Enorme weltweite Bildungsdefizite - alarmierende Zahlen auch in Europa

Sa, 04.02.2023— Inge Schuster

Inge SchusterIcon Politik & Gesellschaft Basierend auf den Daten aus internationalen und regionalen Leistungstests hat das Münchner ifo Zentrum für Bildungsökonomik kürzlich die bislang umfassendste Darstellung der Bildungsleistungen von Jugendlichen aus 159 Ländern (entsprechend 98 % der Weltbevölkerung) erarbeitet. Die Ergebnisse sind erschreckend: weltweit erreichen zwei Drittel der Jugendlichen keine grundlegenden Fähigkeiten, wie sie für die Teilhabe an modernen wettbewerbsfähigen und erfolgreichen Volkswirtschaften erforderlich sind. Das von allen Mitgliedsstaaten der UNO vereinbarte Entwicklungsziel SDG4 bis 2030 "sicher zu stellen, dass alle Kinder der Welt eine kostenlose, hochwertige Grund- und Sekundarbildung erhalten, die zu brauchbaren Lernergebnissen führt" ist in fernere Zukunft gerückt.

Transformation unserer Welt: Die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung

Mit dem Ziel weltweit eine nachhaltige Entwicklung auf ökonomischer, sozialer und ökologischer Ebene zu sichern und damit ein gutes, erfülltes Leben für alle Menschen zu gewährleisten, hat die Generalversammlung der Vereinten Nationen im September 2015 die Agenda 2030 für Nachhaltige Entwicklung verabschiedet [1]. Diese enthält 17 nachhaltige Entwicklungsziele (Sustainable Development Goals, SDGs), die vom Beenden von Armut und Hunger zu menschenwürdiger Arbeit, Wirtschaftswachstum und Schutz des Planeten vor Schädigungen reichen. Alle 193 Mitgliedstaaten haben sich verpflichtet auf nationaler, regionaler und internationaler Ebene auf die Umsetzung dieser Ziele bis zum Jahr 2030 hinzuarbeiten.

Ein sehr wichtiges Ziel ist die Gewährleistung einer hochwertigen, gerechten und inklusiven Bildung für alle (SDG4), das bedeutet: "frühkindliche, Grund-, Sekundar- und Hochschulbildung sowie Fach- und Berufsausbildung. ... damit alle sich das Wissen und die Fertigkeiten aneignen können, die sie benötigen, um Chancen zu nutzen und uneingeschränkt an der Gesellschaft teilhaben zu können"[1]. Die Teilhabe an modernen wettbewerbsfähigen, erfolgreichen Volkswirtschaften ist ihrerseits Voraussetzung zur Erreichung anderer SDGs - vor allem der Armut und dem Hunger ein Ende zu setzen.

Bis 2030 soll laut SDG4.1 sichergestellt sein," dass alle Mädchen und Jungen gleichberechtigt eine kostenlose und hochwertige Grund- und Sekundarschulbildung abschließen, die zu brauchbaren und effektiven Lernergebnissen führt" [1].

Bis 2030 liegen nur mehr acht Jahre vor uns. Wie aus einer kürzlich erschienenen Studie des Münchner ifo Instituts hervorgeht, ist die Welt noch extrem weit davon entfernt die vereinbarten Bildungsziele zu erreichen [2].

Eine umfassende Darstellung der globalen Bildungsdefizite

Ludger Wößmann, Leiter des ifo Zentrums für Bildungsökonomik (München) und ifo-Forscherin Sarah Gust haben zusammen mit dem Bildungsökonomen Eric A. Hanushek von der Stanford University die bisher umfassendste Darstellung der weltweiten Bildungsleistungen von Jugendlichen erarbeitet [2]. Basierend auf individuellen Schülerdaten aus internationalen (Programme for International Student Assessment -PISA - und Trends in International Mathematics and Science Study - TIMSS) und regionalen Leistungstests haben sie die Leistungen auf eine global vergleichbare Skala (die PISA-Skala) gebracht. Insgesamt haben sie dann für 159 Länder (98,1 % der Weltbevölkerung und 99,4 % des weltweiten BIP) den Anteil der Kinder abgeschätzt, die keine Grundfertigkeiten erreichen. Details wie Leistungen in Ländern ohne repräsentative Teilnahme an (internationalen) Tests abgeschätzt werden konnten, sind in [2] beschrieben.

Was ist unter Grundfertigkeiten ("Basic Skills") zu verstehen?

Die Autoren definieren diese als die Fertigkeiten, die für eine effektive Teilnahme an modernen Volkswirtschaften erforderlich sind und an Hand der Beherrschung zumindest der untersten PISA-Kompetenzstufe (1 von 6) gemessen werden. Der Fokus liegt dabei auf Mathematik und Naturwissenschaften (in diesen Fächern lassen sich die Leistungen besser zwischen Ländern vergleichen als - auf Grund der Sprachunterschiede - im Lesen). Laut OECD (2019) liegt die zu erreichende Grenze der PISA-Stufe 1 bei 420 Punkten für Mathematik und bei 410 für Naturwissenschaften.

