Von der Eizelle zur komplexen Struktur des Gehirns

Do, 11.06.2020 — Nora Schultz

Nora SchultzIcon Gehirn

Aus einer einzigen befruchteten Eizelle wächst eine der komplexesten Strukturen überhaupt – das menschliche Gehirn. Dafür braucht es viel Faltkunst und etliche Schicksalsschritte. Die Entwicklungsbiologin Nora Schultz gibt einen Überblick über die Entstehung der Nervenzellen aus dem Ektoderm des Embryos und wie diese zu ihren Bestimmungsorten im Gehirn wandern, dort ihre endgültige Gestalt annehmen und sich mit anderen Nervenzellen vernetzen.*

Am Anfang ist das befruchtete Ei. Fast jeder hat schon Fotos gesehen, in denen es rund und gleichförmig im Bild ruht wie ein riesiger Mond. Kaum vorstellbar, dass dieses fade Gebilde alle Informationen enthält für einen schicksalhaften Tanz, der so komplex ist, dass es auch mit den gesammelten Anstrengungen der Biologie bis heute nicht gelungen ist, seine Choreografie vollständig zu entschlüsseln. Die Kür des Opus: die Bildung des Gehirns . Was sich hier filigran ineinander faltet und Netze aus Billionen von Synapsen knüpft, lässt Origami-Experten und Spitzenklöpplerinnen gleichermaßen vor Neid erblassen.

Doch zurück zum Start: Die Gleichförmigkeit des Eis verliert sich schon im Laufe der ersten Zellteilungen. Anfangs kaum messbare Unterschiede in der Verteilung von Botenstoffen, die zufällig oder durch die Binnenarchitektur im Zellinnern entstehen, verstärken sich nach und nach, begünstigt durch äußere Reize, wo Zellen sich etwa gegenseitig berühren. Bald begeben sich die Zellen des Embryos auf verschiedene Pfade. Nur ein kleiner Teil von ihnen wird zum Baby; aus dem Rest bilden sich Teile der Plazenta sowie die Eihäute der Fruchtblase.

Die wichtigste Zeit im Leben

Die Zellen des eigentlichen Embryos organisieren sich anfangs in zwei Schichten – bis dann einige Zellen aus der äußeren Schicht in die Mitte wandern. Mit diesem ersten großen Faltprozess, Gastrulation genannt, entstehen die drei Keimblätter, das Ektoderm, Mesoderm und Endoderm. Gemeinsam bilden sie das Ausgangsmaterial für die gesamte spätere Organentwicklung. „Weder Geburt, Hochzeit noch Tod, sondern die Gastrulation ist die wahrhaft wichtigste Zeit in Deinem Leben“, sagte der Entwicklungsbiologe Lewis Wolpert dereinst.

Das Nervensystem entsteht aus Zellen des Ektoderms. Und auch dieser Vorgang, die so genannte Neurulation, beginnt mit Faltkunst: In der anfangs noch gleichmäßigen Schicht säulenförmiger Zellen entsteht in der Mitte eine Rille, die sich bald zu einem Graben mit erhobenen Rändern vertieft. Die Ränder bewegen sich aufeinander zu, bis sie sich in der Mitte treffen und verschmelzen – das Neuralrohr ist entstanden, der Vorläufer von Gehirn und Rückenmark. In seinem vorderen Bereich bilden sich bald drei Ausstülpungen, die Hirnbläschen. Sie werden später zum Vorder-, Mittel- und Hinterhirn. Auch im Querschnitt des Neuralrohrs stehen die Zeichen auf Veränderung. Als Antwort auf Signalstoffe, die von oben nach unten unterschiedlich verteilt sind, starten in den Zellen entlang der Rücken-Bauch-Achse verschiedene Genprogramme. Ganz unten produziert die Bodenplatte gemeinsam mit noch tiefer liegenden Zellen des Mesoderms zum Beispiel das nach einem Videospielcharakter benannte Molekül Sonic Hedgehog. Seine Konzentration bestimmt in einem komplexen Wechselspiel mit anderen Molekülen das Schicksal der Zellen im Neuralrohr.

