Special Eurobarometer 516: Interesse der europäischen Bürger an Wissenschaft & Technologie und ihre Informiertheit

So. 03.10.2021  — Inge Schuster

Inge SchusterIcon Politik & Gesellschaft Über die jüngste EU-weite Umfrage zum Thema Wissenschaft und Technologie "European citizens’ knowledge and attitudes towards science and technology" ist eben der bislang umfangreichste Report erschienen. Aus der enormen Fülle an wichtigen Ergebnissen wird hier eine Auswahl getroffen. Es wird über das Interesse der Europäer (und speziell das Interesse der Österreicher) an Wissenschaft und Technologie berichtet und über deren Informiertheit - beides Grundlagen für den Erwerb von Kenntnissen und einem breiten Verständnis für die Wissenschaften, die das moderne Leben prägen.

Im Jahr 2000 war mit der Lissabon Strategie ein überaus ehrgeiziges Ziel gesteckt worden: die Europäische Union sollte sich bis 2010 zur weltweit wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Ökonomie entwickeln. Zielorientierte Investitionen in Forschung & Entwicklung sowie Innovation - sogenannte Forschungsrahmenprogramme - sollten dabei das Wachstum im Bereich von Wissenschaft (science) und Technik ermöglichen (NB: unter science sind hier die Naturwissenschaften zu verstehen!). Allerdings ergab eine 2001 von der EU-Kommission in Auftrag gegebene EU-weite Umfrage [1], dass die Europäer im Durchschnitt Wissenschaft und Technik nicht in der zur Zielerreichung erforderlichen Weise wahrnahmen, dass es an Wissen und Information, vielfach aber auch einfach an Interesse mangelte. Weitere Umfragen in den Jahren 2005 und 2010 [2] zeigten eine positive Entwicklung auf dem Weg zur angestrebten Wissensgesellschaft, aber auch enorme Verbesserungsmöglichkeiten.

Jedenfalls wurden 2010 die Kernziele von Lissabon auch nicht annähernd erreicht; diese sollten - neben neuen Zielen - nun in der Nachfolgestrategie Europa 2020 weiterverfolgt werden. Um nicht an finanziellen Engpässen zu scheitern, wurde die Mittelausstattung der Forschungsrahmenprogramme massiv erhöht - das von 2014 - 2020 laufende Programm Horizon 2020 wurde mit 70 Milliarden € dotiert, das neue bis 2027 laufende Horizon Europa wird 95,5 Milliarden € erhalten.

Anknüpfend an die 2010-Umfrage folgten in den Jahren 2013 und 2014 zwei weitere EU-weite Umfragen. Diese untersuchten einerseits die Einbindung der Gesellschaft in Wissenschaft und Innovation [3], andererseits wieweit die europäische Bevölkerung davon überzeugt war, dass sich der Einsatz von Wissenschaft und Technologie in naher Zukunft positiv auf die wesentlichsten Aspekte des täglichen Lebens - von Gesundheit über Bildung, Arbeitsplätze, Energieversorgung, Mobilität, Wohnen bis hin zu Umweltschutz und Kampf gegen den Klimawandel - auswirken werde [4].

Über die Ergebnisse der Eurobarometer Umfragen 2010, 2013 und 2014 wurde (mit speziellem Fokus auf Österreich) im ScienceBlog berichtet [5 - 8].

Special Eurobarometer 516

Nach einer langen Unterbrechung von sieben Jahren ist vor 10 Tagen der mit 322 Seiten bislang umfangreichste Bericht über die jüngste Umfrage zu "Wissen und Einstellungen der europäischen Bürger zu Wissenschaft und Technologie" erschienen [9]. Neben 26 827 Personen in den 27 Mitgliedstaaten wurden 10 276 Personen in weiteren 11 Ländern befragt (in den Beitrittskandidaten Albanien, Montenegro, Nordmazedonien, Serbien und Türkei, sowie in Bosnien und Herzegowina, Island, Kosovo, Norwegen, Schweiz und UK). Die Befragung hat vom 13 April bis 10 Mai 2021 stattgefunden - soweit es pandemiebedingt möglich war in Form von face-to-face Interviews bzw. online - in der jeweiligen Muttersprache und soziodemografisch repräsentativ gewichtet.

