Biologie der Stille. Das Wunder des Hörens – und des Schweigens

Fr, 06.06.2014 - 07:20 — Gottfried Schatz

Icon BiologieGottfried Schatz

Unser Gehör ist von allen fünf Sinnen die schnellste und empfindlichste Sinneswahrnehmung. Es lässt uns Töne mit sehr knapp auseinander liegenden Frequenzen unterscheiden, ermöglicht eine präzise Orientierung im Raum und warnt vor Gefahren. Haarzellen, welche die zentrale Rolle im komplexen Vorgang des Hörens spielen, reagieren allerdings hochempfindlich auf zu lautes oder zu langes Beschallen..

Vor einigen Jahren kam mir die Stille abhanden. Sie verschwand unbemerkt und hinterließ in meinen Ohren ein sanftes Zirpen, das in lautlosen Nachtstunden Erinnerungen an schläfrige Sommerwiesen meiner Kindheit weckt - und mich an das Wunder meines Hörsinns erinnert.

Meine Ohren messen Luftdruckschwankungen und senden das Messresultat als elektrische Signale an das Gehirn. Keiner meiner Sinne ist schneller. Die Augen können höchstens zwanzig Bilder pro Sekunde unterscheiden - die Ohren reagieren bis zu tausendmal rascher. So erschließen sie uns das Zauberreich der Klänge von den schimmernden Obertönen einer Violine, die etwa zwanzigtausendmal pro Sekunde schwingen, bis hinunter zum profunden Orgelbass mit fünfzehn Schwingungen pro Sekunde. Keiner meiner Sinne ist präziser.

Ich kann Töne unterscheiden, deren Schwingungsfrequenzen um weniger als 0,05 Prozent auseinander liegen. Und keiner meiner Sinne ist empfindlicher, denn mein Gehör reagiert auf schallbedingte Vibrationen, die kleiner als der Durchmesser eines Atoms sind. Da meine zwei Ohren nicht nur die Stärke eines Schalls, sondern auch sein zeitliches Eintreffen mit fast unheimlicher Präzision untereinander vergleichen, sagen sie mir, woher ein Schall kommt, und schenken mir auch im Dunkeln ein räumliches Bild der Umgebung. Und dabei sind meine Ohren Stümper gegen die einer Eule, die eine raschelnde Maus in völliger Dunkelheit und aus großer Entfernung mit tödlicher Präzision orten kann.

Haarfein

Das Organ, das diese Wunderleistungen vollbringt, ist kaum grösser als eine Murmel und lagert sicher in meinem Schläfenbein (Abbildung 1).

Aufbau des menschlichen OhresAbbildung 1. Aufbau des menschlichen Ohres. Schallwellen gelangen durch den äußeren Gehörgang an das Trommelfell und versetzen es in Schwingungen, die via Gehörknöchelchen – Hammer, Amboss, Steigbügel - über das Mittelohr und das ovale Fenster an die Schnecke im Innenohr übertragen werden. (Bild: Wikipedia)

Sein Herzstück ist ein mit Flüssigkeit gefüllter spiraliger Kanal (Cochlea – Schnecke), dem zwei elastische Bänder als Boden und Decke dienen. Am Bodenband sind wie auf einer Wendeltreppe etwa zehntausend schallempfindliche Zellen stufenartig aufgereiht, die, wie Rasierpinseln, an der Oberseite feine Haare tragen (Stereocilia, Abbildung 2).

Knochenraum der SchneckeAbbildung 2. Querschnitt durch den spiralenförmig gewundenen Knochenraum der Schnecke (links). Der Steigbügel drückt auf die wässrige Flüssigkeit im Innern der Schnecke und erzeugt eine Wanderwelle; diese erregt die Haarzellen am Bodenband der Schnecke (rechts) zur Umwandlung der mechanischen Schwingungen in elektrische Signale, welche über die Nervenbahnen (gelb) an das Hörzentrum im Gehirn weitergeleitet werden. (Bild: OpenStax College. Anatomy & Physiology, OpenStax-CNX Web site. Creative commons license)

Diese Wendeltreppe ist vom Mittelohr durch eine feine Membran getrennt (ovales Fenster). Wird diese zum Schwingen angeregt, überträgt sie die Schwingung auf die Flüssigkeit und die beiden elastischen Bänder der spiraligen Wendeltreppe und verbiegt dabei die Haarspitzen der schallempfindlichen Zellen. Selbst die winzigste Verformung dieser Spitzen ändert die elektrischen Eigenschaften der betreffenden Zelle und erzeugt ein elektrisches Signal, das über angekoppelte Nervenbahnen fast augenblicklich die Gehörzentren des Gehirns erreicht. Jede Haarzelle unterscheidet sich wahrscheinlich von allen anderen in der Länge ihrer Haare und der Steife ihres Zellkörpers. Da eine Struktur umso langsamer schwingt, je grösser und flexibler sie ist, sprechen die verschiedenen Haarzellen auf verschieden hohe Töne an. Die Ansprechbereiche der einzelnen Zellen überlappen jedoch; mein Ohr berücksichtigt diese Überlappungen und kann mir so ein differenziert-farbiges Klangbild liefern.

