Genetische Choreographie der Entwicklung des menschlichen Embryo

Fr, 16.09.2016 - 08:00 — Ricki Lewis

Ricki LewisIcon MedizinIn den ersten zwei Monaten des Lebens entwickelt der menschliche Embryo bereits alle Organe und Gewebe; darüber, wie diese Prozesse ablaufen, ist aber relativ wenig bekannt. Gene, die an- und abgeschaltet spielen eine zentrale Rolle als Regulatoren der Organogenese. Angeschaltet, wird die DNA eines Gens in RNA transkribiert und diese dann häufig in ein Protein übersetzt, das Zellprozesse initiiert und kontrolliert. Die Genetikerin Ricki Lewis berichtet hier über die eben publizierte Entdeckung eines wesentlichen neuen Programms in der embryonalen Entwicklung: DNA wird zu mehr als 6000 RNAs transkribiert, die nicht für Proteine kodieren und offensichtlich die Organogenese spezifisch steuern.*

Als ich vor Jahren an einer staatlichen Universität unterrichtete, hatte ich die Möglichkeit meinen Genetik-Klassen echte menschliche Embryonen und Föten vorzuführen. Es waren dies Präparate aus den 1950er Jahren, stammten von Fehlgeburten, die ein Gynäkologe - mit dem Einverständnis der Frauen, wie mir versichert wurde - aufbewahrt und der Sammlung der Biologieabteilung geschenkt hatte.

Meine Studenten waren überrascht über die Formen, die da in Reagenzgläsern und Fläschchen schwebten, der Größe nach aufgereiht bis hin zum einem 8-Monate Fötus in einem riesigen Mayonnaise Glas. Ich ging mit diesen Präparaten sehr vorsichtig und respektvoll um.

Als ich einmal die Sammlung in einem Einkaufswagen über den Campus zu meiner Klasse transportierte, sprachen mich Studenten an. Sie nahmen an ich wäre auf dem Weg zu einer "Recht auf Leben"-Veranstaltung. Nein, korrigierte ich, "das gehört für den Biologie-Unterricht". Ein anderes Mal begleitete mich meine vierjährige Tochter auf den Campus. Als sie den 8-Monate Fötus sah, brach sie in Tränen aus - er sah ihrer ganz kleinen Schwester zu ähnlich.

Jahre später stieß ich wieder auf eines der wertvollen Reagenzgläser, eingerollt in Papiertücher lag es in einer Schachtel mit Prüfungsunterlagen. Ich hatte es damals wohl unabsichtlich mitgenommen. Ich bewahrte es auf und zeige es nun hier: es ist ein 44 Tage alter Embryo - zum Größenvergleich liegt ein Penny daneben (Abbildung 1).

Abbildung 1. Menschlicher Embryo, 44 Tage nach der Befruchtung. Zum Größenvergleich liegt ein Penny daneben

Ein Blick auf die Organbildung (Organogenese)

Menschliche Embryonen und Föten erzeugen starke Bilder. Auf meine Studenten machten damals die Präparate einen unvergesslichen Eindruck – in einer Weise, wie es Abbildungen, Fotos und Filme kaum je vermögen. Heute sehe ich auf den Plakatwänden nahe meinem Haus fröhliche Babys und dazu Angaben in welcher Schwangerschaftswoche bereits Herzschlag, Fingerabdrücke und ein Lächeln bemerkbar wurden. Vermutlich, um Schuldgefühle in Frauen hervorzurufen, die den Abbruch der Schwangerschaft wählen müssen.

Die Carnegie-Stadien

Üblicherweise haben Embryologen (alias Entwicklungsbiologen) für die Embryonalentwicklung ein Klassifizierungssystem angewandt, das auf den physischen Merkmalen beruht, die nach bestimmten Zeitabschnitten erkennbar werden: es ist dies eine Einteilung in 23 Stufen – die Carnegie-Stadien:

Beispielsweise ist am Tag 32 ein Embryo 4 – 6 mm groß, hat Ansätze ("Knospen") aus denen dann Beine entstehen, Vertiefungen aus denen Ohren, Verdickungen der Außenschicht, aus denen Linsen werden und 30 Körpersegmente (Somiten), die sich zu spezialisierten Teilen des Körpers entwickeln werden.