Kompetenzstufe 1 der PISA-Skala bedeutet für Mathematik: " Schüler können Fragen zu vertrauten Kontexten beantworten, bei denen alle relevanten Informationen gegeben und die Fragen eindeutig definiert sind. Sie sind in der Lage, Informationen zu erfassen und in expliziten Situationen Routineverfahren gemäß direkten Instruktionen anzuwenden. Sie können Schritte ausführen, die fast immer offensichtlich sind und sich unmittelbar aus der jeweiligen Situation ergeben." (OECD [3]) . Was sie nicht können, ist - wie in Stufe 2 erforderlich - einfachste Formeln anwenden, Schlussfolgerungen ableiten oder Ergebnisse interpretieren. Es sind dies allerdings Fähigkeiten, die der Arbeitsmarkt nicht nur in entwickelten Ländern in zunehmendem Maße erfordert, und ohne die selbst der nur für Eigenbedarf produzierende Landwirt nicht auskommt.

Kompetenzstufe 1b der PISA-Skale bedeutet für Naturwissenschaften: "Schüler können auf allgemein bekanntes konzeptuelles Wissen zurückgreifen, um Aspekte einfacher Phänomene zu erkennen. Sie können einfache Muster in Daten und naturwissenschaftliche Grundbegriffe erkennen und expliziten Anweisungen folgen, um ein einfaches naturwissenschaftliches Verfahren anzuwenden". (OECD [3])

Wie hoch sind die globalen Bildungsdefizite?

Die ifo-Studie zeigt erschreckende Zahlen (Abbildung 1):

Abbildung 1. Geschätzter Anteil der Jugendlichen (inklusive der nicht in der Schule erfassten), die nicht zumindest den untersten Level (PISA 1) der Grundfertigkeiten in Mathematik und Naturwissenschaften erreicht haben. (Bild leicht modifiziert aus [2]; Lizenz cc-by-nc.).

Weltweit haben mindestens zwei Drittel bis zu drei Viertel der Jugendlichen nicht das Mindestmaß an Grundfertigkeiten (PISA-Stufe 1) erlangt. Am deutlichsten treten die Qualifikationsdefizite bei dem Drittel der Jugendlichen zutage, die keine weiterführende Schule besuchen; allerdings erlangen weltweit auch 61,7 Prozent der Sekundarschüler keine Grundkenntnisse. Tabelle 1.

In 101 der 159 untersuchten Länder liegt der Anteil der Kinder, die keine Grundfertigkeiten erworben haben, über 50 %, in 36 dieser Länder bei über 90 Prozent. Es sind dies Länder mit den niedrigsten Einkommen (< 1085 $/Kopf und Jahr), vor allem in Afrika südlich der Sahara (Bildungsdefizit 94 %). In Südasien liegt das Bildungsdefizit bei 89 %, im nahen Osten bei 68 % und in Lateinamerika bei 65 % (Abbildung 1).

Spalte 1: Anteil der getesteten Schüler, die Grundfertigkeiten nicht erreichen. Spalte 2: Anteil der Schüler ohne Sekundarbildung (daher nicht getestet), Spalte 3: Alle (getestete und nichtgeteste) Kinder, die Grundfähigkeiten nicht erreichen. (Quelle: Table 2 in [2], (Lizenz cc-by-nc) ); Einkommen pro Kopf und Jahr: http://data.worldbank.org/about/country-classifications.)

Niedriges Pro-Kopf Einkommen und Fehlen adäquater Schulen korrelieren mit dem Ausmaß der Bildungsdefizite. Allerdings gibt es einige sehr reiche Länder, wie beispielsweise Katar, in denen trotz enormer Investitionen in den Bildungssektor - vom Kindergarten bis zu Hochschulen - (noch) keine dramatische Verbesserung der Situation gelungen ist (in Katar erreichen 57 % der Jugendlichen nicht die unterste Stufe der Grundfertigkeiten).

Bedenklich erscheint, dass in den die meisten reichen Ländern - wie in den USA und den europäischen Staaten (s.u.) - im Mittel rund ein Viertel der Kinder nicht über das Mindestmaß an Grundfertigkeiten verfügt. Weltweit liegt nur in 19 Ländern deren Anteil unter 20 %; dazu gehören Canada, China (hier die Regionen Beijing, Shanghai, Jiangsu, Zhejiang und Guangdong99, dazu Hongkong und Macao, weiters Japan, Südkorea, Singapur, Taiwan und 11 europäische Staaten (diese sind aus Abbildung 2 ersichtlich). Offensichtlich kommt es aber nicht nur auf die Investitionen in Bildung an: In den 5 chinesischen Regionen ist das Einkommensniveau wesentlich niedriger als im OECD-Durchschnitt (3).

Wie hoch sind die Bildungsdefizite in Europa?

Die in Europa erhobenen Schülerleistungen stammen - mit Ausnahme von Zypern (TIMSS-Testung) -aus PISA-Testungen - ein Ländervergleich der Bildungsdefizite ist damit sehr verlässlich. Europaweit haben bis zu 99 % aller Schüler die Sekundarschulstufe besucht; nur in der Ukraine (64,0 %), Nord-Mazedonien (75,7 %), Moldawien (78,0%) und im Kosovo (78,1 %) liegt die Beteiligung deutlich niedriger.

