Wie steuerten die Wikinger ihre Schiffe über den Ozean?

Fr, 26.02.2016 - 08:13 — Anthony Robards

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Anthony RobardsJahrhundertelang haben die Wikinger den Nordatlantik gequert und es standen ihnen dabei nur primitive Navigationshilfen zur Verfügung. Nach der Methode des „Breitensegelns“ fuhren sie einer Küste entlang bis zum gewünschten geographischen Breitengrad und segelten dann auf dieser Breite nach Osten oder Westen zum Zielort. Um auf offener See Kurs zu halten dürften sie sich eines Sonnenkompasses und doppelbrechender Kristalle – sogenannter „ Sonnensteine“ - bedient haben. Der Biowissenschafter Tony Robards (Universität York) zeigt, dass mit derartigen Sonnensteinen der Sonnenstand tatsächlich genau bestimmt werden kann, auch bei trübem Wetter und wenn die Sonne schon knapp unter dem Horizont steht..

Vor mehr als einem Jahrtausend kamen aus den Ländern, die wir jetzt als Norwegen, Dänemark und Schweden bezeichnen, Seefahrer, welche die Meere und Wasserstraßen vom Schwarzen Meer bis nach Nordamerika, von Island bis ins Mittelmeer befuhren. Wir nennen diese Menschen heute Wikinger; im Zeitraum vom 9.bis zum 13. Jahrhundert befanden sie sich auf der Höhe ihrer Seemacht. Abbildung 1.

Abbildung 1. Die Eroberung Englands durch Wilhelm den Eroberer im Jahr 1066: „HIC WILHELM DVX IN MAGNO NAVIGIO MARE TRANSIVIT ET VENIT AT PEVENESAE“ Wilhelms Flotte überquert den Kanal. (Die Normandie war seit 911 ein Lehen dänischer Wikinger.) Die schlanken, ca. 20 m langen Drachenschiffe waren mit relativ dicht angebrachten Ruderbänken ausgestattet. Ausschnitt aus dem rund 70 m langen Teppich von Bayeux, der bereits in der 2. Hälfte des 11. Jahrhunderts entstand und in einem eigenen Museum (Musée de la Tapisserie de Bayeux (Bayeux)) ausgestellt ist. (Bild: Wikipedia; Das Kunstwerk ist gemeinfrei).

Meeres-Historiker und Archäologen beschäftigte viele Jahre lang die wichtige Frage, wie es die Wikinger schaffen konnten ihren Weg durch die Meere zu finden, insbesondere, wenn kein Land in Sicht war. Sie unternahmen auf ihren robusten Schiffen ja äußerst beeindruckende Querungen – hin und zurück über den Nordatlantik – und das ohne Navigationshilfen, die ein Seemann heute als unerlässlich erachten würde.

Segeln entlang der Küste…

Über Tausende von Jahren waren Seeleute in aller Welt hauptsächlich den Küsten entlang gesegelt und bedienten sich dazu der vor Ort gesammelten Erfahrungen und fähiger Lotsen. Wenn sie sich von der Küste weiter entfernen, helfen ihnen auch heute noch zahlreiche Hinweise, um ihre Position und Fahrtrichtung zu bestimmen. Die Art der Wolkenformationen, Geräusche, Gerüche, die Windgeschwindigkeit und -Richtung, Seegang und Meeresströmungen, Farbe, Temperatur und Geschmack des Wassers, die Beobachtung von Vögeln und deren Flugrichtung und von wandernden Meeressäugern (wie z.B. von Walen) – all dies hätte auch damaligen Seeleuten wertvolle Anhaltspunkte über Position und Fahrtrichtung geben können.

Wikinger, die mit ihren kleinen Schiffen ja so grandios den Ozean beherrschten, mussten zweifellos alle derartigen Erfahrungen und Fertigkeiten besessen und weitergegeben haben. Bei der geringen Sichtweite - weniger als 10 Seemeilen -, die sie vom niederen Deck ihrer Schiffe aus hatten, bedurfte es allerdings noch zusätzlicher Hilfsmittel um sich wesentlich weiter von der Küste zu entfernen.

…und Breitensegeln

Bis zur Erfindung der Schiffsuhr (Marinechronometer; zur Bestimmung des Längengrads auf hoher See) durch John Harrison in der Mitte des 18. Jahrhunderts konnten sich Seeleute nie ganz sicher sein auf welcher geographischen Länge sie sich befanden - auch, wenn sie auf Grund ihrer Kenntnisse der Bewegungen von Sonne und Sternen ihre geographische Breite sehr gut abschätzen konnten. Aus diesem Grund wandten Seeleute daher jahrhundertelang die Methode des sogenannten „Breitensegelns“ an: das heißt, sie fuhren einer Küste entlang nach Norden oder Süden bis sie die gewünschte geographische Breite erreicht hatten und segelten von dort dann entlang dieser Breite nach Osten oder Westen zum Zielort. Den Kurs entlang der Breite zu halten, kann sich aber als schwierig erweisen, wenn auf offener See das Ziel noch hunderte Meilen entfernt ist und der Ausgangsort schon weit hinten liegt. Dies haben die Wikinger als eine ihrer Hauptfähigkeiten zur Perfektion gebracht.