Videospielcharakter mit formender Rolle

Je weiter die Zellen von der Bodenplatte entfernt sind, desto weniger Sonic Hedgehog kommt bei ihnen an, und sie entwickeln sich entsprechend unterschiedlich. Die der Bodenplatte am nächsten gelegenen Zellen werden etwa auf der Höhe des sich entwickelnden Rückenmarks zu Interneuronen, die als Schaltelemente zwischen zwei oder mehr Nervenzellen dienen. Es folgen Motorneurone, die sich zu den Muskeln erstrecken und deren Bewegungen kontrollieren; und danach drei weitere Schichten unterschiedlicher Interneurone. Im oberen Teil des Neuralrohrs orchestrieren andere Signalmoleküle, die von Zellen der Dachplatte ausgeschieden werden, ebenfalls eine Feinaufteilung. Sie führt zur Bildung verschiedener sensibler Neuronen. Die Grundstruktur des späteren Rückenmarks ist somit schon erkennbar, lange bevor sich die ersten Neuronen differenzieren. Im werdenden Gehirn läuft diese Musterbildung ebenfalls ab. Sie gestaltet sich allerdings aufgrund der Abknickungen, Ausstülpungen und Einbuchtungen in den verschiedenen Gehirnregionen komplizierter und variabler.

Die Geburt und Reifung junger Nervenzellen folgen ungeachtet solcher regionalen Unterschiede überall einer ähnlichen Dramaturgie in drei Akten: Zuerst kommt die Zellvermehrung. Wenn das Neuralrohr ab der dritten Entwicklungswoche entsteht, ist der Embryo erst wenige Millimeter groß. Das reicht nicht für viel Hirn. In den folgenden Wochen läuft die Produktion von Nervenvorläuferzellen daher heiß. Aktuellen Schätzungen zufolge entstehen zur Hochzeit der Neurogenese im Neuroektoderm ungefähr 4,6 Millionen Zellen pro Stunde. Ab der fünften Entwicklungswoche verwandeln sich die Neuroepithelzellen im Neuralrohr nach und nach in radiale Gliazellen.

Vom Helferlein zur Quelle neuer Neuronen

Noch bis zur Jahrtausendwende galten radiale Gliazellen lediglich als Helferlein, deren kabelartige Fortsätze junge Neurone zu ihren Bestimmungsorten geleiten. Doch inzwischen wissen wir, dass radiale Gliazellen im werdenden Gehirn als Stammzellen funktionieren. Das heißt, die meisten Neuronen stammen direkt oder indirekt von ihnen ab. Das wollte lange kaum jemand glauben. „Das schwierigste an so einem unkonventionellen Befund ist nicht die Datensammlung, sondern das Aufbrechen eines etablierten Dogmas“, schreibt die Münchner Neurobiologin Magdalena Götz, die mit an der Entdeckung der neurogenen Funktion der radialen Gliazellen beteiligt war.

Radiale Gliazellen teilen sich an der Innenwand des Neuralrohrs. Eine der Töchter bleibt radiale Gliazelle. Die andere entwickelt sich entweder direkt zu einem Neuron oder zu einem anderen Vorläuferzelltyp, aus dem erst später Neurone entstehen. Radiale Gliazellen können sich aber auch direkt symmetrisch in zwei Neurone oder Vorläuferzellen teilen – oder sie reifen zu anderen Gliazelltypen weiter. Welchen Pfad Vorläuferzellen einschlagen, hängt von der Region im Nervensystem und dem Entwicklungsstadium ab, sowie von den damit jeweils verbundenen Signalcocktails. Die Reifung zu Gliazellen etwa passiert vor allem später in der Entwicklung, wenn die Neurogenese weitgehend abgeschlossen ist. Und manche Neuronen, etwa im Rückenmark, entstehen direkt aus Neuroepithelzellen, ohne das Zwischenstadium der radialen Gliazelle zu durchlaufen.