Am Tag 56 misst der Embryo 27 – 32 mm und sein Kopf ist halb so groß wie der ganze Körper. Er hat ein Kinn, ausgedehnte Extremitäten, gesäumt mit Fingern oder Zehen und andeutungsweise erkennbare Genitalien. Abbildung 2.

Abbildung 2. Modell eines 8 Wochen alten menschlichen Embryos

Die Phase der embryonalen Entwicklung dauert von der Befruchtung der Eizelle bis zum Tag 58, dem Ende der 8. Woche. Die 2. Woche wird durch das Auftauchen der drei Keimblätter – Ektoderm, Endoderm und Mesoderm – markiert, die sich zur Form der klassischen Gastrula biegen. Nach einem präzisen genetischen Programm entfalten und entwickeln sich daraus die Organe.

Ungefähr ab der dritten Woche beginnen sich die Ansätze der Organe zu formieren und die Organogenese beschleunigt sich in der darauffolgenden Woche. Der Übergang vom Embryo zum Fötus findet am Ende der 8. Woche statt, wenn alle Vorläuferstrukturen bereits vorhanden sind (die Zeit wird übrigens von der Empfängnis an gerechnet, nicht von dem Kürzel der Gynäkologen "letzte Menstruation"). Die Begriffe Embryo und Fötus bezeichnen zwei biologisch völlig unterschiedliche Phasen der pränatalen Entwicklung, werden aber gerne durcheinander geworfen - von Gegnern der Familienplanung ("Planned Parenthood") und von den Medien - sogar im Lesestoff, der in den Ordinationen von Gynäkologen aufliegt, habe ich derartige Verwechslungen gesehen.

Wie die Expression von Genen während der Entwicklung des Embryos verläuft

Die Carnegie-Stadien basieren auf dem, was sichtbar ist. Aber das Genom kontrolliert den Start der beobachtbaren anatomischen Veränderungen, die die Reise des Embryos zum Fötus vorantreiben. Eine grandiose, eben im Journal eLife erschienene Veröffentlichung bietet nun einen völlig neuen Einblick in die embryonale Entwicklung des Menschen, basierend auf der Genexpression in den spezifischen Organen [1].

Diese Arbeit - mit "Ein integrativer Atlas des Transkriptoms der Organentwicklung in menschlichen Embryos (An integrative transcriptomic atlas of organogenesis in human embryos)" übertitelt - unterscheidet sich grundlegend von früheren Forschungsrichtungen, die zur Untersuchung der pränatalen Entwicklung eingeschlagen wurden. So hatte man die RNA ganzer Embryos analysiert (damit war keine Aussage zur Entwicklung spezifischer Organe möglich), die Differenzierung von humanen Stammzellen und deren Tochterzellen verfolgt, Tiermodelle von Krankheiten des Menschen entwickelt, humane Organoide im Labor produziert und Schlussfolgerungen gezogen, welche Fehlentwicklungen hinter bestimmten Geburtsfehlern stehen.

Die aktuelle Studie wendet das statistische Verfahren der Hauptkomponentenanalyse (principal component analysis (PCA)) auf die sich ausweitenden Entwicklungswege der Zelllinien an, wenn aus den ersten Zellteilungen und der Schichtung von Geweben Organogenese wird. Die PCA erlaubt es, die überaus umfangreichen Datensätze auf ein überschaubares Ausmaß zu reduzieren, das die Trends (Substrukturen) unter den vielen Variablen aufzeigt. Dieser Ansatz (“lineage guided PCA” -LgPCA) identifiziert Gruppierungen von Genen ("Metagene"), die sich an der Bildung spezifischer Körperteile des Embryos beteiligen, einige davon in vielen Geweben.

