Die Intelligenz der Raben

Do, 20.02.2020 — Nora Schultz

Nora SchultzIcon Gehirn

Viele unserer tierischen Mitspieler im Parcours der Evolution zeigen unerwartete Eigenschaften, von denen zwar in Mythen und Anekdoten berichtet wird, die aber erst in den letzten Jahrzehnten wissenschaftlich untersucht werden. So stellt sich bei Rabenvögel heraus, dass sie beachtliche kognitive Leistungen erbringen, sich sehr gut in ihre Artgenossen einfühlen können und soziale Beziehungen gezielt für sich nutzen oder sogar manipulieren. Zu diesen Forschungsergebnissen hat Thomas Bugnyar (Prof. für Kognitive Ethologie und Leiter des Instituts für Kognitionsbiologie. Univ. Wien) Wesentliches beigetragen. Die Entwicklungsbiologin Nora Schultz interviewt hier den "Rabenvater".*

Nora Schultz: Herr Bugnyar, wie sind Sie dazu gekommen, die Intelligenz von Rabenvögeln zu untersuchen?

Thomas Bugnyar: Ich habe mich schon immer für die Evolution von Intelligenz interessiert, besonders von sozialer Intelligenz. Während meines Studiums forschten alle noch an Affen – ich auch. Über die Intelligenz von Vögeln wusste man sehr wenig. Durch Zufall bekam ich das Angebot, in meiner Doktorarbeit zu erforschen, ob Raben wirklich so gescheit sind, wie viele Mythen und Anekdoten es vermuten lassen.

Nora Schultz: Was sind das für Mythen und Anekdoten?

Thomas Bugnyar: Rabenvögel spielen eine wichtige Rolle in den Sagen ganz unterschiedlicher Kulturen, zum Beispiel bei den indigenen Völkern Nordamerikas, im alten Rom oder in der nordischen Mythologie. In letzterer treten Raben als Boten des Gottes Odin auf, die dieser immer wieder auf die Erde schickt, damit sie ihm berichten, was dort geschieht. Abbildung 1 (von Redn eingefügt)

Abbildung 1. Der nordische Göttervater Odin (links) hört von seinen Raben Hugin und Munin die Weltnachrichten, der griechische Gott Apollo (rechts) erfährt ihm unangenehme Neuigkeiten von seinem Raben (beide Bilder aus Wikipedia; links: aus Manuskript des 17. Jh, gemeinfrei; rechts: weißgrundige Schale um 460 v.Chr. im Museum von Delphi, Foto Fingalo.)

Nora Schultz: Aber galten Vögel im Vergleich zu Säugetieren nicht lange als weniger schlau? Im Englischen verwendet man den Ausdruck „bird brain“ ja sogar analog zu „Dummkopf“.

Thomas Bugnyar:Das Vogelhirn ist nicht leistungsschwächer als das Säugerhirn! Die Hirnstrukturen sind sehr unterschiedlich, aber die Funktionen auf der Zellebene und die kognitiven Kompetenzen sind es nicht. 

Nora Schultz: Stimmt es, dass Vögel kein Großhirn haben?

Thomas Bugnyar: Die Grundannahme, dass Raben sehr schlau sind, fußt auf jahrtausendealten Beobachtungen durch Menschen, dass solche Vögel Erstaunliches leisten. In der Verhaltensforschung hat man sich dafür nur lange nicht interessiert. Einer meiner Mentoren, Bernd Heinrich, hat in den 90er Jahren eine der ersten experimentellen Studien zur Rabenkognition durchgeführt und hatte zunächst Probleme, diese zu veröffentlichen. Er hat dann eine große Literaturrecherche gemacht und über 1.000 Einträge zur Rabenintelligenz gefunden, aber nur einen davon aus einer wissenschaftlichen Studie. Alles andere waren Anekdoten.

Nora Schultz: Was hat Ihre eigene Forschung über die Intelligenz von Raben ergeben?