Es erscheint einleuchtend, dass die meisten frühen Erkundungen der Wikinger sie an den Küsten entlang geführt haben. Beispielsweise der Überfall auf das an der Nordostküste Englands gelegene Kloster Lindisfarne im Jahr 793, der vermutlich von der Westküste Norwegens aus gestartet wurde. Die Wikinger könnten dieses Ziel erreicht haben, ohne sich wesentlich außerhalb Landsicht begeben zu haben. Über die nächsten 300 – 400 Jahre wurden die Seefahrten dann immer abenteuerlicher und die Navigationskünste entsprechend verfeinert. Abbildung 2.

Das áttir-System

Welche Hilfsmittel standen den Wikingern also zur Verfügung und – ebenso wichtig – was fehlte?

Wir alle kennen den magnetischen Kompass als das grundlegende Instrument eines jeden Seemanns. Dieser dürfte aber vor dem 13 Jahrhundert in Europa noch nicht vorhanden gewesen sein – hundert Jahre nach seiner Entdeckung in China. Tatsächlich ist in den nördlichen Breiten, der Heimat der Wikinger, der Kompass auf Grund variierender Magnetfelder aber ein ziemlich unverlässlicher Begleiter.

Es wurde auch vermutet, dass die Wikinger das natürlich vorkommende Eisenmineral Magnetit als eine primitive Art von Kompass verwendet hätten. Dafür gibt es aber bislang keinen Beweis.

Nichtsdestoweniger entwickelten sie eine Art Kompasspeilung durch ihr áttir-System – ein System der Hauptrouten. Das Fehlen von schriftlichen Aufzeichnungen oder Protokollen bedeutete, dass ihre Ozeanquerungen grundsätzlich vom Start bis zum Ziel geplant wurden und dieses Wissen von Seefahrer zu Seefahrer weitergegeben und in deren Gedächtnis gespeichert wurde.

Um das 8. Jahrhundert herum hatten die Nordmänner bereits auf den Shetland-Inseln, den Orkneys und Hebriden Fuß gefasst. Island wurde von den Wikinger zwischen 860 und 870 entdeckt – irische Mönche waren allerdings rund 100 Jahre früher dort gewesen. Im 10. Jahrhundert hatten die Wikinger dann Grönland erreicht, von wo aus sie schließlich Nord Amerika entdeckten. Die mutigen Seefahrers waren nun Herrscher über den Nordatlantik. Abbildung 2.

Abbildung 2. Sieben Schifffahrtsrouten der Wikinger im und über den Nordatlantik, die in den Sagas beschrieben werden. Die Route 3 verläuft über den 61. Breitegrad und erstreckt sich über 1500 Seemeilen von Hernar in Norwegen nach Hvarth in Grönland. (Adapted, with permission, from Thirslund, S., Sailing Directions of the North Atlantic Viking Age (from about the year 860 to 1400). Journal of Navigation, 1997. 50(01): p. 55-64.) Allerdings dauerte es bis in das frühe 14. Jahrhundert, dass ihre Segelanweisungen nicht mehr mündlich weitergeben wurden sondern zum ersten Mal schriftlich niedergelegt und zwar in den Island Sagas. Zwei herausstechende Titel sind das „Landnámabόk“ und das „Hauksbόk“, in welchen sieben unterschiedliche Segelrichtungen samt der voraussichtlichen Fahrtzeit beschrieben wurden. Als Beispiel soll eine derartige Schilderung aus dem Hauksbόk dienen:

„Weise Männer… sagen….von Hernar (Insel im Norden von Bergen und idealer Ausgangspunkt für Segelreisen nach dem Westen) in Norwegen halte dich nach Westen Richtung Hwarf in Grönland und segle nördlich von Hjaltland (Shetland Inseln), sodass Du sie bei klarem Wetter gerade noch erblickst, aber südlich der Färoer Inseln, sodass das Meer (der Horizont) mitten zwischen den entfernten Bergen liegt und auch im Süden von Island.“

Hernar als Ausgangspunkt und ein Kurs der etwa entlang des 61. nördlichen Breitegrads verlief, sollte die Seeleute zu den 1 500 Seemeilen entfernten südlichen Gebieten Grönlands führen, von wo sie der Küste entlang an die Westseite segeln konnten. Ein zu weites Abweichen südlich des 61. Breitegrads wäre dagegen fatal, da man damit Grönland verfehlen würde. Diese schmerzliche Erfahrung musste Bjarni Herjólfsson machen, der im Jahr 896 von Island aus aufbrach, aber durch Stürme und Meeresströmungen nach Süden verschlagen wurde. Er wurde zwar so der erste Wikinger, der den Nordamerikanischen Kontinent erblickte, konnte dort aber nicht landen.

Stad oder Trondheim als Ausgangsorte sollten in ähnlicher Weise ein „Breitensegeln“ zu den Färoer Inseln oder an die Südküste Islands erlauben.

Der Sonnenkompass

Wie aber konnten die Wikinger beim Breitensegeln über so weite Distanzen genauen Kurs halten? Hier beginnt die Geschichte ebenso spannend wie spekulativ zu werden. Von allen Navigationsinstrumenten, welche die Wikinger benutzt haben könnten, gibt es bislang ein einziges archäologisches Relikt: Dies ist ein halbkreisförmiges Bruchstück einer Holzscheibe mit einem Durchmesser von 7 cm, das 1948 in einem alten Benediktinerklosters in Uunartoq, im Süden Grönlands, entdeckt wurde. Abbildung 3.

Abbildung 3. Das Uunartoq Bruchstück (Reproduced by courtesy of the Viking Ship Museum, Roskilde, Denmark, who hold the Copyright. Photograph by Werner Karrasch)

Dieses Fundstück wurde als Sonnenkompass gedeutet, der ursprünglich einen vertikalen Stab (ein Gnomon – Schattenzeiger) in der Mitte gehabt haben musste. Vor dem Fahrtantritt hätte dann der Seefahrer über einen Tag hin die Projektion des Schattens der Sonne von der Spitze des Gnomons auf den Rand der Scheibe verfolgt und markiert – die Einkerbungen am Rand der Scheibe werden für derartige Markierungen gehalten. In den darauffolgenden nächsten Tagen wäre der Sonnenstand ausreichend ähnlich gewesen, um festzustellen ob die Fahrtrichtung nördlich oder südlich von der vorgegebenen Route nach Westen oder Osten abwich. (Neuere Untersuchungen haben einige faszinierende Vorschläge für ähnliche, aber abgewandelte Instrumente dargestellt, auf die hier aber nicht eingegangen werden soll.)

Während der Schifffahrtssaison der Wikinger waren die Tage lang und die Nächte relativ kurz. In den Nächten konnte eine gewisse Navigationshilfe auch durch die Beobachtung der im Zenith stehenden Sterne oder beispielsweise des Polarsterns erhalten werden, dessen Höhenwinkel ja ungefähr dem Breitengrad entspricht, auf dem sich ein Beobachter befindet.

Allerdings erfolgte der Großteil der Fahrt bei Tageslicht und für die Orientierung war es wichtig zu wissen, wo die Sonne stand, auch wenn man sie nicht sah, sodass man mittels des Sonnenkompasses den Breitengrad bestimmen konnte. Hier kommt nun die bemerkenswerte Hypothese ins Spiel, dass die Wikinger einen Sonnenstein benutzten.

Der Sonnenstein

Ein Sonnenstein wird in den Wikinger Sagas erwähnt: angeblich demonstrierte der Bauernsohn Sigurd seinem König Olaf, dem Heiligen, dass er mit einem solchen Stein in der Lage war den Sonnenstand bei bedecktem Himmel festzustellen. Dies dient als eindeutiges Beispiel dafür, dass die Wikinger über den Sonnenstein Bescheid wussten, auch wenn dieser nicht in direktem Zusammenhang mit der Seefahrt genannt wurde.

Es war der dänische Archäologe Thorkild Ramskou, der 1969 postulierte, Sonnensteine könnten zur Bestimmung des Sonnenstandes genutzt worden sein und zwar auch dann, wenn die Sonne unter dem Horizont verschwand oder durch Wolken oder Nebel verdeckt war. Diese Idee wurde zwar von ein oder zwei Protagonisten begeistert akzeptiert, blieb aber lange nicht mehr als eine Theorie. Erst vor kurzem unternahmen Wissenschafter rund um Gabor Horvath einige Experimente, um herauszufinden ob man Sonnensteine tatsächlich zur Bestimmung des Sonnenstandes bei bedeckter Sonne nutzen konnte.

Was ist also überhaupt ein Sonnenstein und wie könnte er funktionieren?

Dazu eine kurze Einführung: entsprechend seiner Natur als elektromagnetische Welle schwingt Sonnenlicht als Transversalwelle senkrecht zu seiner Ausbreitungsrichtung, wobei diese Schwingungen radial in beliebige Richtungen erfolgen (das Licht ist unpolarisiert). Beim Eintritt in die Erdatmosphäre werden die Sonnenstrahlen dann an den kleinen Teilchen (an Molekülen, Aerosolen) der Luft gestreut und polarisiert, d.h. das Licht schwingt nur mehr in einer Ebene. Die Richtung der Polarisation ist senkrecht zu der ursprünglichen Ausbreitungsrichtung und erreicht ein Maximum im 90o Winkel zum Sonnenstandort. Abbildung 4a. Dies lässt sich leicht mit Hilfe eines Polarisationsfilters beobachten (ein derartiger Filter lässt Licht einer Polarisationsrichtung durch und sperrt Licht mit einer um 90o gedrehten Polarisationsrichtung). Wenn Sie beispielweise durch das Glas einer Polaroid Sonnenbrille zum Himmel sehen und dieses drehen, wird es komplett dunkel werden, wenn seine Polarisationsrichtung im 90o-Winkel zur Polarisationsebene der Sonnenstrahlen steht, aber - parallel zu den Sonnenstrahlen - einen klaren Durchblick erlauben.

Abbildung 4. Die Streuung des Sonnenlichts an kleinsten Teilchen in der Atmosphäre führt zur Polarisierung des Lichts (4a). Die Richtung der Polarisation ist senkrecht zu der ursprünglichen Ausbreitungsrichtung und erreicht ein Maximum im 90o Winkel zum Sonnenstandort Der Beobachter kann an Hand dieses Maximums auf den Sonnenstand schließen. 4b: Der Sonnenstein beruht auf der Detektion des polarisierten Lichts: Eine Markierung auf der Außenfläche des doppelbrechenden Calcits erscheint - gegen den Himmel gehalten- als zwei Markierungen unterschiedlicher Intensität. Verdrehen des Kristalls bis beide Markierungen gleiche Intensität zeigen, gibt die Richtung des Sonnenstands an (Details: http://www.atoptics.co.uk/fz767.htm; Illustration/Photograph by the author/A.W.Robards).

Kristalle, die doppelbrechende Eigenschaften haben, können als Sonnenstein fungieren. Dies kann etwa ein Turmalin sein, ein Cordierit oder der am häufigsten genannte Calcit, ein Kristall aus Calciumcarbonat, der auf Grund seiner reichen Vorkommen in Island auch Islandspat genannt wird. Doppelbrechende Kristalle spalten einen durchgehenden Lichtstrahl in zwei Teilstrahlen auf, die beide polarisiert sind und deren Schwingungsebenen senkrecht zueinander stehen. Auf Grund unterschiedlichen Brechungsverhaltens haben die Strahlen einen unterschiedlichen, vom Einfallswinkel abhängigen Verlauf. Wird eine dunkle Markierung auf einer Seite des Kristalls aufgebracht und gegen den Himmel gehalten, werden auf der anderen Seite zwei Markierungen mit unterschiedlicher Stärke gesehen. Wenn der Stein so gedreht wird, dass beide Markierungen gleiche Intensität haben, kann daraus die Position der Sonne abgeleitet werden. Abbildung 4b. Der Stein funktioniert also! Natürlich ist damit noch nicht bewiesen, dass die Wikinger ihn benutzt haben und wenn, ob er ausreichend genaue Ergebnisse am Deck eines Schiffes lieferte.

Ein Sonnenstein wurde zwar nie im Zuge archäologischer Forschungen über Wikinger entdeckt. In einem Schiffswrack vor der Insel Alderney aus dem Jahr 1592, fand man aber im Arsenal der Navigationsinstrumente auch einen Calcit (LeFloch 2013). Dies unterstützte die Theorie, dass der Stein für die Navigation verwendet wurde, möglicherweise wurde damit die Genauigkeit des magnetischen Kompasses überprüft.

Fazit

Von Seiten der Physik wurde bewiesen, dass doppelbrechende Kristalle tatsächlich zur Bestimmung des Sonnenstandes geeignet sind. Von Seiten der archäologischen Forschung muss aber noch viel mehr getan werden, um die Verwendung dieser Technik durch die Wikinger eindeutig zu belegen.


* Der Blogbeitrag basiert auf zwei Artikeln, die im CoScan Magazin in englischer Sprache erschienen sind und uns vom Autor freundlicherweise für den Blog zur Verfügung gestellt wurden:

Anthony Robards: Viking Navigation part 1 and 2. CoScan (Confederation of Scandinavian Societies) Magazine http://issuu.com/evarobards/docs/coscan_magazine_2015_1 und http://issuu.com/evarobards/docs/coscan_magazine_2015_2

Der Blogartikel verzichtet auf die im obigen Original aufgelisteten Literaturangaben, da diese nicht frei zugänglich sind.


Weiterführende Links

Die Wikinger (Dokumentation) . Video 52:52 min (enthält auch Beschreibung des Sonnenkompasses)
Planet Wissen – Wikinger. Video 58:17 min.