Woher kommt Komplexität?

Do, 17.11.2016 - 05:25 — Peter Schuster

Vorname ZunameIcon MINTDer Begriff "komplex" ist zu einem Schlagwort geworden, das von der Gesellschaft gerne mit Problemen assoziiert wird, für die man keine simple Lösung parat hat. Dass komplex aber nicht gleichbedeutend mit kompliziert ist, was unter Komplexität eigentlich zu verstehen ist, welche Ursachen uns etwas komplex erscheinen lassen und wie wir Komplexität erfolgreich bearbeiten können, zeigt hier der theoretische Chemiker Peter Schuster (emer. Prof. Univ Wien) auf. Die "Dynamik evolvierbarer komplexer Systeme" gehört seit vier Jahrzehnten zu den Forschungsschwerpunkten des Autors..*

Wenn man Wissenschafter befragt, was sie unter Komplexität verstehen, werden wohl die meisten von ihnen Komplexität als das Ergebnis aus einem oder mehreren von drei Faktoren charakterisieren, nämlich

i) hohe Dimensionalität,

ii) Netzwerke von Wechselwirkungen und

iii) nichtlineares Verhalten. Für sich betrachtet muss hohe Dimensionalität allerdings nicht unbedingt zu Komplexität führen: Beispiele dafür gibt es in der linearen Algebra , wo - unlimitierte Ressourcen an Rechnerzeit und Speicherkapazität vorausgesetzt - Lösungen über Eigenwertprobleme erhalten werden können; es handelt sich vielleicht um komplizierte aber nicht um komplexe Probleme. Dies gilt auch für den Faktor Wechselwirkungen: kompliziert aber nicht komplex ist es, wie sich beispielsweise Moleküle im Gaszustand verhalten - dies ist keineswegs trivial, dennoch können korrekte statistische Beschreibungen für makroskopische Eigenschaften wie Temperatur, Druck etc. gegeben werden. Auch Nichtlinearität ergibt nicht zwangsläufig ein komplexes System - Beispiele dafür gibt es u.a. in der Kinetik chemischer Reaktionen.

Jeder der genannten drei Faktoren reicht - für sich allein - häufig nicht aus, um komplexe Eigenschaften entstehen zu lassen, im allgemeinen kommen zusätzliche Merkmale dazu oder Kombinationen von Faktoren. Abbildung 1.

Abbildung 1. Digital erzeugte komplexe, geometrische Muster. Mit einfachen mathematischen Formeln, die durch Rückkopplung iteriert werden, lassen sich phantastisch aussehende, selbstähnliche geometrische Muster - Fraktale - erzeugen. Derartige fraktale Muster finden sich überall in der Natur (Verästelungen, Pflanzenformen, Blutgefäße, Küstenlinien, etc.) (Bild: gemeinfrei; Pete Linforth https://pixabay.com/en/chaos-complexity-complex-fractal-724096/)

Komplexes Verhalten ist einfach zu diagnostizieren

Im Gegensatz zur Frage, was zu Komplexität führt, lässt sich komplexes Verhalten einfach diagnostizieren.

Das typischste Merkmal ist, dass sich zukünftiges Verhalten kaum oder überhaupt nicht vorhersagen lässt. Die besten Beispiele sind allgemein bekannt: es sind die Probleme langfristige Prognosen zu Wetter oder Aktienmärkten zu erstellen.

Ein weiteres, leicht zu diagnostizierendes Merkmal komplexer Systeme ist das offensichtliche Fehlen kausaler Zusammenhänge. Wir sind in unserem täglichen Leben ja an lineare Kausalitäten - Ursache-Wirkung Beziehungen - gewohnt: entdecken wir irgendwo einen Defekt, so setzt unsere Reparatur direkt an diesem Fehler an - wir versuchen ihn zu eliminieren oder zu kompensieren. Dass es darüber hinaus "vernetzte Kausalitäten" gibt, dürfte vermutlich aus dem Beobachten und Manipulieren von Ökosystemen erkannt worden sein. Wird hier ein Schaden ausgebessert, kann dies zu Schäden an anderen Stellen führen - gewöhnlich gibt es dann kein anderes Mittel der Wahl als den ursprünglichen Zustand wiederherzustellen. Eines der heute sehr häufig erörterten Beispiele für das Fehlen einfacher Kausalitäten kommt aus der Pharmakologie: Auf Grund der hochkomplexen Netzwerke des Stoffwechsels, gibt es keine Arzneimittel, die nicht auch Nebenwirkungen hätten.

Was aber bedingt Komplexität?

