Popularisierung der Naturwissenschaften im 19. Jahrhundert

Fr, 26.12.2014 - 09:06 — Redaktion

Icon WissenschaftsgeschichteDer hundertste Todestag von Eduard Suess (1831 – 1914) bot heuer vielfach Gelegenheit das grandiose Lebenswerk dieses Mannes zu würdigen: dem Paläontologen und Geologen Suess verdanken wir grundlegende Erkenntnisse zur Tektonik der Erdoberfläche (Gebirgsfaltung, Gondwanaland, Thetys). Auf den Politiker Suess gehen u.a. Planung und Bau der Wiener Hochquellenwasserleitung und die Donauregulierung zurück. Der Wissenschaftskommunikator Suess und seine von Erfolg gekrönten Bemühungen zur Popularisierung der Naturwissenschaften sind dagegen kaum bekannt.

Eduard Suess: Verein zur Verbreitung naturwissenschaftlicher Kenntnisse

Suess war maßgeblich an der Gründung des auch heute noch existierenden „Vereins zur Verbreitung naturwissenschaftlicher Kenntnisse“ im Jahre 1860 beteiligt und dessen erster Präsident [1,2]. Im Rahmen dieses Vereins wurden frei zugängliche, populäre Vorträge gehalten; laut Suess (s.u.) waren diese „lediglich naturwissenschaftlichen Fächern entnommen, der Kreis von Vortragenden hat fast ausschließlich aus jüngeren Fachmännern bestanden“. Diese Vorträge – aufgezeichnet in bis dato 152 Jahrbüchern des Vereins – geben einen faszinierenden Einblick in den Fortschritt der Naturwissenschaften in unserem Land.

Mehrere Artikel hat der ausgezeichnete Vortragende und als Lehrer hochgeschätzte Eduard Suess selbst beigesteuert. Wäre Eduard Suess unser Zeitgenosse, hätte er - in Hinblick auf die Reichweite - wahrscheinlich auch eine digitale Form der Kommunikation, vielleicht in Form eines Blog, gewählt.

Eduard Sueß 1869Abbildung 1. Eduard Suess 1869 (Bild: Wikipedia)

Im Folgenden findet sich die Rede, die Suess am 15.1.1860 anlässlich der Gründungsversammlung des Vereins zur Verbreitung naturwissenschaftlicher Kenntnisse gehalten hat [3]. Die ursprüngliche Schreibweise wurde beibehalten.

Eduard Suess: Ueber die Entstehung und die Aufgabe des Vereines

»Gestatten Sie mir, im Namen seiner Begründer den heute zum ersten Male versammelten

„Verein zur Verbreitung naturwissenschaftlicher Kenntnisse"

herzlich zu begrüssen. Den verschiedenartigsten Lebensstellungen angehörig, haben Sie Sich auf unsere Einladung hin vereinigt, um Ihre Zustimmung auszusprechen zu unseren Bemühungen, die neueren Erfahrungen der Naturforschung einem weiteren Kreise bekannt zu geben und den durch ihren Beruf den strengeren Studien ferner Stehenden einen Einblick zu öffnen in jene wunderbarsten und unvergänglichsten Eroberungen des menschlichen Geistes, welche die stolze Zierde unseres Jahrhunderts ausmachen.

Lassen Sie mich zuerst die durch die heutige Versammlung erwiesene Thatsache aussprechen, dass es in Wien auch ausserhalb der gelehrten Gesellschaften eine grosse Anzahl von Männern gibt, welche den Werth naturwissenschaftlicher Forschung erkennen. Ueberflüssig wäre es hinzuzufügen, wie bedeutungsvoll und wie hoch erfreulich diese Thatsache sei und so schreite ich denn sogleich daran, einige Worte von der Entstehung und von der Aufgabe dieses neuen Vereines zu sagen.

