Themenschwerpunkt: Sinneswahrnehmung — Unser Bild der Aussenwelt

Fr, 25.04.2014 - 06:35 — Redaktion

Icon Gehirn

Zur Wahrnehmung der Außenwelt haben Lebewesen im Laufe der Evolution Sinnesorgane entwickelt und diese an die jeweiligen Gegebenheiten adaptiert, um ihre vitalen Bedürfnisse in entsprechender Weise zu decken und sich situationsgerecht zu verhalten.

Unsere Sinne

Bereits Aristoteles hatte die Wahrnehmung der Außenwelt (aisthesis) in fünf Kategorien – die klassischen fünf Sinne – eingeteilt: Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Fühlen. Licht, Schall, chemische und mechanische Reize der Außenwelt werden über spezifische Sensoren - Rezeptoren – von spezialisierten Zellen unserer Sinnesorgane Augen, Ohren, Haut, Nase und Zunge wahrgenommen, in elektrische Signale umgewandelt und über Nervenfasern in das zentrale Nervensystem, das Gehirn, weitergeleitet. Hinsichtlich des Fühlens sind in unserem größten Sinnesorgan, der Haut, unterschiedliche Typen von Rezeptoren lokalisiert, welche durch Berührung, Temperatur oder Schmerz angenehme und unangenehme Empfindungen auslösen und bereits im frühesten Alter die Welt „begreifbar“ machen. Aus dem Tierreich ist überdies auch die Wahrnehmung elektrischer Felder (bei verschiedenen Fischen/Meerestieren) und Magnetfelder (nicht nur bei Zugvögeln) bekannt.

Die 5 SinneAbbildung 1. Die 5 Sinne. Der Sinneseindruck Geschmack resultiert häufig aus einem sehr raschen Zusammenspiel von Neuronen, die in unterschiedlichen Regionen der Hirnrinde Geschmack, Geruch, Haptik und Temperatur der Nahrung prozessieren.

Im Gehirn werden die eintreffenden Informationen in entsprechenden Regionen der Hirnrinde gefiltert und einem konstruktiven Prozess unterworfen, der sie auf Grund von genetisch tradiertem Wissen, erfahrungsabhängiger Entwicklung (epigenetischer Überformung) analysiert, neu sortiert und bewertet [1]. Dies erfolgt in hochkomplexen raum-zeitlichen Erregungsmustern, an denen Netzwerke enorm vieler Nervenzellen aus unterschiedlichsten Gehirnregionen beteiligt sind (Abbildung 1).

Die „untere Ebene“ der Sinneswahrnehmung

Der primäre Schritt im Prozess der Sinneswahrnehmung – wie Reize aus der Außenwelt mit den Rezeptoren der Sinnesorgane wechselwirken und, von Nervenzellen in elektrische Impulse umgewandelt, weitergeleitet werden – ist zum großen Teil gut verstanden. Vorwiegend mit diesen molekularen Grundlagen der „unteren Ebene“ der Wahrnehmung beschäftigen sich die Artikel, die wir nun im Themenschwerpunkt „Sinneswahrnehmungen“ zusammenfassen (Tabelle), und durch weitere Aspekte aus dem „Reich der Sinne“ laufend ergänzen werden.

Kapitel Autor Titel
Rezeptoren Inge Schuster Wie wir die Welt um uns herum wahrnehmen — Membran-Rezeptoren als biologische Sensoren
Sehen Walter Gehring Auge um Auge — Entwicklung und Evolution des Auges
Gottfried Schatz Wie «unsichtbarer Hunger» die Menschheit bedroht
Riechen, Schmecken Wolfgang Knoll Die biomimetische künstliche Nase – wie weit sind wir? Teil 1: Künstliche Sensoren nach dem natürlichen Vorbild unserer fünf Sinne Sehen und Hören
Die biomimetische künstliche Nase – wie weit sind wir? Teil 2. Aufbau und Funktion physiologischer Geruchssensoren
Die biomimetische künstliche Nase – wie weit sind wir? Teil 3: Konstruktion einer biomimetischen Nase
Gottfried Schatz Meine Welt — Warum sich über Geschmack nicht streiten lässt
Magnetsinn Gottfried Schatz Geheimnisvolle Sinne — Wie Lebewesen auf ihren Reisen das Magnetfeld der Erde messen
Schmerz Gottfried Schatz Grausamer Hüter — Wie uns Schmerz schützt – oder sinnlos quält

Tabelle 1. Themenschwerpunkt: Sinneswahrnehmung

„Mittlere Ebene“ der Sinneswahrnehmung

Wenn auch der Aufbau von Nervenzellen und die Mechanismen der Signalübertragung von niedrigen wirbellosen Tieren bis hin zum Menschen gleich geblieben sind, so hat sich die „mittlere Ebene“ der Wahrnehmung, die Signalverarbeitung, ungleich komplexer entwickelt.

