist aber zu Armen und Fangarmen (Tentakeln) entwickelt. Das Tier hat einen markanten Kopf.

Tintenfische haben große, komplexe Gehirne und Verhaltensweisen und sie können denken; als wirbellose Tiere haben sie aber kein Rückgrat. Sie leben in der Tiefe der Weltmeere ausgenommen die polnahen arktischen und antarktischen Gewässer. Tintenfische wachsen schnell, sterben bald und werden von viele Arten gefressen. Sie sind eine gute Proteinquelle.

Unterschiedliche Arten variieren in der Größe. Pygmäenkalmare sind etwas weniger als einen Zentimeter, Riesenkalmare durchschnittlich 14 Meter lang und der kolossale 500 kg schwere Kalmar Mesonychoteuthis hamiltoni ist noch ein paar Meter länger. Abbildung 2.

Abbildung 2. Der Riesenkalmar in Relation zur Größe eines Menschen.

Ein Tintenfisch hat acht Arme und zwei Tentakeln, mit denen er nach Beute greift. Der Kopf zoomt aus einem muskulösen Kegel - dem sogenannten Mantel - heraus, der sich kontrahiert um das Tier voran zu treiben. Unter dem Mantel befindet sich eine harte Schicht, an der die Muskeln ansetzen. Ein Schnabel - das Ding, das an Land gespült wird oder sich im Bauch eines Wals findet - liegt in der Mitte eines Rings, von dem die mit Saugnäpfen besetzten Arme ausgehen. Das Tier benutzt den Ring, um - was immer an unglücklichem Getier sich in den Tentakeln windet - wie Salami zu zerschneiden.

Eines der auffälligsten Merkmale der Tintenfische ist ihre Wandlungsfähigkeit, mit der sie Farbe, Textur, Muster und Helligkeit ihrer Haut schnell verändern können. Die Tiere nutzen diese Verwandlungen, um zu kommunizieren und um sich zu tarnen und zu imitieren. In Sichtweite, können sie so unbemerkt effektiv jagen, ohne selbst gefressen zu werden.

Das Genom des Riesenkalmars - mit Hilfe von verwandten Kopffüßern entschlüsselt

Es ist schwierig, genügend Überreste frischer Riesenkalmare zu erhalten, um deren DNA untersuchen zu können. Anhand der Analyse der mitochondrialen DNA haben Forscher jedoch festgestellt, dass alle Riesenkalmaren derselben Art angehören. Das sind allerdings nur einige wenige Gene. Um ein Genom vollständig aufzuklären sind viele Kopien eines ganzen Genoms nötig. Mit Museumsproben klappt dies im Allgemeinen nicht; die dem Abbau und den Konservierungsmitteln ausgesetzte DNA ist schwer zu extrahieren und intakt zu halten.

Zum Glück konnten Fischer an Bord eines Schiffes in der Nähe von Neuseeland eine frisch gefrorene Gewebeprobe eines Riesenkalmars an das multinationale Forscherteam senden, das an der Aufklärung des Genoms arbeitete. Über die unter Leitung von Rute da Fonseca (Center for Macroecology, Evolution and Climate at the Globe Institute, University of Copenhagen) erhaltenen Ergebnisse wird nun in der Fachzeitschrift GigaScience berichtet [1].

Leider waren aber viele der Tintenfischgene kaputt. Die Forscher änderten ihre Strategie und gingen daran die Transkripte der Gene - die Messenger-RNAs (mRNAs) - und dann die Proteine von leichter zu handhabenden Verwandten zu analysieren. (Dazu ist anzumerken: Ein Genom entspricht einer hard copy, einer Bedienungsanleitung, die in jeder Zelle des Körpers vorhanden ist. Im Gegensatz dazu unterscheiden sich die Kollektionen von RNAs und Proteinen in verschiedenen Zelltypen, bilden so die Funktionen eines lebenden Organismus ab.) Die RNA ist ja empfindlicher als die DNA und würde nicht in einem Klumpen verrottenden Kalmarfleisch Bestand haben. So sammelten die Forscher mRNAs aus Gehirnen, Lebern und Sexualorganen von verwandten Arten - vom Gemeinen Hakenkalmar, vom Humboldt-Kalmar und vom violetten Flugkalmar. Sie sammelten auch Proteine ​​aus den muskulösen Mänteln von Museumsexemplaren der kalifornischen Zweipunktkrake, der Pazifischen Auster und der Großen Eulen-Napfschnecke.