Die Ergebnisse bieten Einblicke in

  • das Wissen der Bürger über Wissenschaft und Technologie, ihr Interesse daran und ihre Informationsquellen,
  • Ihre Ansichten zu den Auswirkungen von Wissenschaft und Technologie - auch auf die Gesellschaft - und zu Risiken und Vorteilen neuer Technologien,
  • ihre Ansichten zur Governance von Wissenschaft und Technologie,
  • ihre Einstellung zu Wissenschaftlern, zu deren angenommenen Eigenschaften, deren Glaubwürdigkeit und Rolle in der Gesellschaft,
  • ihr Engagement in Wissenschaft und Technologie,
  • Aspekte in Bezug auf junge Menschen,
  • die Geschlechtergleichstellung und soziale Verantwortung
  • den Vergleich des Status in Wissenschaft und Technologie der EU und anderen Teile der Welt.
  • Themen, die bereits in früheren Befragungen angesprochen wurden und die diesbezügliche Entwicklung der Bevölkerung aufzeigen.

Insgesamt liegt eine derart immense Fülle an wichtigen Ergebnissen vor, dass diese hier auch nicht ansatzweise in entsprechender Form zusammengefasst werden können. Fürs Erste wird daher nur der Teilaspekt  Interesse an Wissenschaft &Technologie und Informationsstand ausgewählt. Die Aussagen dazu sind offensichtlich von den derzeitigen beispiellosen Krisen geprägt: vom Klimawandel, vom Verlust der biologischen Vielfalt und vor allem von der COVID-19 Pandemie.

Wie auch in den vorangegangenen Berichten werden die  Ansichten der Österreicher mit den Ansichten anderer Europäer verglichen.

Wissenschaft & Technologie: Interesse und Information

Die weitaus überwiegende Mehrheit der EU-Bürger gibt an sich für Wissenschaft und Technologie zu interessieren, insbesondere für Umweltprobleme, für neue Entdeckungen in Medizin und Naturwissenschaften und für technologische Entwicklungen, fühlt sich aber nicht in gleicher Weise darüber informiert. Abbildung 1.

Abbildung 1: Wieweit sind die EU-Bürger im Durchschnitt an Wissenschaft und Technologie interessiert, wieweit informiert? Interessiert = Summe aus sehr hohem und mäßigen Interesse, informiert = Summe aus sehr gut und mäßig gut informiert. (Bild modifiziert nach ebs_516_science and technology_Infographic.pdf und [9])

Dabei ist aber zwischen großem Interesse und mäßigem Interesse (was immer das ist) zu unterscheiden. Großes Interesse zeigen im EU27-Schnitt i) an Umweltproblemen (inklusive Klimaschutz) 42 % der Befragten, ii) an Entdeckungen in der Medizin 38 % und iii) an naturwissenschaftlichen Entdeckungen und technologischen Entwicklungen 33 %. (Dass an Umweltproblemen und medizinischen Entdeckungen ein so hohes Interesse besteht, ist zweifellos den derzeitigen Krisen geschuldet.)

Der Anteil der sehr Interessierten hat in allen 3 Gebieten seit 2010 um einige  Prozentpunkte zugenommen (siehe unten, Abbildung 5). Der Anteil der völlig Desinteressierten liegt in den drei Themen im EU27-Schnitt bei 11 %, 14 % und 18 %, allerdings ist in allen Themen eine sehr starke Zunahme des Desinteresses von Nordwest nach Südost zu beobachten. Dies soll am Beispiel des Interesses an naturwissenschaftlichen Entdeckungen und technologischen Entwicklungen aufgezeigt werden (Abbildung 2): In Ländern wie Italien, Rumänien, Bulgarien, Polen sind bis zu 37 % der Befragten daran desinteressiert. Noch geringer ist das Interesse der Beitrittskandidaten am Balkan und hier vor allem in Serbien (39 % desinteressiert); Serbien weist auch den höchsten Anteil Desinteressierter an medizinischen Entdeckungen (34 %) und an Umweltproblemen (29 %) auf.

Abbildung 2: Europa zeigt einen starken Nordwest - Südost-Trend im Interesse an naturwissenschaftlichen Entdeckungen und technologischen Entwicklungen. Auch in einigen (noch)Nicht-EU-Ländern ist ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung (vor allem in Serbien) desinteressiert . XK: Kosovo, ME: Montenegro, BA: Bonien/Herzegovina, MK: N-Mazedonien, Albanien: Al, RS: Serbien. (Bild modifiziert nach [9]).