Warum reagieren die Haarzellen meiner Ohren so viel schneller als die Netzhaut meines Auges? Wenn Licht auf die Netzhaut fällt, setzt es eine Kette relativ langsamer chemischer Reaktionen in Gang, die schliesslich zu einem elektrischen Signal führen. Wenn dagegen ein Ton die Haarzellen verformt, öffnet er in den Membranen der Haarzelle Schleusen für elektrisch geladene Kalium- und Kalziumionen und erzeugt damit augenblicklich ein elektrisches Signal. Während unsere Augen also erst das Feuer unter einer Dampfmaschine entfachen müssen, die dann über einen Dynamo Strom erzeugt, schliessen unsere Ohren den Stromkreis einer bereits voll aufgeladenen Batterie.

Die Haarzellen unseres Gehörs sind hochverletzlich.

Werden sie zu stark oder zu lang beschallt, sterben sie und wachsen nie mehr nach. Für die Entwicklung unserer menschlichen Spezies waren empfindliche Ohren offenbar wichtiger als robuste, denn mit Ausnahme von Donner, Wirbelstürmen und Wasserfällen sind extrem laute Geräusche eine «Errungenschaft» unserer technischen Zivilisation. Rockkonzerte, Düsenmotoren, Discos und Presslufthämmer bescheren uns immer mehr hörgeschädigte Menschen, die überlaute Musik bevorzugen und damit auch ihre Mitmenschen gefährden. Selbst ohne hohe Schallbelastung verliert unser Ohr mit dem Alter unweigerlich Haarzellen, vor allem solche für hohe Töne. Die meisten älteren Menschen können deshalb Töne, die schneller als achttausendmal pro Sekunde schwingen, nicht mehr hören. Im Allgemeinen ist dies kein Problem, doch für Konzertgeiger, die schnell schwingende Obertöne hören müssen, um in hohen Lagen rein zu intonieren, kann es das Ende der Karriere bedeuten. Schwerhörigkeit und Taubheit sind für unsere Gesellschaft ein viel gewichtigeres und teureres Problem als Blindheit.

Interpunktion

Die Qualität einer Sinnesempfindung hängt, wie die jedes Signals, vom Rauschabstand ab - von dem Verhältnis von Signalstärke zu zufälligem Hintergrundrauschen. Ein gesundes Ohr kann noch Geräusche wahrnehmen, die über eine Million Mal schwächer sind als solche, die an der Schmerzgrenze liegen. Dieser eindrückliche Rauschabstand schenkt uns nicht nur eine reiche Klangpalette, sondern lässt uns auch komplexe akustische Signale virtuos entschlüsseln. Hoher Rauschabstand ermöglicht Stille zur rechten Zeit - und auch die ist ein Signal. Was wären die drei Anfangsschläge von Beethovens «Eroica»-Sinfonie ohne die darauffolgende Pause? Ist es nicht vor allem das dramatische Anhalten vor wichtigen Aussagen, das eine meisterhafte Rede kennzeichnet? Und als Ludwig Wittgenstein schrieb: «Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen», meinte er vielleicht, dass auch Logik die Interpunktion präzise gesetzter Stille fordert.

Warum verweigert mir mein Gehör jetzt diese Stille? Senden einige meiner Hörnerven nach dem Tod ihrer Haarzellen-Partner Geister-Signale ans Gehirn? Oder können meine alternden Haarzellen ihre Membranschleusen für elektrisch geladene Teilchen nicht mehr richtig schliessen?

Die Zellen meines Körpers arbeiten deshalb so gut zusammen, weil sie nur die Gene anschalten, die sie für ihre besonderen Aufgaben gerade brauchen. Meine Zellen wissen viel, sagen aber stets nur das Nötige. In einer typischen Zelle meines Körpers sind die meisten Gene still. Doch nun, da mein alternder Körper sie nicht mehr so fest wie früher im Griff hat, werden sie unruhig. Meine Haut bildet spontan braune Pigmentflecken, und auf meinen Ohrläppchen spriessen einige regelwidrige Haare. Wenn nur nicht ein Gen, welches das Wachstum meiner Zellen fördert, seine Schweigepflicht zur falschen Zeit und am falschen Ort verletzt und mir die Diagnose «Krebs» beschert! Für die Funktion von Genen ist präzises Schweigen ebenso wichtig wie präzises Sprechen. Auch Gene kennen den Wert der Stille.


Der Artikel ist Teil des Themenschwerpunkts „Sinneswahrnehmung“.


Weiterführende Links

Das Ohr - Schulfilm Biologie 3:58 min

Wie hören wir? Gehör I Ohren 3:51 min

Wie funktioniert das Ohr? 4:46 min

Hermann von Helmholtz untersucht das Hören "Ich bin ganz Ohr" 4:08 min. Der Film entstand im Auftrag von Prof. Dr. Armin Stock von der Universität Würzburg, Adolf-Würth-Zentrum für Geschichte der Psychologie (http://www.awz.uni-wuerzburg.de/archi...) und wird hier innerhalb der ständigen Ausstellung gezeigt.

Cochlear animation 1:11 min