Aus Vergleichen von RNAs und Rückschlüssen von den Aminosäuresequenzen der Proteine ​​auf die DNA-Sequenzen konnten die Forscher schließlich das Genom des Riesenkalmars ableiten.

Proteinfamilien

Das Genom des Riesenkalmars enthält 33.406 Gene, die für Proteine kodieren, verteilt auf 2,7 Milliarden DNA-Basen. (Im Vergleich dazu besitzt der Mensch rund 20.000 Gene in einem aus 3,2 Milliarden-Basen bestehenden Genom). Etwa die Hälfte seines Genoms besteht aus repetitiven Sequenzen (sich wiederholende DNA-Abschnitte; Anm. Redn.), von denen die meisten "springende Gene" sind (d.i. ihre Position im Genom verändern können; Anm. Redn.). Dies ist nicht überraschend. Beispielsweise sind die Genome so unterschiedlicher Spezies wie Mais, Insekten und Menschen ebenfalls mindestens zur Hälfte repetitiv und die Gene springen auch hier. Derartige repetitive Sequenzen - möglicher Rohstoff für eineEvolution - sind zum überwiegenden Teil für die unterschiedliche Genomgröße der Arten verantwortlich - die Größe ist also nicht wirklich ein entscheidender Parameter.

Das Genom des Riesenkalmars ähnelt dem anderer Tiere auch darin, dass es Genfamilien - Gruppen von Genen mit verwandten Funktionen - enthält. So enthält es ein Dutzend sogenannter WNT-Gene, die man in allen Weichtieren findet. Diese Genfamilie kodiert für Wachstumsfaktoren, die an der Signalübertragung von Zelle zu Zelle beteiligt sind und in der frühen Entwicklung die Zellproliferation und später die Erhaltung von Geweben steuern. Menschen haben 19 WNT-Gene.

Massiv vermehrt sind bei Kopffüßern Gene, die für sogenannte Protocadherine ​​kodieren. Es sind dies Proteine, welche die Zell-Zell-Adhäsion kontrollieren, die für das Funktionieren des Nervensystems unerlässlich ist. Solche Gene finden sich auch im Genom von Wirbeltieren. Dass sie in Clustern auftreten deutet darauf hin, dass sie sich aus einem ursprünglichen Gen durch wiederholte Duplizierung entwickelt haben.

Spezifisch für Kopffüßer sind sogenannte Reflektine, wie sie im Hawaii-Zwergtintenfisch gefunden wurden. Diese Proteine ​​bilden flache, das Licht reflektierende Strukturen, welche das charakteristische "Scheinwerfer"Leuchten eines Tintenfischs erzeugen, der sich optisch angleicht und kommuniziert. In Tintenfischen und Octopussen findet sich ein Cluster von neun Reflektin-Genen auf einem Chromosom.

Das Editieren der RNA und ein explodierter Cluster homöotischer Gene

Zwei Merkmale im Genom des Riesenkalmars sind von weitreichender Bedeutung.

Das riesige Tier ist offensichtlich Experte in der Editierung seiner RNA  (RNA-Editierung bedeutet, dass nach der Transkription von DNA in mRNA in dieser eine oder mehrere Nukleotidbasen ausgetauscht werden; derartige Modifikationen führen im anschliessenden Translationsvorgang zu einer größeren Vielfalt an Proteinen. Anm. Redn.). Diese Fähigkeit macht es den Genomen der Tiere möglich Varianten von Proteinen zu erzeugen, insbesondere von solchen, die am Funktionieren des Nervensystems beteiligt sind. Derartige RNA-editierte Regionen liegen im Genom an zehntausenden Stellen innerhalb „hochkonservierter“ DNA-Sequenzen. Dies bedeutet, dass sie bei vielen Arten identisch oder nahezu identisch sind - die natürliche Selektion hat sie über einen langen Zeitraum beibehalten, weil sie offensichtlich etwas Wesentliches zur erfolgreichen Reproduktion beitragen.

Auf die Gefahr hin menschliche Beweggründe zu unterstellen: es ist eine faszinierende Strategie, die mit einer derartigen Genom-Organisation verfolgt wird. Die konservierten Sequenzen gewähren Stabilität unter dem Einfluss einer positiven natürlichen Selekektion, gleichzeitig bietet aber das Editieren der RNA eine Flexibilität, von der Aufbau, Anordnung,  Venetzungen und Erregbarkeit von Neuronen profitieren. Die Genom-Organisation entspricht dem Ausprobieren von etwas Neuem, wobei das Alte beibehalten wird - dies ist ein roter Faden in der Evolution.