Die Untersuchung katalogisiert nun die RNAs, die von Genen während der embryonalen Entwicklung vom Ende der 3. Woche bis zum Ende der 8. Woche transkribiert werden. Diese Forschung war möglich, weil es in England jahrzehntelange Erfahrung gibt, embryonales Gewebe in ethisch zulässiger Weise von Frauen zu erhalten, die sich freiwillig einem Schwangerschaftsabbruch unterziehen. Auf der Webseite der Human Tissue Authority ist jedes Detail beschrieben, wie mit humanen Zellen, Geweben und Organen gearbeitet werden muss. Die Seite berücksichtigt auch bioethische Bedenken hinsichtlich Zustimmung und Menschenwürde, Ausstellungen in Museen, religiösen und kulturellen Vorstellungen zu Organspenden, Verwendung von Stammzellen und Zelllinien und von embryonalem und fötalem Gewebe, das von Schwangerschaftsabbrüchen stammt.

Die Forscher sammelten Material und präparierten 15 spezifische Teile für ihre Analysen. Darunter waren ganze Organe wie beispielsweise die Nebennieren, Leber und Lunge aber auch bestimmte Segmente wie das Pigmentepithel der Retina des Auges, der Magen losgelöst von den Schließmuskeln und Knospen der Gliedmaßen. Um ausreichend RNA für die Analyse isolieren zu können wurden jeweils mehrere Präparate zusammengefasst (gepoolt) und die Abschnitte am Genom von denen Transkription erfolgte, identifiziert. Abbildung 3.

Abbildung 3. Menschlicher Embryo mit den 15 Geweben und Organen, die für die RNA-Analysen herangezogen wurden. (Bild von der Redaktion eingefügt; es ist Figure 1 aus Gerrard et a., (2016) entnommen [1] und steht unter cc-by Lizenz)

Über 6000 RNAs transkribiert, die nicht für Proteine kodieren

Indem sie die RNAs aus unterschiedlichen Regionen des Körpers isolierten, konnten die Forscher DNA-Sequenzen identifizieren, die komplexen angeborenen Anomalien zugrunde liegen und mehr als einen Gewebetyp betreffen, beispielsweise den Wolfsrachen (Gaumenspalte) und einige Formen der angeborenen Herzschwäche.

Das überraschendste Ergebnis war, dass von den 6 251 identifizierten neuen RNA-Transkripten rund 90 % keine der üblichen RNAs waren, die für Proteine kodieren. Sie waren vielmehr Transkripte von langen, zwischen den Genen liegenden Abschnitten der DNA und werden demgemäß als "long intergenic non-coding RNAs" ("LINC RNAs") bezeichnet. Diese LINC RNAs sind hochspezifisch für die einzelnen Körperteile, wo sie offensichtlich die Bereitstellung von Transkriptionsfaktoren regulieren – also von Proteinen, die ihrerseits nun wieder das Programm der Gen-Aktivierung und -Suppression steuern, das dann die Veränderungen in der Entwicklung direkt überwacht.

Mittels der oben erwähnten Hauptkomponentenanalyse (PCA) konnten aus dem riesigen Datensatz 11 Metagene identifiziert werden, also Gruppierungen von Genen, die sich an der Bildung spezifischer Körperteile des Embryos beteiligen. Ein Beispiel ist Metagen2, das 39 Gene umfasst, welche die Leber des Embryos formen. Da der PCA-Ansatz auf Zellinien basiert, kann er die genetischen Programme aufzeigen, die zu Entwicklungsdefekten führen: ein Beispiel ist das Holt-Oram Syndrom, das Hand und Herz betrifft (Fehlbildungen von Daumen oder Speiche und Herz).