Abbildung 2. Anteil der Jugendlichen [in %] in europäischen Ländern, die das Mindestmaß an grundlegenden Fähigkeiten in Mathematik und Naturwissenschaften nicht erreichen. Nicht eingetragen sind Zypern (32 %), Malta (33,9 %), Luxemburg (31,3 %) und Liechtenstein (14,5 %). (Die Europakarte ist gemeinfrei, die eingefügten Zahlen sind Tabelle 4A in [2] entnommen (Lizenz cc-by-nc).)

Europaweit bestehen erhebliche Unterschiede in den Bildungsdefiziten, die von 10,5 % (Estland) bis 79,9 % (Kosovo) reichen (Abbildung 2). Höchst alarmierend erscheint die Situation in Südosteuropa. In Ländern , die zusammen genommen 91 Millionen Menschen zählen, erreichen mehr als 40 % der Schüler nicht die unterste Stufe der Grundfertigkeiten; die höchsten Leistungsdefizite weisen dabei Länder des Westbalkans auf: der Kosovo (79,9 %), gefolgt von Nord-Mazedonien (61,1 %) , Bosnien-Herzegowina (59,7 %), Moldawien (52,3 %) und Montenegro (50,1 %). Auch in den EU-Ländern Rumänien und Bulgarien verfügt nahezu die Hälfte der Schüler nicht über die Grundfertigkeiten von PISA-Stufe 1.

Wovon hängen die Lernerfolge ab?

Wie bereits oben erwähnt, bedarf es primär ausreichend ausgestatteter Bildungssysteme, um gute Schülerleistungen zu erzielen. Der Schulbesuch ist aber nicht gleichbedeutend mit Lernen - dies sieht man an Hand der schlechten Leistungen in Südost-Europa.

Der Ruf nach mehr Geld, nach höheren Investitionen in den Bildungsbereich garantiert nicht unbedingt bessere Lernerfolge:  

     So wurden in Estland die besten schulischen Leistungen in Europa erzielt, obwohl die dortigen Bildungsausgaben rd. 30% unter dem OECD-Durchschnitt liegen [3].

    Auf der anderen Seite ist das schwache Abschneiden von Luxemburg, des weltweit derzeit reichsten Staates, zu vermerken, in dem fast ein Drittel (31,3 %) der Schüler die Grundqualifikation nicht erreichen und dies trotz eines hohen Bildungsbudgets.

    Im OECD-Bereich sind im letzten Jahrzehnt die Ausgaben für den Primär- und Sekundarbereich um mehr als 15 % gestiegen, die schulischen Leistungen haben sich aber in den meisten Ländern (72 von 79 Ländern) nicht verbessert [3].

Zweifellos kann auch Migration zum schulischen Abschneiden beitragen. In Ländern, die relativ wenige Zuwanderer aus Kulturkreisen mit niedrigem Bildungsniveau und anderen Wertvorstellungen haben, gibt es auch weniger Probleme in den Schulen und diese sind nicht nur mangelnder Sprachbeherrschung geschuldet.

Ganz wesentlich für den Lernerfolg ist es Schüler - innerhalb der Schule und ausserhalb in Elternhaus und Gesellschaft - zu motivieren, dass sie bereit sind zu lernen. 

Fazit

Die Leistungsdaten aus 159 Ländern, die 98 % der Erdbevölkerung abdecken, zeigen ganz klar, dass die Welt noch enorm weit davon entfernt ist allen Kindern Grundfertigkeiten zu vermitteln, die für die Teilhabe an modernen Volkswirtschaften erforderlich sind. Damit erscheint das Entwicklungsziel SDG4 der Agenda 2030 in näherer Zukunft nicht erreichbar. Das Dilemma: Der Großteil der Jugendlichen trifft unvorbereitet auf eine in raschem Wandel begriffene Welt, die mehr und mehr von informationsbasierten Tätigkeiten geprägt wird. Auch in Berufen, die als anforderungsarm gegolten haben, wird es zunehmend wichtiger schriftliche Informationen zu verstehen, sich damit kritisch auseinander zu setzen, rechnerische Verfahren anzuwenden, wissenschaftlich zu denken und auf Evidenz basierende Schlussfolgerungen zu ziehen.


 [1] Resolution der Generalversammlung, verabschiedet am 25. September 2015: Transformation unserer Welt: die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung. . https://www.un.org/Depts/german/gv-70/band1/ar70001.pdf

[2] Sarah Gust, Eric A. Hanashek, Ludger Woessmann: Global Universal Basic Skills: Current Deficits and Implications for World Development. (October 2022). https://docs.iza.org/dp15648.pdf, DOI 10.3386/w30566  . 

[3] OECD: PISA 2018 Ergebnisse. Was Schülerinnen und Schüler wissen und können, Band 1 (2019). https://doi.org/10.1787/1da50379-de


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