Jungneuronen auf Wanderschaft

Einmal geborene Neurone teilen sich nicht mehr. Sie haben aber häufig noch einen weiten Weg vor sich, bis sie ihren Bestimmungsort erreichen und ihre ausgewachsene Gestalt und Funktion annehmen. Und so beginnt der zweite Akt der Reifung. Aus ihrer Geburtsstätte tief im Zentrum des Gehirns, nahe den Ventrikeln – dort wo einst die Innenwand des Neuralrohrs lag – wandern die neuen Neuronen hinaus in die weite Welt des wachsenden Gehirns. Dabei hangeln sie sich häufig entlang der langen Fortsätze ihrer benachbarten radialen Gliazellen. Die ersten Neuronen haben den kürzesten Weg, da ihre Zellkörper die inneren Hirnschichten bilden. Die Nesthäkchen hingegen müssen weiter wandern. Sie ziehen an ihren früher geborenen Geschwistern vorbei in immer weiter außen liegende Regionen des Gehirns. Etliche Zellen haben zudem noch weitere Strecken zu bewältigen, um zu ihrem Ziel zu gelangen, nach vorne, hinten, links oder rechts. Als Wegweiser dienen den jungen Pfadfindern dabei Signalmoleküle – ausgeschieden von bereits etablierten Nerven- und Gliazellen oder auch von anderen Geweben.

Rein optisch haben frische Neuronen zunächst nur wenig mit ihren reifen Geschwistern gemein. Sie ähneln eher Teletubbies oder Minions: Anstelle eines Axons haben sie mehrere kürzere Fortsätze, Neurite genannt, von denen sich einer schließlich zum Axon entwickelt, während andere zu Dendriten reifen oder wieder eingezogen werden. In ihrem Innern sind die jungen Nervenzellen allerdings schon viel spezialisierter, als ihr unreifes Äußeres es vermuten lässt. „Das Schicksal des Neurons – zu welchem genauen Zelltyp es einmal wird – steht bald nach seinem Austritt aus dem Zellzyklus fest“, sagt Leanne Godinho von der Technischen Universität München, die die Reifung von Nervenzellen im Zebrafisch studiert. „Die Zellen wandern also keinesfalls naiv los und legen erst auf dem Weg oder nach der Ankunft ihre Identität fest.“ Stattdessen empfangen die Zellen einen Großteil der identitätsstiftenden Signale schon im Neuralrohr, wenn die Verteilung von Signalmolekülen wie Sonic Hedgehog mit breiten Pinselstrichen grundlegende Schicksalsmuster skizziert. Diese Voreinstellungen fixieren zwar noch nicht das genaue Zellschicksal, aber sie machen junge Neuronen empfänglich für unterschiedliche Signalmoleküle – und geleiten sie so auf jeweils spezifische Wanderwege.

Des Epos dritter Akt: Partnersuche und Vernetzung

Hat der Zellkörper sein Ziel erreicht, beginnt der dritte Akt, in dem die Zelle in ihre endgültige Gestalt hineinwächst und sich vernetzt: Das Axon und die Dendriten bilden sich und gehen auf Partnersuche. Anfangs besitzen alle Neuriten einer neuen Nervenzelle an ihrer Spitze einen so genannten Wachstumskegel. Er funktioniert wie Sinnes- und Fortbewegungsorgan zugleich. Seine Membran enthält zahlreiche Rezeptoren, die physikalische, chemische und elektrische Signale aus der Umgebung aufnehmen und integrieren. Im Zellplasma des Kegels sorgt eine Fülle von Skelett- und Motormolekülen sowie eine üppige Ausstattung mit energieproduzierenden Mitochondrien dafür, dass der Neurit auf diese Signale auch reagieren kann, etwa mit Vorwärts- oder Ausweichbewegungen. Vor allem der Kegel des knospenden Axons zieht dabei eine ungeheure Wachstumskolonne nach sich: Menschliche Axone können bis zu einem Meter lang werden. Am Ende ihrer Suchbewegungen vernetzen sich die Spitzen von Axon und Dendriten über Synapsen mit anderen Nervenzellen. Die Wachstumskegel verwandeln sich beim Axon in präsynaptische Endknöpfchen, mit denen ein Neuron Signale in den synaptischen Spalt weitergibt. Bei Dendriten wird der Wachstumskegel zu dendritischen Dornen, mit denen die Zelle Signale aus Synapsen empfängt. Das Schicksal der Zelle ist nun -–zumindest im Groben – besiegelt und der große Entwicklungstanz ist vorbei. Abbildung 1.

Abbildung 1. Jungneuronen wachsen in ihre endgültige Gestalt hinein und beginnen sich zu vernetzen.