Das Wissen, wie die Organentstehung genetisch kontrolliert wird, kann einerseits zur Entwicklung von Diagnosetests führen oder vielleicht sogar zu neuen Zielstrukturen (Targets) für die Entwicklung von Arzneimitteln. In der Forschung kann die Kenntnis von Genexpressionsmustern und Signalen, die ein Ereignis – wie beispielsweise die Bildung einer Milz – einleiten, Benchmarks ergeben, die für die Erzeugung induzierter pluripotenter Stammzellen und deren Differenzierung genutzt werden könnten.

Die großen Zusammenhänge

Die neue Sichtweise auf die Entstehung der Organe fasziniert mich ungemein. Welche Auswirkungen ihre Arbeit haben kann, beschreiben die Forscher beschreiben wohl am besten: "Die Entdeckung eines wesentlichen neuen Programms von nicht-kodierender Transkription fügt der raum-zeitlichen Regulierung des menschlichen Genom eine neue Ebene hinzu.

Die Identifizierung der Rolle von nicht-proteinkodierenden RNAs in der Ausbildung der embryonalen Organe, ist meiner Meinung auf der gleichen Linie zu sehen, wie die Entdeckung, dass Gene gestückelt sind – die Introns herausgeschnitten – und nur die Exons für Proteine kodieren. Dies hat Walter Gilbert im Jahr 1978 klargemacht [2] und damit mit einem Schlag die lange Zeit vertretene Ansicht zerstört, dass Gene in Form eines einzelnen DNA-Stücks für ein RNA-Molekül kodieren.

Abbildung 4. Eine DNA-Sequenz ist nicht "junk" (Müll), bloß weil wir ihre Funktion nicht kennen.

Wie ehemals Introns wurden auch LINC RNAs als Teil des Müllhaufens des Genoms, als "junk DNA" (Müll-DNA) betrachtet , eine Bezeichnung (u.a. von Francis Crick), welche von den Medien gleich vereinnahmt wurde und bis zum heutigen Tag weiterlebt. Abbildung 4.

Ich zweifle daran, dass viele Genetiker meinen, DNA-Sequenzen könnten ohne Nutzen oder Bedeutung sein, nur weil wir diese noch nicht entdeckt haben.

Das Wunder der Genetik liegt darin, dass wir oft meinen, wir wüssten bereits nahezu alles, was es zu wissen gibt, um dann doch wieder eine andere Sprache des Lebens zu entdecken.


[1] DT Gerrard, AA Berry, RE Jennings, KP Hanley, N Bobola, NA Hanley (2016) An integrative transcriptomic atlas of organogenesis in human embryos. eLife 2016;5:e15657. DOI: 10.7554/eLife.15657. https://elifesciences.org/content/5/e15657

[2] W Gilbert (1978) Why genes in pieces? Nature. 1978 Feb 9;271(5645):501


*Der Artikel ist erstmals am 8. September 2016 in PLOS Blogs - DNA Science Blog unter dem Titel "Genetic Choreography of the Developing Human Embryo" erschienen (http://blogs.plos.org/dnascience/2016/09/08/genetic-choreography-of-the-...) und steht unter einer cc-by Lizenz . Die Autorin hat sich freundlicherweise mit der Übersetzung durch ScienceBlog.at einverstanden erklärt. Diese folgt so genau als möglich der englischen Fassung.


Weiterführende Links

Zeitleiste der embryonalen Entwicklung (Carnegie Stadien) Fotos mit Beschreibung (deutsch) http://www.embryology.ch/carnegie/carnegiede.html?number=10

The Multi-Dimensional Human Embryo (Bradley Smith et al., collaboration funded by the National Institute of Child Health and Human Development (NICHD), Bethesda, Maryland): a 3D- image reference of the Human Embryo Carnegy stages 13 - 23 based on magnetic resonance imaging. https://www1.cgmh.org.tw/intr/intr5/c6700/OBGYN/F/embryo/carnStages.html

Embryo – Fetus (Howard Hughes Medical Institute) Video 2:18 min (englisch)

Ricki Lewis: Genetics and Reproduction: How Far Should We Go? Talk TEDxSchenectady. Video 21:48 min (englisch)