Populäre Vorlesungen gab es bereits an vielen Orten Deutschlands

Vor einigen Jahren sah man in vielen Städten Deutschlands Fachmänner sich vereinigen, um populäre Vorlesungen abzuhalten. In mehreren Orten haben sie ein wissbegieriges Publikum gefunden, welches durch seine Aufmerksamkeit ihre Anstrengungen belohnte und haben diese Vorlesungen in jedem Winter, bis zum diesjährigen, ihre Fortsetzung gefunden. Sie sind dabei, anfangs eine neue und fremdartige Erscheinung, zu einem nicht unwesentlichen Momente in dem geistigen Leben dieser Bevölkerungen geworden. Mit den Jahren haben sie in den verschiedenen Städten einen etwas verschiedenen localen Charakter angenommen. Während z. B. Königsberg sich rühmen mag, in einzelnen seiner Vorträge neue Anschauungen über die ersten Weltgesetze ausgesprochen gehört zu haben, sind jene in München mit allem Glanze hochberühmter Namen und eines königlichen Mäcenatenthumes umgeben worden.

Montagsvorlesungen seit dem Herbste 1855 – Vorläufer des Vereins

Auch in unserem Kreise ist mancher neue Gedanke ausgesprochen und manches schöne Ergebniss zum ersten Male vorgelegt worden, auch bei uns hat sich mancher hochgeachtete Staatsmann als ein Zuhörer eingefunden; unser erstes Ziel ist aber stets nur das gewesen, zu belehren. Unsere Vorträge sind lediglich naturwissenschaftlichen Fächern entnommen gewesen-, der Kreis von Vortragenden hat fast ausschliesslich aus jüngeren Fachmännern bestanden, aber Ihre Aufmerksamkeit und Ihr Beifall haben uns gelehrt, dass wir in der Erfüllung unserer Aufgabe glücklich waren.

Seit dem Herbste 1855 bis zum heutigen Tage sind nahe an neunzig öffentliche Vorträge von uns gehalten worden, und da in den letzten Jahren die Zahl der Zuhörer nie weit unter 200 fiel, dürfen wir wohl annehmen, dass es uns auch in der That gelungen sei, einige Belehrung zu verbreiten.

Die ersten Vorträge fanden im Winter 1855/6 auf Anregung unsers unvergesslichen Grailich, im Saale der k. k. geol. Reichsanstalt auf der Landstrasse statt. Im Winter 1856/7 pflegte der uns so freundlich angebotene Saal bereits trotz seiner entfernten Lage so überfüllt zu sein, dass wir bedacht sein mussten, ein grösseres Locale zu beschaffen.

Im Herbste 1857 öffnete uns die k. Akademie der Wissenschaften auf den Vorschlag ihres Präsidenten Sr. Excellenz des Freiherrn von Baumgartner in dem 2. Stockwerke ihres eben bezogenen Gebäudes mit grösster Liberalität einen bei weitem geräumigeren Saal. Drei Winter hindurch fanden hier unsere Zusammenkünfte statt, aber auch hier ereignete es sich nicht selten, dass die Zahl der Zuhörer auf mehrere Hundert stieg und nicht Platz finden konnte. Im Laufe dieses Winters endlich hat die k. Akademie, stets die wärmste Förderin unseres Unternehmens, uns einen noch grösseren, den sogenannten grünen Saal geöffnet, in welchem unsere Vorlesungen jetzt stattfinden.

Gründung des Vereins

Bei so steigender Theilnahme hat es der diesjährige Kreis von Vortragenden für seine Pflicht gehalten, Vorkehrungen zu treffen, welche dem Unternehmen eine Dauer für die Zukunft und zugleich eine ausgiebigere Wirksamkeit sichern sollten. Am 4. November vereinigten wir uns, um eine Eingabe an die Behörde um die Bewilligung zur Errichtung dieses Vereines zu unterzeichnen. Am 4. März erfloss die kaiserliche Genehmigung unserer Bitte, am 15. April die endgiltige Gutheissung unserer Statuten.

Binnen weniger als einem Monate ist der neue Verein zu der zahlreichen Versammlung herangewachsen, welche Sie um Sich sehen [4]. Es ist ein neues Centrum geistiger Thätigkeit geschaffen. Lassen Sie mich von dem sprechen, was mir als seine Aufgabe vorschwebt.

Sie Alle gewiss, verehrte Anwesende, freuen sich der besseren Jahreszeit und des grünen Rasens und der wundervollen Schattirungen des Laubholzes. Manchen tragen seine Träume weiter. Er erinnert sich des nahen Hochgebirges und der Schönheiten, die es birgt und mit Entzücken gedenkt er des Tages, an welchem er zuerst seinen Fuss auf eine jener Hochspitzen setzte, unter denen die Länder ausgebreitet liegen wie eine Landkarte. Das Auge weitgeöffnet, um das grenzenlose Bild zu umfassen, die Brust erfüllt von der reineren Luft der Höhen und gehoben durch das Bewusstsein überstandener Mühen, lässt der Wanderer tief in seine Seele den Eindruck so vieler Pracht sich senken und spricht leise: Wie schön!