Gibt es außer den oben genannten drei Faktoren - hohe Dimensionalität, Netzwerk-Wechselwirkungen und Nichtlinearität - weitere Gründe, die uns etwas komplex erscheinen lassen? Mit derartigen Gründen befasst sich dieser Essay und nennt:

  • fehlendes Wissen,
  • fehlende, zur Problemlösung erforderliche Methoden und
  • das Einbetten eines einfachen Systems in eine komplexe Umgebung.

Ein Beispiel für fehlendes Wissen

kommt aus der Astronomie der Antike. Im geozentrischen Pythagoreischen Weltbild drehten sich die Himmelskörper - Hohlkugeln - rund um die Erde. Aus der Vorstellung heraus, dass die Welt sich in vollkommener Harmonie befindet, mussten auch die Himmelskörper vollkommene Kugeln sein. Sonne und Mond boten hier kaum Probleme, die Bewegung der Planeten widersprachen aber jedem einfachen Modell, das ein einziges Zentrum der Rotation hatte. Es dauerte mehr als 600 Jahre bis Ptolemäus von Alexandria eine Lösung bereit hatte. Abbildung 2. Unter der Voraussetzung von nach wie vor perfekten Kugeln und gleichförmigen Rotationsgeschwindigkeiten zeigte er, dass für eine vollständige Beschreibung der Beobachtungen (die damals noch mit dem bloßen Auge erfolgten) vier Rotationszentren nötig waren. Das Ptolemäische Welt-System behielt bis zum Anbruch der Moderne - bis Nikolaus Kopernikus, Johannes Kepler und Isaak Newton - ihre Gültigkeit . Dann wurde die Komplexität dieses Systems in drei Schritten reduziert: das geozentrische System wurde von Kopernikus durch ein heliozentrisches ersetzt, an Stelle der vollkommenen Kugeln, Kreisbahnen und gleichförmigen Rotationsgeschwindigkeiten führte Kepler eine allgemeinere Form der planetaren Bewegungen auf Ellipsenbahnen ein, in deren einem Brennpunkt die Sonne steht. Abbildung 2. Newtons Gravitations-Gesetze schließlich ermöglichten eine vollständige Beschreibung aller Bewegungen - für die Berechnungen braucht man nur Informationen über die Massen der Körper und die Ausgangsbedingungen, d.i. die relativen Positionen und Geschwindigkeiten. Die Himmelsmechanik bietet zweifellos das beste Beispiel eines alten Problems, das mit zunehmendem Wissen - mathematisch nachvollziehbar - entmystifiziert und vereinfacht wurde.

Abbildung 2. Das Geozentrische Weltbild des Claudius Ptolemäus (oben) und das Heliozentrische Weltbild des Nikolaus Kopernikus (unten). Quelle gemeinfrei: Andreas Cellarius Harmonia Macrocosmica, 1660/6: links oben: "Scenographia systematis mvndani Ptolemaici." und links unten: "Scenographia Systematis Copernicani"; rechts oben: Wikimedia, rechts unten:Abbildung aus dem Werk: Kopernikus: De revolutionibus orbium coelestium(1543)

Das Fehlen geeigneter Methoden

Ein zweiter Grund, warum Dinge komplexer erscheinen, als sie tatsächlich sind, resultiert aus dem Fehlen geeigneter Methoden, um die Probleme zu analysieren und Modelle zu erstellen.

Empirische Wissenschaften basieren auf den zwei Fundamenten: der Theorie und dem Experiment. An der Zeitenwende vom 19. zum 20. Jahrhundert begannen Wissenschafter, aber auch die Öffentlichkeit, Fragen zu stellen, die eine neue Form schwierig zu lösender Probleme generierten. Ein großer Teil dieser Probleme ließ sich weder durch neue Theorien noch durch vorhandene experimentelle Methoden befriedigend angehen. Ein Beispiel dafür war ein von König Oskar II von Schweden initiiertes Preisausschreiben, der einen mathematischen Beweis für die Stabilität des Sonnensystems sehen wollte. Henri Poincare gewann diesen Preis, allerdings enthielten seine Rechnungen einen Fehler und führten zur unrichtigen Schlussfolgerung: "Das Sonnensystem ist stabil". Er war selbst imstande seinen Fehler zu korrigieren - den König ließ er dann mit dem nicht zufriedenstellenden Argument zurück: "Das Sonnensystem kann zerfallen - zugegebenermaßen mit einer sehr geringen Wahrscheinlichkeit".

Heute trägt Computer-unterstütztes Rechnen enorm zur Vereinfachung von Problemen jeglicher Art bei - es ist das dritte Bein, auf dem der wissenschaftliche Fortschritt weitergeht. Überaus komplexe Fragestellungen können mit Hilfe numerischer Methoden in Angriff genommen werden , dies gilt insbesondere für die erst jetzt mögliche Behandlung von stochastischen Prozessen (Zufallsprozessen).