Auch in puncto Informiertheit ist zwischen sehr guter und mäßig guter Information zu unterscheiden. So fühlten sich im EU27-Schnitt i) über Umweltprobleme (inklusive Klimaschutz) nur 21 % der Befragten sehr gut, 61 % aber mäßig gut Informiert und ii) über neue Entdeckungen in der Medizin 13 % sehr gut, 54 % aber mäßig gut informiert. Auch ihren Informationsstand über Entdeckungen in den Naturwissenschaften und über technologische Entwicklungen empfanden nur 13 % als sehr gut und 53 % als mäßig gut (Abbildung 3). Die Angaben "sehr gut informiert" sind seit 2010 in allen drei Sparten nur um 2 % gestiegen (siehe unten, Abbildung 5).

Abbildung 3 zeigt als Beispiel die Informiertheit an naturwissenschaftlichen Entdeckungen und technologischen Entwicklungen der einzelnen EU-Länder. Besonders problematisch erscheint hier der sehr starke Nordwest-Südost-Trend: in Italien, Ungarn und Bulgarien bezeichnen sich 50 % bzw. 53 % der Befragten als schlecht informiert. Im Beitrittskandidaten Serbien sind es gar 57 % (ohne Abbildung).

Es besteht also dringender Handlungsbedarf für Maßnahmen zur Steigerung des Interesses und auch zur Bereitstellung von nötiger, leicht verständlicher Information!

Abbildung 3: Bis zur und über die Hälfte der EU-Bürger sind über wissenschaftliche Entdeckungen und technologische Entwicklungen schlecht informiert. (Bild modifiziert nach [9].)

Zur Situation in Österreich

Österreich zeichnet sich nicht durch besonders hohes Interesse an den drei Gebieten aus. Auch, wenn die Angaben "sehr interessiert" seit 2010 gestiegen sind, entsprechen die Zahlen in etwa nur dem EU27-Schnitt und liegen damit näher den südöstlichen als den nordwestlichen Ländern: sehr interessiert i) an Umweltproblemen sind 44 % der Befragten (um 6 % mehr als 2010), ii) an Entdeckungen in der Medizin 33 % (um 10 % mehr als 2010) und iii) an naturwissenschaftlichen Entdeckungen und technologischen Entwicklungen 27 % (um 6 % mehr als 2010). Der Anteil der völlig Desinteressierten in den drei Sparten liegt bei 11 %, 16 % und 21 %.

Ein wesentlich niedrigerer Anteil der Befragten sieht sich als sehr gut informiert an: 27% über Umweltthemen, 14 % über medizinische und auch über naturwissenschaftliche Entdeckungen. Als schlecht informiert bezeichnen sich 16 % in Umweltfragen, 31 % in medizinischen Entdeckungen und mehr als 1/3 der Befragten (36 %) in neuen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen.

Soziodemographische Unterschiede

Aufgeschlüsselt nach Alter, Geschlecht und Ausbildung sind deutliche Unterschiede im Interesse an Wissenschaft und Technologie erkennbar. Abgesehen von einem insgesamt niedrigeren Interesse folgt Österreich demselben Trend wie der EU27-Schnitt. Abbildung 4.

Befragte in jüngerem Alter zeigen höheres Interesse als ältere. Ein sehr großer Unterschied ist zwischen Männern und Frauen erkennbar - Männer geben sehr viel häufiger an, dass sie an Entwicklungen in Wissenschaft und Technologie sehr interessiert wären.

Bestimmend für das Interesse ist auch die Dauer der Ausbildung. Je länger diese dauerte, desto mehr Interessierte an Entwicklungen in Wissenschaft und Technologie gibt es.

Abbildung 4: Wer ist an wissenschaftlichen Entdeckungen und technologischen Entwicklungen sehr interessiert? Soziodemographische Aufschlüsselung. (Bild modifiziert nach: ebs_516_science and technology_Infographic.pdf)V

Wissenschaften versus Nicht-Wisssenschaften

Interesse und Informiertheit wurden auch zu 3 anderen Sphären des täglichen Lebens abgefragt: i) zu Kunst und Kultur, ii) zu Politik und iii) zu Sportnachrichten.