Das, verehrte Anwesende, ist die unmittelbare Freude an der Schöpfung, zu welcher es weiterer Kenntnisse eben nicht bedarf. Wer sich jedoch mit einiger Ausdauer dem Studium der Naturwissenschaften hingibt, lernt bald ein ähnliches Entzücken an Bildern gemessen, welche er nicht sinnlich wahrzunehmen, sondern nur aus seinen Erfahrungen zu construiren weiss. Und von dem Augenblicke an, in welchem die Seele für Freuden dieser Art empfänglich geworden, ist das Studium für ihn nichts mehr, als eine ununterbrochene Reihe der reinsten und beneidenswerthesten Genüsse; von der Bewunderung der Aussenwelt kehrt er befriedigt zurück zu der Bewunderung des menschlichen Geistes, der sie so weit zu durchdenken im Stande ist.

Wir vermögen nicht, Ihnen an Winterabenden den unmittelbaren Naturgenuss einer schönen Landschaft herzuzaubern, aber wir nehmen die einzelnen Theile aus dem Bilde und lehren Sie dieselben besser zu betrachten. Der Bau des Gebirges, auf welchem Sie gestanden, die Organisation der Pflanzen, die Sie auf demselben trafen, selbst die Luftströmungen, die Sie empfanden, ja sogar die Natur der erleuchtenden Sonne, solches sind die Gegenstände unserer Vorträge und wenn Sie nach diesen im Sommer wieder hinaustreten in die offene Natur, dann hat sich, so hoffen wir, zu Ihrer früheren Freude auch ein etwas höherer Grad von Verständniss gesellt, Sie wissen der Natur tiefer in ihr grünes Auge zu schauen und die grössere Innigkeit Ihres Entzückens lehrt Sie, wie schön der Beruf des Naturforschers sei.

Es ist etwas Eigenthümliches um diesen Beruf

Ein glücklicher Gedanke in einem hellen Kopfe lehrt die Menschheit Worte fliegen zu lassen längs einem Drahte mit einer Geschwindigkeit von mehreren tausend Meilen in der Sekunde. Ein glücklicher Gedanke dort, und es ist uns das Mittel gegeben, den ungreifbaren Sonnenstrahl zu zerlegen und mit Hilfe von Lichterscheinungen neue Stoffe zu erkennen, deren Vorhandensein die zartesten Reagentien nicht verrathen hatten. Mühsam beobachtet am Mikroskope ein Forscher die Sexualorgane der Pflanzen, bis er uns endlich beweist, dass die Fortpflanzungserscheinungen bei ihnen auf eine wunderbare Weise mit den Vorgängen im Thierreiche übereinstimmen. Ein Anderer zeigt Ihnen aus dem Vergleiche langer Beobachtungstabellen, dass ein innerer Zusammenhang bestehe zwischen den Flecken auf der Sonne und dem Nordlichte. Ein Dritter lehrt Sie mit einem Male alle die über die Organisation, die Verbreitung und die Vergangenheit lebender Wesen gesammelten Erfahrungen von einem neuen Standpunkte aus betrachten und regt in einer einzigen Schrift hunderte von Fragen an, welche, neue Fragen gebärend, noch manche Generation nach uns beschäftigen werden.

Wie der Wanderer vom Berge aus seinen Blick über Berge, Thäler und Ebene schweifen lässt und Fluss, Wald und Ortschaften unter sich erkennt, so gewöhnt sich der Geist, über den ganzen Planeten hinzublicken, über die vielgestaltige Pflanzendecke des Erdballes und alles Leben, das da pulsirt von den Polen bis in die Tropenwälder. In die entferntesten Epochen einer unmessbaren Vergangenheit senkt er seine durchdringenden Gedanken und mit seinem unwiderstehlichsten Instrumente, der Mathematik, verfolgt er die Bahnen der Welten.