Thomas Bugnyar: Es hat sich herausgestellt, dass Raben ein ganz wunderbares Modell zur Erforschung von Intelligenz sind. Sie können einander zum Beispiel meisterhaft manipulieren und täuschen. Damit das klappt,  muss man in der Lage sein, die Perspektive anderer Individuen richtig einzuschätzen. Das ist ein Element der sogenannten Theory of Mind. (siehe: Im Kopf der anderen [https://www.dasgehirn.info/denken/im-kopf-der-anderen])  Eine solche Fähigkeit im Experiment mit Tieren zweifelsfrei nachzuweisen, ist allerdings nicht leicht. Wir haben dazu eine ganze Serie von Versuchen durchgeführt und konnten am Schluss wirklich eindeutig nachweisen, dass Raben in der Lage waren, sich vorzustellen, was ein anderer Rabe wahrnehmen kann.

Nora Schultz: Wie ist Ihnen das gelungen?

Thomas Bugnyar: Wir wussten bereits, dass Raben Nahrung verstecken, damit andere sie nicht finden, und dass sie sich besondere Mühe geben, dabei nicht entdeckt zu werden, wenn andere Raben in der Nähe sind. Sie verstecken ihre Beute dann zum Beispiel besonders schnell oder hinter einem nicht einsehbaren Hindernis. Oder sie warten mit dem Verstecken, bis die Konkurrenz wieder weg ist.  Um zu zeigen, dass bei solchen Tricks auch eine direkte Vorstellung über das mentale Innenleben der Konkurrenten im Spiel ist, haben wir Raben zuerst beigebracht, dass sie das Geschehen in einem Nachbarraum durch ein Guckloch beobachten können. Als dieselben Raben später Futter bekamen, haben sie es viel schneller versteckt, wenn sie im Nachbarraum Tonbandaufnahmen eines anderen Raben hörten, obwohl das Fenster, mit dem man sonst von Raum zu Raum blicken kann, verdeckt war. Bevor die Raben vom Guckloch wussten, hatten sie solche Rabengeräusche von nebenan nicht gestört, wenn das Fenster zu war – weil sie sich unbeobachtet wähnten. Dass sie sich nach Entdeckung des Gucklochs anders verhalten haben, zeigt also, dass sie sich wirklich vorstellen können, was ein anderer Rabe durch das Guckloch sehen kann.

Nora Schultz: Was können Raben noch besonders gut?

Thomas Bugnyar: Raben sind große Politiktalente. Wir haben in den letzten Jahren Erstaunliches darüber herausgefunden, was Raben über andere Raben wissen, und wie sie dieses Wissen einsetzen. Bevor Raben mit einem lebenslangen Partner in die Familiengründung einsteigen, leben sie oft mehrere Jahre in losen Gruppen zusammen. Hier treffen von Konservativen, die immer am gleichen Ort bleiben, bis hin zu regelrechten Weltenbummlern ganz unterschiedliche Typen aufeinander. So können sich sehr spannende und flexible soziale Beziehungen entwickeln.  Raben haben zum Beispiel ein phänomenales Gedächtnis für Beziehungen und wissen auch nach drei Jahren Trennung noch, wer früher ihr Freund war. Oder, wenn wilde Raben streiten, schreit der unterlegene Rabe auf übertriebene Weise, wenn unter den Zuschauern enge Verwandte oder Freunde sind, um Hilfe zu bekommen. Besteht das Publikum aus Freunden des Angreifers, verhält er sich dagegen still. Raben merken auch, wie Beziehungen sich verändern. Befreundete Raben gewinnen mehr Konflikte, weil sie sich gegenseitig helfen. Wenn die Bindung zwischen zwei Tieren enger wird, gehen verstärkt dominante Raben dazwischen, um die beiden am Kraulen oder Spielen zu hindern. Wir vermuten, dass Konkurrenz durch neue Teams so im Keim erstickt werden soll.

Nora Schultz: Ist die Intelligenz von Raben etwas Besonderes in der Vogelwelt?

