Do, 30.08.2012- 00:00 — Gottfried Schatz
Nichts warnt so eindringlich vor Gefahr wie akuter Schmerz, nichts kann so zerstörerisch wirken wie chronischer Schmerz, der seine Signal- und Warnfunktion verloren hat. Der Kampf gegen den Schmerz (und seine überkommenen soziokulturellen Sichtweisen) hat neue, mechanistisch basierte Ansatzpunkte gefunden, deren therapeutische Umsetzung plausibel erscheint.
Wir sehnen uns zeit unseres Lebens nach der Geborgenheit unserer Kindheit. Vielleicht hat Thomas Wolfe sein grosses Epos deswegen «Look Homeward, Angel» genannt. Wo ist mein Schutzengel geblieben, der mich einst behütete? Eltern und Lehrer, die ihn mir schenkten, haben ihn wohl mit sich ins Grab genommen. Dennoch bewahren mich auch heute noch unzählige winzige Hüter vor Gefahr. Es sind Sensoren meines Körpers, die mich sehen, hören, riechen, schmecken, fühlen – und Schmerz empfinden lassen.
Sensoren
Nichts warnt mich so eindringlich vor Gefahr wie der Schmerz. Er fällt mir in den Arm, wenn ich einen brühheissen Tee trinken, barfuss auf einen spitzen Stein treten oder ein gebrochenes Bein bewegen will. Und er lässt mich wissen, dass im Inneren meines Körpers etwas nicht im Lot sein könnte. Schmerz ist mein häufigster Grund für einen Arztbesuch. Die Schmerzsensoren an meiner Körperoberfläche sind dicht gesät, sprechen im Bruchteil einer Sekunde an und lassen mich den Schmerz millimetergenau orten. Die Sensoren meines Körperinneren reagieren viel langsamer. Sie sind zudem spärlicher gesät und sagen mir oft nicht genau, woher ein Schmerz kommt. Sie könnten mich sogar in die Irre führen und mir einen Herzschaden als harmlosen Schulterschmerz melden. Und mein Gehirn kann überhaupt keinen Schmerz empfinden.
Wer keinen Schmerz fühlt, lebt gefährlich – und oft kurz. Vor einigen Jahren entdeckten Ärzte im Norden Pakistans eine Gruppe verwandter Menschen, die keinen Schmerz kennen. Viele von ihnen hatten sich als Kinder einen Teil der Zunge abgebissen oder Glieder gebrochen, ohne es zu bemerken. Und ein Knabe verdiente seinen Lebensunterhalt damit, vor Zuschauern über glühende Kohlen zu laufen oder sich ein Messer in den Arm zu stechen. Er starb, als er kurz vor seinem 14. Geburtstag von einem Hausdach sprang. Diese Menschen fühlen zwar den Stich eines Messers, empfinden ihn aber nicht als unangenehm. Sie sind völlig gesund – ausser dass ihnen ein intaktes Eiweiss fehlt, das in schmerzempfindlichen Nervenzellen ein elektrisches Signal auslöst. Manche Menschen besitzen eine überaktive Variante dieses Eiweisses, das ihr Gehirn mit grundlosen Schmerzsignalen überflutet und ihnen brennende und oft unerträgliche Schmerzen bereitet. Ihre hütenden Schutzengel wurden zu unbarmherzigen Folterern.
Wir haben im Kampf gegen den Schmerz während der letzten zwei Jahrhunderte zwar entscheidende Schlachten gewonnen, den endgültigen Sieg aber noch nicht errungen. Ein Grund dafür ist, dass in unserem komplexen Körper Bewusstlosigkeit und Tod gefährlich nahe beieinander wohnen. Um Knaben den Schmerz der Beschneidung zu ersparen, würgten assyrische Ärzte sie vor dem Eingriff bis zur Bewusstlosigkeit – und oft auch noch darüber hinaus. Und so mancher schmerzlindernder Pflanzenextrakt erwies sich als Todestrunk. Der geniale Paracelsus erkannte zwar bereits um die Mitte des 16. Jahrhunderts die betäubende Wirkung von Äther, kam jedoch nicht auf die Idee, ihn zur Schmerzlinderung bei Operationen einzusetzen. So mussten Menschen noch fast drei Jahrhunderte lang das Grauen chirurgischer Eingriffe bei vollem Bewusstsein erleiden, bis am 13. Oktober 1804 der japanische Arzt Seishu Hanaoka der 60-jährigen Kan Aiya einen Brusttumor unter allgemeiner Betäubung entfernte. Zu dieser Zeit hatte sich Japan unter dem Tokugawa-Shogunat jedoch abgeschottet, so dass diese grossartige Leistung im Westen ebenso unbekannt blieb wie die Zusammensetzung des dabei verwendeten Pflanzenextrakts.
Erst 1841 begann der 27-jährige amerikanische Provinzarzt Crawford Williamson Long, seine Patienten vor Operationen mit Äther zu betäuben. Da er seine Erfolge aber erst sechs Jahre später veröffentlichte, galt lange Zeit der ehrgeizige und umtriebige William T. G. Morton als Erfinder der Äthernarkose. Auf Äther folgte bald darauf Chloroform und schliesslich eine reiche Palette immer wirksamerer und sicherer Narkosegase, die heute nur noch äusserst selten tödliche Zwischenfälle verursachen. Wir wissen immer noch nicht genau, wie sie ihre segensreiche Wirkung entfalten. Wahrscheinlich binden sie sich an wasserabstossende Nischen in den Schmerzsensor-Proteinen und blockieren so deren Funktion.