Das menschliche Gehirn ist ein sich selbst organisierendes System aus rund 100 Milliarden Nervenzellen -von denen jede Zelle wieder mit Tausenden anderen Nervenzellen in direktem Kontakt steht -, die temporär zu funktionellen Einheiten zusammentreten. Die Vernetzung zwischen den Zellen hängt auch von der lokalen Verfügbarkeit sogenannter Neurotransmitter ab, mittels derer Zellen miteinander kommunizieren. Wie hier neuronale Netzwerke funktionieren um kohärente Aktivitätsmuster herauszubilden, die uns Modelle der wahrgenommenen Realität präsentieren, ist seit rund 20 Jahren Gegenstand intensiver neurowissenschaftlicher Forschung; Neurobiologie ist zu einer Leitwissenschaft unserer Zeit geworden [1].

Das Manifest der Hirnforschung

Vor zehn Jahren haben elf führende deutsche Gehirnforscher ein Manifest verfasst, in welchem sie die Grenzen ihrer Forschung aber auch die Fortschritte, die sie darin erhofften, zu optimistisch darstellten [2]. Tatsächlich existieren heute zur Frage, wie ein kohärentes Bild der Welt um uns herum erhalten wird (Bindungsproblem), zwar Hypothesen, aber noch keine Konsens-fähige Antwort. Seit kurzem kommt die Rechenleistung der Super-Computer nun an die Rechenleistung von unserem Gehirn heran – ein Nachbilden komplexer Gehirnprozesse auf dem Computer mittels mathematischer Modelle wird damit möglich.

Nach wie vor sind sehr viele Aspekte ungeklärt, von erkenntnistheoretischen Fragen (Was ist Bewusstsein, was das Ich?), bis hin zu den gezielten Behandlungsmöglichkeiten von neurodegenerativen Erkrankungen, die man auf Grund der Kenntnis von deren molekularbiologischen, genetischen Grundlagen erwartet hatte [3].

Zum 10-Jahres Jubiläum des Manifests ist kürzlich das Buch "Kann das Gehirn das Gehirn verstehen?" erschienen in welchem der Autor Matthias Eckoldt u.a. die Mehrzahl der am Manifest beiteiligten Wissenschafter interviewt und damit nicht nur den aktuellen Stand der Neurowissenschaft und ihrer Probleme von der Warte unterschiedlicher kompetenter Meinungen aufzeigt, sondern auch eine Brücke zur Philosophie baut [4, 5].


Zu einigen Aspekten der „mittleren Ebene“ der Sinneswahrnehmung erscheinen demnächst Artikel in ScienceBlog.at.


[1] Wolf Singer : "In unserem Kopf geht es anders zu, als es uns scheint" Video 2013 (© 2013 www.dasGehirn.info) 20:26 min
http://www.youtube.com/watch?v=pHV7qTISDTQ

[2] Das Manifest - Elf führende Neurowissenschaftler über Gegenwart und Zukunft der Hirnforschung (2004) http://www.gehirn-und-geist.de/alias/hirnforschung-im-21-jahrhundert/das...

[3] Scobel: Enttäuschte Hoffnungen: Video (3. April 2014)  57:34 min http://www.3sat.de/mediathek/?mode=play&obj=42785

[4] Matthias Eckoldt : „ Kann das Gehirn das Gehirn verstehen?“( 2014). http://www.carl-auer.de/programm/978-3-8497-0002-7. Daraus eine Leserprobe: https://www.carl-auer.de/pdf/leseprobe/978-3-8497-0002-7.pdf

[5] Scobel: Besprechung von: „ Kann das Gehirn das Gehirn verstehen?“ Video (3. April 2014) 2:33 min. http://www.3sat.de/mediathek/?mode=play&obj=42811


Weiterführende Links

www.dasGehirn.info (ein Projekt der Gemeinnützigen Hertie-Stiftung und der Neurowissenschaftlichen Gesellschaft e.V. in Zusammenarbeit mit dem ZKM | Zentrum für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe) hat sich zum Ziel gesetzt, das Gehirn, seine Funktionen und seine Bedeutung für unser Fühlen, Denken und Handeln darzustellen – umfassend, verständlich, attraktiv und anschaulich in Wort, Bild und Ton:

Kosmos Gehirn: eine von der Neurowissenschaftlichen Gesellschaft (http://nwg.glia.mdc-berlin.de/de) herausgegebene, reich bebilderte Broschüre, in der renommierte Experten in umfassender, leicht verständlicher Form Aufbau, Entwicklung, Funktion (darunter auch die Rolle in den Sinnesempfindungen: „Im Reich der Sinne“ ) und Erkrankungen des Gehirns darstellen (134 p, free download): http://nwg.glia.mdc-berlin.de/media/pdf/kosmos-gehirn.pdf

Wolf Singer: vom Bild zur Wahrnehmung Video (2012) 2:03:05 (Wie man vom Bild auf der Netzhaut zur Sinneswahrnehmung kommt.) http://www.youtube.com/watch?v=5YM0oTXtYFM&list=PLc6DBeqxu-DGAGg1J4UeEIL...

Humberto Maturana und Francisco Varela: Der Baum der Erkenntnis. Die biologischen Wurzeln menschlichen Erkennens. (Übersetzung von: El árbol del conocimiento.1984, 1987.) Frankfurt 2010. ISBN 978-3-596-17855-1. U.a. Die autopoietische Funktion (Selbstorganisation) des Nervensystems, das Milieu löst seine Reaktion aus, determiniert sie aber nicht.