Und nun frage ich Sie, verehrte Anwesende, welche Lehre geeigneter sein könnte dem Menschen die ganze Erhabenheit der Stellung zu zeigen, die ihm in dieser Schöpfung angewiesen ist. Er fühlt sich der Herr. Auf einen Ossa von Erfahrungen träumt er einen Pelion von Vernunftschlüssen zu thürmen und dünkt sich der wahre, titanische Sohn der alten Mutter Gaia, bis endlich sein Blick die Nebel von Weltsystemen trifft, die um ihn kreisen und er gedemüthigt zurücksinkt.

Diese gewaltigen Schwankungen der Seele sind es, welche einen der höchsten Momente der Anregung in unserer Wissenschaft bilden. Das Gleichgewicht, das endlich folgt, erklärt Ihnen die grenzenlose Begeisterung und zugleich die ruhige Hingebung von welchen Hunderte von Naturforschern in unsern Tagen Zeugniss geben. Denken Sie an die Grossthaten arktischer Reisender und fragen Sie Sich dann, ob die Weltgeschichte irgend eine Heldenthat kenne, der dieses ruhige Eintreten in die Gefahren sich nicht vergleichen lässt.

Von der Ostküste des tropischen Amerika's fliesst ein mächtiger Strom warmen Wassers, der Golfstrom, Europa zu und einen Theil unserer Westküsten bespülend, erwärmt er unser Klima und befeuchtet er unsere Landschaften. Auf seinem Wege umfiiesst er die Halbinsel Florida, welche aus Korallenbildungen besteht. Millionen winziger Korallenthierchen vermehren heute noch fort und fort den Saum der Halbinsel und jedes einzelne Individuum trägt unbewusst sein Atom dazu bei, um dem Golfstrom eine andere Richtung zu geben und jenseits des Ocean's das Klima von Europa zu beeinflussen. So werden oft in der Natur durch kleine Kräfte grosse Wirkungen hervorgebracht. Mit Bewusstsein aber strebt nur der Mensch grossen Zielen nach.

Lassen Sie uns, die wir jung sind, glauben, dass unsere Ziele grosse seien, wie unser Object sicher ein grosses ist.

Ja, gross ist diese Schöpfung und unerschöpflich sind ihre Wunder. Das Auge vermag nicht sie zu fassen, vergebens müht sich der Geist, um sie alle zu begreifen; wie soll die Lippe im Stande sein sie alle zu schildern? Einzelne Skizzen, flüchtige Scenen aus dem grossen, lebensvollen, ewigen All sind es, die wir im besten Falle Ihnen versprechen können.

Der feinere Geist findet den Zusammenhang der Fragmente und ahnt die harmonische Grossartigkeit des Ganzen. Ja und eben diesen erhebenden Gedanken an die ewige, unendliche und unveränderliche Gesetzmässigkeit des Kosmos hinauszutragen in's Volk, das ist's was ich als die Mission dieses Vereines erkenne. Mag die Theilnahme seiner Mitglieder, der Eifer seiner Ausschüsse, mag vor Allem gegenseitiges Vertrauen und gegenseitige Zuneigung, dieser wahre Lebensnerv jeder gesellschaftlichen Verbindung, ihn durchströmen und kräftigen und ihm eine würdige Rolle schaffen inmitten des allgemeineren Erwachens geistigen Lebens, welchem unser Vaterland endlich entgegengeht.«

[1] http://www.univie.ac.at/Verbreitung-naturwiss-Kenntnisse/

[2] http://www.adulteducation.at/de/historiografie/institutionen/419/

[3] Eduard Suess: Ueber die Entstehung und die Aufgabe des Vereins. http://www.landesmuseum.at/pdf_frei_remote/SVVNWK_1_0003-0014.pdf

[4] An der Gründungsversammlung haben 31 Mitglieder teilgenommen, davon waren rund 2/3 Beamte und (Hochschul)lehrer, dazu kamen Studenten, Fabrikanten, Kaufleute, Freischaffende und auch Handwerker. ( Karl Hornstein: Über den Stand der Mitgliederzahl und des Vereinsvermögens. http://www.landesmuseum.at/pdf_frei_remote/SVVNWK_1_0015-0020.pdf)


The Face of The Earth - The Legacy of Eduard Suess (4:16)

Wiener Vorlesungen: Eduard Suess (1:17:27)

Eduard Suess Ausstellung (2:00)