Thomas Bugnyar: Von den meisten Vögeln wissen wir bislang wenig über ihre kognitiven Leistungen. Ich vermute, dass es ausgeprägte soziale Intelligenz wahrscheinlich bei vielen anderen Vögeln gibt, die in Paaren und Gruppen leben, das ist aber noch kaum untersucht worden. Das große Talent zur Manipulation könnte hingegen rabenspezifisch sein – wegen ihrer Futterpräferenzen. Raben essen am liebsten frisches Aas. Einen so großen Futterfund kann man am besten gemeinsam erobern und gegen andere Tiere verteidigen, sodass sich die Zusammenarbeit in Gruppen lohnt. Gleichzeitig entsteht aber innerhalb der Gruppe großer Konkurrenzdruck, der Täuschungsmanöver und Tricks zum Aushebeln der Rivalen begünstigt. Andere Rabenvögel haben in eine ganz andere Richtung beachtliche kognitive Leistungen entwickelt: Neukaledonische Krähen zum Beispiel können Werkzeuge auf hoch komplexe Weise nutzen und sogar selbst herstellen, um damit Insekten aus Ästen zu pulen. Und auch viele Papageien bringen Topleistungen. Die haben genau wie Raben große Gehirne und leben ebenfalls sehr lange. Ihr Sozialleben ist ähnlich komplex, aber sie sind weniger scheu gegenüber Neuem. Papageien sind nicht nur zu Recht berühmt für ihr Talent, Stimmen nachzuahmen. Sie verstehen in Experimenten sogar abstrakte Konzepte, wie Farben oder Zahlen.  Wenn man sich anschaut, wie viele Jahre uns die Primatologie voraus ist, brauchen wir einfach noch mehr Zeit, um die Intelligenz von Vögeln besser zu verstehen.

Nora Schultz: Wie wirkt sich die Intelligenz der Vögel auf die Interaktion mit den Menschen aus, die sie erforschen?

Thomas Bugnyar: Sobald man mit den Tieren zusammenarbeitet, entwickelt man Beziehungen zu ihnen, weil sie auch sehr unterschiedliche Persönlichkeiten haben. Abbildung 2.

Abbildung 2. Der "Rabenvater" Thomas Bugnyar (Copyright: Thomas Bugnyar)

Es gibt einige Raben, die bei allen beliebt sind, und andere, die nur mit bestimmten Personen können. Man muss versuchen, diese Präferenzen einerseits auszuschalten, damit die Forschung objektiv bleibt. Aber andererseits kann man manchmal die persönliche Beziehung auch dazu nutzen, um die Tiere überhaupt erst zum Mitmachen zu bewegen.

Nora Schultz: Herr Bugnyar, herzlichen Dank für das Gespräch!


*Der Artikel stammt von der Webseite www.dasGehirn.info, einer exzellenten Plattform mit dem Ziel "das Gehirn, seine Funktionen und seine Bedeutung für unser Fühlen, Denken und Handeln darzustellen – umfassend, verständlich, attraktiv und anschaulich in Wort, Bild und Ton." (Es ist ein Projekt der Gemeinnützigen Hertie-Stiftung und der Neurowissenschaftlichen Gesellschaft e.V. in Zusammenarbeit mit dem Zentrum für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe). Im Fokus des Monats Feber stehen "Tiergedanken", zu denen der vorliegende Text unter dem Titel "Raben sind politische Talente" am 14. Feber 2020 erschienen ist: https://www.dasgehirn.info/denken/tiergedanken/raben-sind-politische-talente

Der unter einer cc-by-nc-sa Lizenz stehende Artikel wurde von der Redaktion geringfügig für den Blog adaptiert (Titel und Überschriften) und es wurden Abbildungen eingefügt.


Weiterführende Links

Forscherportrait Thomas Bugnyar (2015) Video 2;42 min. https://vimeo.com/173365636

Thomas Bugnyar - Testing bird brains Raven politics. Video 34:29 min (Englisch) The Royal Physiographic Siciety of Lund (2017)