Unvernunft
Im Kampf gegen den Schmerz mussten wir jedoch nicht nur die Komplexität unseres Körpers, sondern auch die menschliche Unvernunft überwinden. Für viele ist Schmerz gottgewollt und seine Bekämpfung Sünde. Heisst es nicht im Buch Genesis der Lutherbibel: «Und zum Weibe sprach er / Jch wil dir viel schmertzen schaffen wenn du schwanger wirst / Du solt mit schmertzen Kinder geberen»? Die buchstabengetreue Auslegung dieser fatalen Passage führte schon kurz nach den ersten Erfolgen der Äthernarkose zu heftigem Widerstand. Im Jahre 1865 untersagten die Zürcher Stadtväter diese Methode mit der Begründung, dass Schmerz eine natürliche und vorgesehene Strafe für die Erbsünde sei – und jeder Versuch, ihn zu beseitigen, unrecht sei.
Selbst die angesehene Wissenschaftszeitschrift «The Lancet» zeigte sich im Jahre 1853 darüber schockiert, dass Königin Victoria ihr achtes Kind unter Chloroformnarkose geboren hatte. Solche Vorbehalte gehören heute der Vergangenheit an. Für mich ist schmerzfreie Chirurgie die grösste und menschlichste technische Erfindung der letzten zwei Jahrtausende. Als ich vor einigen Jahren wegen eines entzündeten Blinddarms auf dem Operationstisch lag und der Narkosearzt sich kurz vor dem Eingriff über mich beugte, vermeinte ich den Schutzengel meiner Kindheit wiederzuerkennen. Und insgeheim hoffte ich, er möge mein Ich in seine sicheren Hände nehmen und es mir unversehrt wieder schenken.
Migräne, Krebs, Arthrose sowie Erkrankungen der Wirbelsäule oder der schmerzempfindlichen Nerven bereiten jedoch immer noch unzähligen Menschen unerträgliche Qualen, die selbst das gewaltige Morphium nicht immer lindern kann. Hier geben uns die schmerzfreien Pakistaner Hoffnung: Da sie trotz ihrem defekten Protein gesund sind, könnten wir dieses Protein in Schmerzpatienten vielleicht schon bald mit Medikamenten ausschalten und so den Teufelskreis des Schmerzes durchbrechen.
Und die Psyche?
Doch wie steht es mit unserem Kampf gegen psychische Schmerzen? Unsere Gesellschaft akzeptiert und bekämpft sie meist nur in Menschen, die offensichtlich geisteskrank sind, und betrachtet die Entzugsqualen eines Drogenabhängigen als selbstverschuldete und verdiente Strafe. Wie aber, wenn für manche Menschen das Leben ohne Drogen unerträglich wäre? Wie viele dieser Unglücklichen wählen wohl den Selbstmord als Ausweg? Weite Kreise unserer Gesellschaft finden es sündhaft – oder zumindest ungesetzlich – die psychischen Leiden scheinbar normaler Menschen mit «harten» Drogen zu lindern. Feiert die Anti-Narkose-Bewegung unseligen Angedenkens hier fröhliche Urständ? Und könnte diese Geisteshaltung daran mitschuldig sein, dass wir trotz enormen Anstrengungen auf bestem Wege sind, den «Krieg gegen die Drogen» zu verlieren? Die Frage ist zu vielschichtig für eine einfache Antwort – und dennoch müssen wir Antworten suchen. Wiederum kämpfen wir nicht nur gegen die Komplexität unseres Körpers, sondern auch gegen die Macht unserer Unvernunft.
Anmerkungen der Redaktion
Das in dem Artikel erwähnte, bei einigen pakistanischen Kindern festgestellte Fehlen von Schmerzempfindungen beruht auf Mutationen eines Gens (SCN9A). Dieses kodiert für das Protein Nav1.7 (einen Natrium-Kanal), welches eine essentielle Rolle in der Weiterleitung des Schmerzsignals spielt. Infolge der Mutation verliert Nav1.7 seine Funktionsfähigkeit und die Schmerzempfindung wird dadurch ausgeschaltet.
Seit der Publikation dieses neuartigen Mechanismus im Jahr 2006 (J.J. Cox et al., „An SCN9A channelopathy causes congenital inability to experience pain" Nature 2006, 444: 894), haben sich mehrere Pharmaunternehmen zum Ziel gesetzt, das Protein Nav1.7 durch kleine synthetische Moleküle zu blockieren und damit Schmerzen unterschiedlichen Ursprungs auszuschalten. Von drei Firmen – Pfizer, Xenon und Convergence Pharmaceuticals – befinden sich chancenreiche Entwicklungskandidaten bereits in der klinischen Phase 2 – Prüfung an Patienten hinsichtlich Wirksamkeit und Fehlen von (limitierenden) Nebenwirkungen. Ergebnisse werden noch heuer erwartet.
Weiterführende Links (in englischer Sprache)
Der Übersichtsartikel „Hurt Blocker - The next big pain drug may soothe sensory firestorms without side effects” (R.Ehrenberg, 30. Juni 2012)
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