Das Einbetten in eine komplexe Umgebung

Dass an und für sich einfache Reaktionen in ein komplexes Umfeld integriert sind, ist in der Biochemie und Molekularbiologie durchaus üblich. Ein typisches Beispiel dafür, ist die in allen Lehrbüchern beschriebene Glykolyse, eine Kette von aufeinanderfolgenden Reaktionen, in denen zwölf Enzyme die Umwandlung von Glukose in Milchsäure katalysieren. Abbildung 3. Alle diese Enzyme kennt man bereits sehr gut, man hat sie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts isoliert, charakterisiert und ihre 3D-Kristallstruktur bestimmt. Die Einzelreaktionen und auch die gesamte Glykolyse sind ausreichend untersucht - als isolierte Systeme in vitro und in vivo in intakten Zellen und Organismen. Die Glykolyse stellt demnach ein einfaches System von Reaktionen dar, in dem zwei Schritte irreversibel sind. Dieses einfache, an sich nicht komplexe System liegt allerdings in den allgemeinen Stoffwechsel der anderen Zucker - Monosaccharide - eingebettet vor, die an unterschiedlichen Stellen der Reaktionskette mit der Glykolyse interferieren können und damit ein Netzwerk von Reaktionen bilden. Tatsächlich ist aber auch der Monosaccharid-Stoffwechsel nur ein winziges Segment des gesamten überaus komplexen Stoffwechsel-Netzwerkes in lebenden Zellen. Wer sich die Komplexität dieses Netzwerks vor Augen führen möchte, sollte einen Blick auf die (ursprünglich von Böhringer Mannheim herausgegebenen) "Biochemical Pathways" werfen.

Abbildung 3.Die Glykolyse ist eine relativ einfache Kette von aufeinanderfolgenden Reaktionen, in denen aus 1 Molekül Glukose 2 Moleküle Laktat entstehen (schwarze Pfeile: reversible, blaue Pfeile irreversible Schritte). Im Zellmilieu ist die Glykolyse in den Metabolismus der Zucker eingebettet (rot, nicht alle Zucker sind eingezeichnet). Dies ergibt ein komplexes Netzwerk von Reaktionen, dessen Komplexität bei Integration in den vollständigen Metabolismus der Zelle noch ungemein gesteigert wird. Pyruvate fliesst als Substrat in den Citronensäurecylus, kann auch in zwei Schritten zu Äthanol vergoren werden

Wie geht es weiter?

Fehlendes Wissen, fehlende Methoden zur Behandlung von Problemen und deren Einbettung in komplexen Systemen sind Beispiele, die zur Entstehung komplexen Verhaltens führen können - vermutlich gibt es noch zahlreiche weitere Auslöser. Die genannten Beispiele sollen aufzeigen, auf welche Weise wir in Zukunft komplexe Systeme angehen und erfolgreich bearbeiten können. Insbesondere in den Lebenswissenschaften besteht die dringende Notwendigkeit Komplexität zu reduzieren. Enorme Berge von Daten werden generiert und niemand weiß, ob die wichtigen Informationen wirklich gespeichert werden. Es ist auch nicht zu sehen, ob und wie schnell - im Sinne der Vision von Sidney Brenner - eine neue theoretische Biologie, ein "Newton des Grashalms", im Kommen ist. Zumindest hoffen aber viele Biologen, dass neue Konzepte entwickelt werden, welche die Datenflut und verwirrende Interpretationen vereinfachen.

Hier soll noch ein Punkt erwähnt werden, der komplexen Systemen in allen Gebieten - von der Physik der Elementarteilchen bis zu metabolischen Netzwerken - gemeinsam ist. Ergebnisse aus ausgedehntesten Computer-gestützten Berechnungen können kaum mehr mit dem menschlichem Auge, dem menschlichen Hirn überprüft werden. Das gleiche gilt auch für viele modernen Techniken, wie dem "high throughput screeining" - dem gleichzeitigen Testen von Tausenden Proben - oder beispielsweise für die bildgebenden Verfahren in der Mikroskopie und Tomographie. Wir müssen uns also auf unsere Computer und die verwendeten Rechenmodelle verlassen können.

Wer aber kontrolliert die Computer? Das ist wiederum nur über Computerprogramme möglich. Die Entwicklung von Software, die Computerprogramme prüft und korrigiert, ist ein überaus aktives Gebiet in der heutigen Informatik.


Weiterführende Links

Artikel von Peter Schuster zum Thema Komplexität im ScienceBlog: