150 Jahre Mendelsche Vererbungsgesetze - Erich Tschermak-Seyseneggs Beitrag zu ihrem Durchbruch am Beginn des 20. Jahrhunderts

Fr, 25.03.2016 - 08:29 — Redaktion

RedaktionIcon BiologieVor 150 Jahren hat der alt-österreichische Biologe und Augustinermönch Gregor Mendel seine epochalen Beobachtungen zur Vererbung bestimmter Farb- und Formeigenschaften in Kreuzungen von Pflanzen veröffentlicht [1]. Diese, später als "Mendelsche Regeln" bekannt gewordenen Hypothesen haben einerseits die bis zur Schwelle des 20. Jahrhunderts rein empirisch vorgehende Pflanzenzüchtung und ebenso auch die Tierzucht revolutioniert und sind andererseits zum Grundpfeiler der molekularen Genetik geworden. Maßgeblich zum Durchbruch der Mendelschen Vererbungslehre hat der Wiener Botaniker und Pflanzenzüchter Erich von Tschermak-Seysenegg beigetragen, der sich selbst als einen der drei Wiederentdecker von Mendels Vererbungsgesetzen sieht und auf diesen basierend Regeln für deren züchterische Verwertung erstellt. Dies unterstreicht er auch in dem hier wiedergegebenem populären Vortrag "Die Mendelschen Vererbungsgesetze", den er 1908 im "Verein zur Verbreitung naturwissenschaftlicher Kenntnisse in Wien" [2] gehalten hat.

Abbildung 1. Erich Tschermak-Seysenegg um 1900 (Acta horti bergiani bd. III, no.3 (1905), Gemeinfrei) und Titelblatt der Vorlesung "Die Mendelschen Vererbungsgesetze [2]

Erich Tschermak-Seysenegg (1871 - 1962, Abbildung 1) stammte aus einer Wiener Gelehrtenfamilie. Er war der Sohn des prominenten Chemikers, Mineralogen und Petrographen Gustav Tschermak [3], Enkel des Botanikers Eduard von Fenzl , der Professor an der Universität Wien und Direktor des Botanischen Gartens war, und Bruder des Physiologen Arnim Tschermaks, Rektor der Veterinärmedizinischen Universität Wien. Der vielfach ausgezeichnete Botaniker und Pflanzenzüchter Erich Tschermak war Professor an der Universität für Bodenkultur in Wien und gründete dort den Lehrstuhl für Pflanzenzüchtung. Er gilt als einer der Wiederentdecker von Mendels Regeln*.

Sein am 15. Jänner 1908 im "Verein zur Verbreitung naturwissenschaftlicher Kenntnisse in Wien" gehaltener Vortrag [2] erscheint hier stark gekürzt (er hätte ansonsten die übliche Länge von Blogbeitragen sehr weit üerschritten) und für den Blog adaptiert (d.i. es wurden Untertitel und Abbildungen eingefügt):

Erich Tschermak-Seysenegg: Die Mendelschen Vererbungsgesetze

Das Studium jener Faktoren, welche zur Bildung neuer Formen führen können, ist heute für den modernen Pflanzen- und Tierzüchter eine conditio sine qua non. Die zahlreichen Entdeckungen auf dem Gebiete der Selektion, der Mutation, der direkten Bewirkung der Befruchtung und Vererbung, speziell der Bastardierung (auch als Hybridisierung bezeichnet: Entstehung von Nachkommen mit genetisch verschiedenen Eltern; Anm. Red.) haben auch tatsächlich eine völlige Neugestaltung unserer Vorstellungen über die Entstehung neuer Formen bewirkt.

Wie sehr sich jedoch die normale Lebenslage gerade bei der Züchtung unserer landwirtschaftlichen Kulturpflanzen durch Änderung bezüglich der Düngung, Bodenbearbeitung, des Klimas etc. verschoben hat, ist uns ja allen bekannt. Der Einfluss äußerer Faktoren kann jedenfalls den Anstoß geben zu einem sogenannten Durchbrechen der Vererbung, zu einem Hervortreten latenter Eigenschaften oder zur exzessiven Steigerung vorhandener. Haben doch gerade in jüngster Zeit einige Beobachtungen gelehrt, dass äußere Einflüsse, speziell wachstumstörende wie z. B. Frost, Dürre, Pflanzenkrankheiten, selbst Verletzungen etc. direkt als Ursachen der Mutation anzusprechen sind. Wir sehen also, dass wir die Wirkungen der einzelnen formbildenden Faktoren nur dann richtig beurteilen und studieren können, wenn wir dieselben nach Möglichkeit voneinander trennen.

Die Mendelschen Regeln

Während noch bis vor relativ kurzer Zeit die Neuzüchtung von Pflanzenformen durch künstliche Kreuzung verschiedener Rassen oder auch Arten als ein wenig rationelles Gebiet erschien, auf dem vielmehr Unregelmäßigkeit und Zufall, Unfruchtbarkeit und Rückschlag die Regel sein sollte, sprechen wir seit acht Jahren von einer gesetzmäßigen Gestaltungs- und Vererbungsweise der Mischlinge und Bastarde. Diese Vererbungsgesetze waren, soweit sie die einfachen sogenannt typischen Fälle betreffen, bereits vor 43 Jahren von dem Augustinermönche, dem späteren Prälaten des Augustinerstiftes in Brünn Gregor Mendel formuliert worden (Abbildung 2).

Abbildung 2. Gregor Mendel (1822 - 1884) um 1862 (Quelle: W. Bateson "Mendels Principles of Heredity (1909); https://ia802604.us.archive.org/29/items/mendelsprinciple00bate/mendelsp...)  

Doch blieben sie infolge einer merkwürdigen Verkettung ungünstiger Umstände bis zum Jahre 1900 ungekannt und unverwertet. Ihre Wiederentdeckung, welche gleichzeitig und unabhängig von de Vries*, Correns* und mir erfolgte, hat nicht bloß zur Bestätigung der Mendelschen Regeln in einer reichen Fülle von Fällen sowie bereits zu züchterischer Verwertung des Mendelismus geführt. Dazu kommen vielmehr noch als neue Errungenschaften die weitgehende Abstufung und Modifikation der Vererbungsgesetze für die sogenannten atypischen Fälle, ferner die Erkenntnis der Vererbungsweise latenter Merkmale oder die Lehre von der Kryptomerie und endlich das vielerörterte Problem der Reinheit oder Unreinheit der Fortpflanzungszellen bei den Bastarden.

Durch die strenge Durchführung von zwei Prinzipien

brachte Gregor Mendel Ordnung in das bisher noch so dunkle Gebiet der Bastardlehre und erwies die Geltung ganz bestimmter, allgemein bedeutsamer Gesetze für die Bastardbildung.

  • Erstens zerlegte er den Gesamteindruck, den sogenannten Habitus jeder zur Kreuzung benutzten Pflanzenform in einzelne elementare Eigenschaften und zergliederte den Unterschied der beiden Elternformen nach einzelnen Merkmalen, die er paarweise einander gegenüberstellte: das Prinzip der biologischen Merkmalsanalyse (Abbildung 3). Die Bedeutung dieses Verfahrens für die Biologie ist eine ganz ähnliche wie die Zerlegung einer chemischen Verbindung in scharf getrennte, selbständige konstante Einheiten

Abbildung 3. Mendel untersuchte 2 Erbsensorten an Hand von 7 Merkmalen (Quelle: Mariana Ruiz LadyofHats - http://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Mendel_seven_characters.svg, cc0 )

  • Züchterischen Wert gewann jedoch diese exakte Analyse am Einzelindividuum erst durch Hinzufügung eines zweiten Prinzips, des sogenannten Isolationsprinzips, das in der Sonderung von Samenertrag und Deszendenz nach den einzelnen Stammpflanzen besteht. Mit einem Schlage verschwand nun die scheinbare Regellosigkeit und wie von selbst bot sich die Gesetzmäßigkeit dar. Heute bilden die Grundzüge der Individualzüchtung und der methodischen Zerlegung des Pflanzenhabitus, beziehungsweise des Rassenunterschiedes nach Einzelmerkmalen das Fundament der modernen rationellen Pflanzenzüchtung.

Dominanzregel

Machen wir uns nun in aller Kürze mit dem Inhalte der Mendel sehen Vererbungsgesetze vertraut. Der erste Hauptsatz derselben, die sogenannte Dominanzregel sagt uns, dass von zwei gewissermaßen in Konkurrenz tretenden Merkmalen der Eltern das eine sich als „dominierend" oder überwertig erweist, das ändere als „rezessiv" oder unterwertig.

Abbildung 4. Die Kreuzung zweier Pflanzen mit dem unterschiedlichen Merkmal "Farbe": Dominanz der braunen Farbe, Spaltung im gesetzmäßigen Verhältnis 3:1.

Kreuze ich weißsamigen Senf mit braunsamigen, so dominiert die braune Samenfarbe. Das rezessive Merkmal „weiß" ist in der ersten Generation (Filialgeneration 1: F1; Anm. Red.) scheinbar völlig verschwunden. Schütze ich diese Pflanzen gegen Fremdbestäubung, so dass nur Selbstbefruchtung eintreten kann, so gewinne ich wieder Samen, aus denen nun aber — im dritten Versuchsjahre — eine Mehrzahl von braunsamigen, aber auch weißsamige Individuen hervorgehen (Filialgeneration 1: F2; Anm. Red.). Zähle ich die Vertreter beider Gruppen, so erhalte ich — bei genügender Anzahl — sehr genau das Zahlenverhältnis 3 : 1 , d. h. unter durchschnittlich vier Individuen sind drei braunsamig und eines weißsamig, auf hundert gerechnet finden sich 75% braunsamige und 25 % weißsamige (Abbildung 4).

Spaltungsregel

An der zweiten Bastardgeneration ist also eine Aufteilung der elterlichen Merkmale, eine sogenannte Spaltung von ganz gesetzmäßiger Art eingetreten. Diese Erscheinung von Zwiespältigkeit in der zweiten Generation bildet den Inhalt des zweiten Hauptsatzes der Mendelschen Lehre, den Inhalt der sogenannten Spaltungsregel.

Nun lasse ich wieder durch Selbstbefruchtung Samenbildung eintreten und baue die Samen von jedem weiß- und braunsamigen Individuum der zweiten Bastardgeneration auf einem besonderen Beete nach. Da zeigt sich, dass die Nachkommenschaft, die dritte Bastardgeneration (F3), von einigen braunsamigen Individuen gleichförmig braun bleibt; eine Minderzahl der braunsamigen Bastarde zweiter Generation erweist sich also als bereits samenbeständig, als konstant. Und zwar lehrt mich eine genaue Nachzählung, dass dies gerade ein Drittel oder ca. 33 % ist- Die anderen zwei Drittel oder 66 % liefern hingegen braun- und weißsamige Nachkommen; sie „spalten", und zwar im gesetzmäßigen Zahlenverhältnisse 3:1. Die weißsamigen liefern hingegen völlig konstante Nachkommen. Das rezessive Merkmal war also in der ersten Generation zwar verschwunden, in der zweiten kehrte es aber wieder und blieb sofort konstant. Das dominierende Merkmal bezeichnete die ganze erste Generation, ebenso die Mehrzahl der zweiten Generation, blieb aber nur zu einem Drittel der Individuen konstant (Abbildung 4).

Viele Pflanzen und Tiere "mendeln"

Die hiermit geschilderte gesetzmäßige Vererbungsweise wird als der Mendelsche „ Erbsentypus" bezeichnet, da sich sehr viele Eigenschaften, durch welche sich die vielen Erbsenrassen voneinander unterscheiden, genau ebenso verhalten wie das Merkmalpaar: Braun- und Weißsamigkeit beim Senf.

Aber auch von sehr zahlreichen anderen Pflanzen finden wir Merkmale, die typisch „mendeln" — wie man heute schon allgemein zu sagen pflegt. Solche Merkmale konstatierte ich unter anderen an Erbsen und Bohnen, an den Getreidearten, an Rüben, Möhren und Radieschen, an Senfarten, an Levkojen, Verbenen, Primeln, am Löwenmaul, Gauchheil, Leinarten, Petunien. Auch für zahlreiche Tiere gelten die Mendelschen Gesetze. Einschlägige Kreuzungsversuche wurden bisher hauptsächlich an Mäusen, Ratten, Kaninchen, Meerschweinchen, Kühen, Schafen, Pferden, Katzen, Kanarienvögeln, Tauben, Hühnern, Seidenraupen, Schmetterlingen, Schnecken und Axolotln vorgenommen. Eine große Menge solcher Einzeluntersuchungen sind in allen Weltteilen von Botanikern, Landwirten, Zoologen und Tierzüchtern in Angriff genommen worden, auch die wissenschaftlichen Abteilungen zahlreicher landwirtschaftlicher und gärtnerischer Kongresse und Ausstellungen stehen heute schon im Zeichen des Mendelismus.

Auf die Frage, was denn darüber entscheidet, ob ein Merkmal dominiert oder rezessiv ist, kann heute noch keine befriedigende Antwort gegeben werden. Nur für die Mehrzahl der Fälle lässt sich etwa die Regel ableiten, dass das stammesgeschichtlich ältere Merkmal dem jüngeren überlegen ist, ferner die einfachere Ausbildung der komplizierteren, das Normale dem Abnormen — doch steht dieser Regel eine ganze Anzahl entgegengesetzter Fälle gegenüber.

Eine Erklärung des charakteristischen Spaltungsverhältnisses 3 : 1 hat bereits Mendel in scharfsinnigster Weise gegeben. Er machte nämlich die seither mehr und mehr erhärtete Annahme, dass die Bastarde erster Generation ihr sichtbares dominantes und ihr unsichtbares rezessives Merkmal auf die von ihnen gebildeten Fortpflanzungszellen sozusagen verteilen, also zwei Arten von verschieden veranlagten Fortpflanzungszellen, und zwar in gleicher Anzahl bilden.

Die Unabhängigkeitsregel - Vererbung mehrerer Merkmale führt zu "Neuheiten"

Praktische Wichtigkeit haben erst die Fälle, in welchen mehrere Paare von Merkmalen nebeneinander stehen, weil dann neue Kombinationen der in den beiden Eltern gegebenen Merkmale resultieren.

So erhalten wir bei Kreuzung einer niedrigen, grünhülsigen Bohnenrasse mit einer hohen, gelbhülsigen in der ersten Generation durchwegs hohe Individuen mit grünen Hülsen. In der zweiten Generation kehren aber bei der Spaltung nicht bloß die elterlichen Merkmalkombinationen wieder, sondern es treten auch die weiteren zwei möglichen Kombinationen, niedrig mit gelben Hülsen und hoch mit grünen Hülsen, auf. Auch hier gelten wieder gesetzmäßige Zahlen: es verhält sich grünhülsig-hoch zu grünhülsig-niedrig: gelbhülsig-hoch: gelbhülsig-niedrig wie 9:3:3:1. Von jenen 9 ist nur 1 Individuum weiterhin konstant, 8 spalten noch, von den je dreien eines konstant, 2 Spalter, nur die Kombination der beiden rezessiven gelb und niedrig ist sofort und durchwegs samenbeständig. Durch sorgfältige Auswahl nach Individuen können wir also konstante Vertreter von 2 neuen Kombinationen erhalten — also durch Kreuzung sogenannte „Neuheiten" züchten. Benützen wir Elternsamen von dreifacher Verschiedenheit, so erhalten wir gar 8 Kombinationen, bei vier Paaren konkurrierender Merkmale 16 usw.

Intermediärformen

Allerdings müssen wir noch einige weitere komplizierende Zusätze mit in Kauf nehmen. Der Mendelsche Erbsentypus, wie ich ihn früher geschildert habe, besitzt wohl für sehr viele Rassenmerkmale Gültigkeit — es gibt aber doch auch nicht wenige Eigenschaften, für welche andere Vererbungstypen gelten. Ich spreche hier zunächst von solchen, welche dem Mendelschen Schema nahe verwandt sind, indem auch bei ihnen die erste Generation gleichförmig gestaltet ist, die zweite hingegen Spaltung aufweist.

Die Abweichung vom Mendelschen Erbsenschema ist nun dadurch gegeben, daß die Bastarde erster Generation wirkliche Merkmalmischung aufweisen und daß auch die Spaltung in der zweiten Generation Zwischenformen produziert, also als eine unreine zu bezeichnen ist. Der einfachste dieser Vererbungstypen ist der sogenannte „Maistypus", charakterisiert durch Merkmalmischung in der ersten Generation und Spaltung in konstantbleibende Vertreter des einen und des anderen reinen Merkmales einerseits, in weiter spaltende Intermediärformen anderseits nach dem Verhältnis M1 : Intermediäre : M2 = 1 : 2 : 1 . Die Merkmale zeigen eben in diesem Falle keine gegenseitige Exklusion und gleiche Wertigkeit. Ein Beispiel für diesen Typus gibt die Kreuzung einer weißen und einer roten Rasse der Wunderblume.

Die erste Generation ist rosa, die zweite zeigt weiß, rosa und rot im Verhältnisse 1 : 2 : 1 . Die rosafarbigen Individuen sind nicht konstant zu züchten. Besonders häufig scheint dieser Typus für physiologische Merkmale zu gelten, z. B. für Frühreife und Spätreife. Auf eine Reihe ähnlicher, aber komplizierter Fälle kann hier bloß hingewiesen werden.

Für die praktische züchterische Verwertung

der oben skizzierten Mendelschen Vererbungslehre lassen sich, nachstehende Regeln formulieren

  1. Der Rassenunterschied ist nach einzelnen Merkmalen zu analysieren und für jedes Paar von einzelnen Merkmalen, von denen je eines in eine neue Kombination gebracht werden soll, ist die gesetzmäßige Wertigkeit oder das Vererbungsschema besonders festzustellen. Über die Wertigkeit der einzelnen Charaktere, ob dominierend, rezessiv oder intermediär, belehrt uns das Aussehen der gleichmäßigen ersten Generation, welche in einer verhältnismäßig großen Zahl von Individuen beobachtet werden soll.
  2. Die mehrgestaltige zweite Generation ist in möglichst großer Zahl anzubauen, um nach Tunlichkeit alle möglichen Merkmalskombinationen behufs Auswahl der gewünschten zu erhalten — eventuell auch, um das Spaltungsverhältnis festzustellen. Die einzelnen Individuen sind, wenn nötig, vor Fremdbestäubung zu schützen — eine allerdings oft schwer zu erfüllende Forderung. Unter den Individuen gleicher Form darf hier nicht sofort eine Auswahl getroffen werden, da die bereits konstanten von den noch nicht samenbeständigen nicht äußerlich unterscheidbar sind.
  3. Der Samenertrag ist, mit Ausnahme der ersten Generation, nicht promiscue, sondern nur nach einzelnen Individuen gesondert zu ernten und weiter zu bauen, sonst werden die bereits konstanten Individuen nicht herausgefunden oder wieder verunreinigt. Gerade in diesem Punkte hat die ältere Kreuzungszüchtung am meisten gefehlt. Die erste Generation dient wesentlich der primitiven Wertigkeitsbestimmung, die zweite der Produktion neuer Kombinationen, die dritte, eventuell vierte der Prüfung einzelner Individuen von gewünschter Form auf Samenbeständigkeit. Dieser Prüfungsanbau soll in möglichst großer Zahl und wenn nötig unter Schutz vor Fremdbestäubung erfolgen. Es müssen nämlich die einzelnen Individuen der zweiten Generation erst durch gesonderte Beobachtung ihrer Nachkommenschaft, also in dritter Generation auf ihre Samenbeständigkeit geprüft werden. Die konstant befundenen Individuen stellten dann die Stammeltern der neugewonnenen Formen dar. Es ist demnach ohne weiters ersichtlich, um wieviel schwieriger die Züchtung neuer Rassen bei solchen Pflanzen ist, welche ganz oder wenigstens fast selbststeril, also auf Fremdbestäubung angewiesen sind, so z. B. beim Roggen.

Unter Anwendung dieser Grundsätze habe ich seit einer Reihe von Jahren umfangreiche Versuche unternommen, um die Wertigkeit für die einzelnen Merkmale gerade bei landwirtschaftlichen Kulturgewächsen systematisch zu bestimmen und zur Züchtung neuer, wünschenswerter Kombinationen auszunützen.

Die bisher erörterten Gesetzmäßigkeiten betreffen die an zwei Rassen deutlich und konstant ausgeprägten Unterscheidungsmerkmale. Ein ähnliches regelrechtes Verhalten hat sich aber auch für eine ganze Anzahl von eigentlichen Kreuzungsneuheiten ergeben, also für solche neuauftretende Merkmale, welche an der bei Inzucht völlig konstanten Vater- oder Muttersorte nicht sichtbar sind. Allerdings dürfte der eine Elter oder gar beide diese Merkmale vorgebildet im latenten Zustande enthalten.

Die Forschungen der letzten Jahre haben uns eine Reihe solcher Rassen kennen gelehrt, welche bei Inzucht völlig konstant sind, bei Fremdkreuzung jedoch in gesetzmäßiger Weise Nova produzieren, die teils als Atavismus, teils als Kreuzungsnova im engeren Sinne aufzufassen sind. Sie seien „kryptomere" Rassen genannt.

Aber nicht bloß hervortreten kann ein neues Merkmal im Anschluß an Kreuzung, ein bisher manifestes kann auch äußerlich verschwinden. In all diesen Fällen erweist sich die Fremdkreuzung in Analogie zur Spontanmutation und im Gegensatze zur Selektion als imstande, den Zustand der Merkmale entweder in aufsteigender oder in absteigender Richtung zu verändern; die Hybridisation erscheint somit als ein wichtiger Faktor für die Neubildung pflanzlicher und tierischer Formen, für die Erzeugung von Hybridmutation. Die hierher gehörigen Beobachtungen bedeuten eine wesentliche Ergänzung der seinerzeit von Mendel erhobenen Befunde.

Damit ist aber die mögliche und die bereits erwiesene Komplikation auf unserem Gebiete noch immer nicht erschöpft. Schon Mendel konstatierte, daß nicht alle Merkmalspaare spalten, sondern, dass es auch Bastarde gibt, die sofort durchwegs konstant bleiben. Auch gibt es Kreuzungsfälle, in denen die einen Merkmale „mendeln", die anderen jedoch nicht mehr spalten.

So scheint den von Mendel entdeckten Vererbungsregeln auch eine besondere, geradezu differentialdiagnostische Bedeutung für die Unterscheidung von Varietäten und Arten zuzukommen. Für die Lehre von der Abstammung der Pflanzenformen voneinander eröffnet sich damit ein neuer Weg, der exakte Versuche, nicht gewagte Spekulationen erfordert, aber auch zuverlässige, wertvolle Ausbeute verspricht.


*Die sogenannte Wiederentdeckung der Mendelschen Regeln, die angeblich parallel und voneinander unabhängig durch den deutschen Botaniker Carl Correns, den niederländischen Botaniker Hugo deVries und Erich Tschermak erfolgte, wird heute von den Wissenschaftshistorikern bezweifelt. Die Wissenschafter dürften damals sowohl Mendels Arbeit gekannt haben, als auch von ihren jeweiligen Aktivitäten gewusst haben.

[1] Gregor Mendel (1865) " Versuche über Pflanzen-Hybriden" http://www.mendelweb.org/MWGerText.html
[2] Tschermak Erich von Univ.-Prof. Dr. (1908): Die Mendelschen Vererbungsgesetze. — Schriften des Vereines zur Verbreitung naturwissenschaftlicher Kenntnisse in Wien 48: 145-164. http://www.zobodat.at/pdf/SVVNWK_48_0145-0164.pdf
[3] siehe: Die Erde ist ein großes chemisches Laboratorium – wie Gustav Tschermak vor 150 Jahren den Kohlenstoffkreislauf beschrieb. http://scienceblog.at/kreislauf-des-kohlenstoffes.


Weiterführende Links

Mendel s Arbeiten haben den Grundstein zur modernen Genetik gelegt. Mit den Methoden der Molekularbiologie lassen sich die Mendelschen Regeln erklären: von den Genen, die den Genotp prägen zu den davon kodierten Proteinen, die zu den beobachtbaren Merkmalen (dem Phänotyp) führen.

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