Das andere faszinierende Merkmal des Genoms des Riesenkalmars ist die Dispersion seiner homöotischen (Hox) Gene. Hox-Gene sind Gene, welche die Morphogenese steuern, also an welcher Stelle von Organismen - von Blumen über Fliegen bis hin zu Pilzen und komplexeren Einzellern - sich Körperteile  in Relation zueinander ausbilden.

Eine Mutation in Hox-Genen bringt Körperteile durcheinander und steckt hinter einigen Krankheiten des Menschen. In meiner Doktorarbeit habe ich über den Antennapedia-Komplex homöotischer Gene bei Fliegen gearbeitet, insbesondere über Mutationen, welche Beine auf dem Kopf und Antennen auf dem Mund wachsen lassen. Kurz nach der Fertigstellung (1980, Anm. Redn.) wurde von Thomas Kaufmann in meinem Labor an der Indiana University die sogenannte Homöobox entdeckt, eine charakteristische 180 Basen-Paare lange Sequenz innerhalb der Homöobox-Gene, welche den „Köperplan“ steuert.

Das Erstaunlichste an den homöotischen Genen ist, dass sie in den Genomen all der verschiedenen Arten auf einem Chromosom in genau der Reihenfolge angeordnet sind, in der sie in der Entwicklung eingesetzt werden (wie Basketball-Spieler, die auf der Bank sitzend auf ihren Einsatz warten).

Im Genom des Riesenkalmars ist dies aber nicht der Fall. Stattdessen finden sich die homöotischen Gene auf den Chromosomen verstreut. Könnte dies der Grund sein, warum der Körper so riesig und klumpig ist und offensichtlich die Andeutungen eines Gesichts, die Komplexität einer Blume oder sogar die fächerartigen Filamente eines Pilzes fehlen?

„Der Zugewinn und der Verlust von Hox-Genen wurden auf grundlegende Veränderungen in den Tierkörperplänen zurückgeführt“, schreiben die Forscher. Der Verlust eines wichtigen Hox-Gens bei Spinnmilben verringert die Anzahl der Segmente. Hat also ein vor langer Zeit eingetretenes Mutationsereignis im Riesenkalmar oder ein ausgestorbener Vorfahr die geordneten Homöobox-Gene zu neuen Adressen im Genom explodieren lassen, während gleichzeitig ausreichend Funktionsfähigkeit blieb, um einen Körper zu formen?

Hat der Riesenkalmar einen Platz in unserer Welt?

Es ist schwer zu sagen, ob eine Population, die wir nicht wirklich beobachten können, bedroht ist. Jedoch weisen die Forscher darauf hin, dass die Erwärmung und Versauerung der Ozeane, deren Verschmutzung inklusive Quecksilber und Flammschutzmittel, der Sauerstoffmangel und die Fischerei eine Bedrohung für den Riesenkalmar,wie auch für viele andere Arten darstellen.

„Folglich ist es dringend notwendig die Biologie dieser wichtigen, aber kaum beobachtbaren Tiere besser zu verstehen, um ihre Erhaltung zu unterstützen und ihren Fortbestand sicherzustellen. Mit der Veröffentlichung des annotierten Genoms des Riesenkalmars haben wir die Voraussetzungen für die zukünftige Erforschung der Rätsel geschaffen, welche diese beeindruckende Kreatur umgeben und Generationen zu Geschichten über den sagenumwobenen Kraken angeregt haben“, schließen die Forscher.


[1]R.R. da Fonseca et al., A draft genome sequence of the elusive giant squid, Architeuthis dux. GigaScience, Volume 9, Issue 1, January 2020, giz152, https://doi.org/10.1093/gigascience/giz152


Der Artikel ist erstmals am 6. Feber 2020 in PLOS Blogs - DNA Science Blog unter dem Titel "The Giant Squid Genome Holds Surprises" erschienen und steht unter einer cc-by Lizenz . Die Autorin hat sich freundlicherweise mit der Übersetzung ihrer Artikel durch ScienceBlog.at einverstanden erklärt, welche so genau wie möglich der englischen Fassung folgen.


Weiterführende Links:

NeugierZone - Wissenschaft gewissenhaft: Riesenkalmar und Mensch: Die Begegnungen (1857-2019), Video (12.10.2019) 7:10 min. https://www.youtube.com/watch?v=CyfqtvDIOsc

Tina Heinz: Riesenkalmare, https://www.planet-wissen.de/natur/tiere_im_wasser/tiere_der_tiefsee/pwiegibtesindertiefseewirklichriesenkalmareoderistdasseemannsgarn100.html