Kein Ende in Sicht – doch es wird ruhiger

Das Drama jedoch geht ein Leben lang weiter. Noch lange nach der Geburt entwickelt sich das Gehirn fort. Synapsen werden zuerst massenhaft neu gebildet und später dann, vor allem in der Pubertät, gezielt wieder abgebaut, um neuronalen Netzen den Feinschliff zu geben. Myelinzellen ummanteln Neurone, um die Signalübertragung effizienter zu machen. Und sogar neue Nervenzellen entstehen, wandern und reifen gelegentlich noch im erwachsenen Gehirn: in der Nase, wo lebenslang Riechzellen nachwachsen, und im Hippocampus, wo neue Erinnerungen verarbeitet werden. „Hier geht es nicht mehr darum, rasant riesige Neuronenmengen zu produzieren, um ein ganzes Gehirn zu bauen, sondern um den Erhalt von Entwicklungspotenzialen“, sagt Jovica Ninkovic vom Helmholtz Zentrum München, der Regenerationsmöglichkeiten im erwachsenen Gehirn untersucht. Ihm gelang kürzlich in Experimenten der Nachweis, dass neuronale Stammzellen im erwachsenen Gehirn der Maus durch andere molekulare Mechanismen in ihrer Entwicklung „eingefroren“ werden als im Fetus. Diese Mechanismen könnten besonders sensibel auf Entzündungen oder Verletzungen im Gehirn reagieren – um so frische Neuronen gezielt bereit zu stellen, wenn der Bedarf da ist.

Ob, wie und in welchem Umfang adulte Neurogenese auch beim Menschen stattfindet, ist derzeit zwar noch umstritten, aber das Interesse der Regenerationsmedizin ist riesig. „Die Chancen stehen gut, dass wir lernen können, die Neurogenese selbst dort zu aktivieren, wo sie vielleicht gar nicht von alleine geschieht“, sagt Ninkovic. Das Team um Magdalena Götz bewies zum Beispiel , dass embryonale Neuronen ihr Entwicklungsprogramm auch nach einer Transplantation in ein erwachsenes Gehirn erfolgreich abspulen können. Und auch Leanne Godinho hofft auf den großen Brückenschlag: „Wenn es uns gelingt, die Erkenntnisse aus der Entwicklungsbiologie auf die Regenerationsmedizin zu übertragen, könnten wir eines Tages Neuronen, die durch Verletzung oder Krankheit zerstört wurden, ersetzen und Funktionen wiederherstellen.“


Zum Weiterlesen:

  • Silbereis, John C et al.: The Cellular and Molecular Landscapes of the Developing Human Central Nervous System. Neuron 2016; 89(2): 248–268. ( zum Volltext )
  • Paridaen, Judith TML und Huttner, Wieland B: Neurogenesis during development of the vertebrate central nervous system. EMBO Report 2014; 15(4): 351–364. ( zum Volltext )
  • Online-Embryologiekurs für Studierende der Medizin. Entwickelt von den Universitäten Fribourg, Lausanne und Bern (Schweiz). ( zur Webseite )

* Der Artikel stammt von der Webseite www.dasGehirn.info, einer exzellenten Plattform mit dem Ziel "das Gehirn, seine Funktionen und seine Bedeutung für unser Fühlen, Denken und Handeln darzustellen – umfassend, verständlich, attraktiv und anschaulich in Wort, Bild und Ton." (Es ist ein Projekt der Gemeinnützigen Hertie-Stiftung und der Neurowissenschaftlichen Gesellschaft e.V. in Zusammenarbeit mit dem Zentrum für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe). Im Fokus der Monate Mai/Juni stehen "Struktur und Funktion neuronaler Netzwerke ". Der vorliegende Artikel ist am 30.4.2020 erschienen unter dem Titel: Vom Schicksal der Zelle.  Der unter einer cc-by-nc-sa Lizenz stehende Artikel wurde unverändert in den Blog gestellt.


Weiterführende Links: 

Geburt des Gehirns (Hagemanns Bildungsmedien); Video 1:39 min. https://www.youtube.com/watch?v=btA9K39W3aw

Artikel von Nora Schultz auf ScienceBlog.at