Erstaunlicherweise besteht ein höheres Interesse an den wissenschaftlichen Themen als an den nicht-wissenschaftlichen, für Letztere zeigten sich im EU27-Schnitt jeweils rund ein Viertel der Befragten sehr interessiert. Abbildung 5.

Der Anteil der an Kunst & Kultur und an Politik sehr Interessierten hat seit 2010 zugenommen (um 4 bzw. 6 %), der Anteil der Sportfans um 4 % abgenommen.

Der Anteil der sehr gut Informierten in Politik und Sport liegt etwas höher als  in Umweltproblemen; der Erstere hat seit 2010 um 4 % zugenommen und entspricht dem Anteil der an Politik sehr Interessierten. Parallel zum sinkenden Anteil der Sportbegeisterten ist auch der Anteil der sehr gut Informierten stark gesunken, der Anteil der schlecht Informierten auf 39 % gestiegen.

Ebenso hat der Anteil an sehr gut Informierten in Kunst & Kultur leicht zugenommen.

Abbildung 5: Im EU27-Schnitt zeigen mehr Menschen großes Interesse an wissenschaftlichen Themen als an nicht-wissenschaftlichen, sind aber nicht entsprechend gut informiert. Interessanterweise hat die Sportbegeisterung im letzten Jahrzehnt stark abgenommen. (Bild modifiziert nach [9].)

In Österreich punkten auch die nicht-wissenschaftlichen Themen: Im Vergleich zu den wissenschaftlichen Themen, an denen 27 - 44 % der Befragten großes Interesse äußerten (siehe oben), waren 28 % sehr an Politik interessiert (2010 waren es noch 18 %) und 32 % an Sport (2010: 30 %). Überraschend war allerdings, dass der Anteil der Kunst- & Kultur-Fans mit 22 % (2010: 15 %) unter allen Sparten am niedrigsten ausfiel (und das bei dem Anspruch Österreichs als Kulturland!).

Hinsichtlich Informiertheit fühlten sich 23 % (2010: 13 %) über Politik sehr gut informiert, 27 % über Sport (2010: 26 %) und 16 % (2010: 12 %) über Kunst & Kultur.

Woher stammen die Informationen über Wissenschaft und Technologie?

Den Befragten wurde eine Liste möglicher Informationsquellen für Wissenschaft und Technologie vorgelegt, aus der sie die zwei für sie wichtigsten Quellen nennen sollten.

Wie auch in der Vergangenheit ist für den Großteil der Europäer TV die wichtigste Informationsquelle (EU27-Schnitt 63 %, Österreich 53 %), mit großem Abstand folgen das Internet mit sozialen Netzwerken und Blogs und dann Tageszeitungen (online oder gedruckt), die 4.häufigste Quelle ist wieder das Internet mit Lexika wie Wikipedia. Die Präferenzen für diese Quellen sind in Abbildung 6 zusammengefasst.

Weitere Quellen wie Radio, Bücher, wissenschaftliche Fachzeitschriften werden von wesentlich kleineren Personenkreisen vorgezogen.

Abbildung 1: Die vier im EU27-Schnitt und in Österreich am häufigsten genannten Informationsquellen für Wissenschaft und Technologie. (Bild modifiziert nach ebs_516_science and technology_Infographic.pdf und [9])

Fazit

Das Interesse der Europäer an naturwissenschaftlichen und technologischen Themen ist seit 2010 gestiegen und im EU27-Schnitt höher als an den nicht-wissenschaftlichen Themen Kunst & Kultur, Politik und Sportnachrichten. Allerdings fühlen sich die Menschen über die wissenschaftlichen Themen als nicht sehr gut informiert und diese Situation hat sich seit 2010 nur schwach verbessert. Sowohl Interesse als auch Informiertheit fallen von Nordwest nach Südwest stark ab, wo sich bis zu 37 % der Befragten als desinteressiert und über 50 % als uninformiert bezeichnen.

Es wäre Aufgabe des Fernsehens, das als wichtigste Informationsquelle genannt wird und ebenso des Internets seriöse, leicht verständliche aber auch unterhaltsame naturwissenschaftliche Themen anzubieten, um sowohl das Interesse daran als auch das Wissen zu steigern.


[1] Eurobarometer 55.2 “Wissenschaft und Technik im Bewusstsein der Europäer” (2001)

[2] Spezial-Eurobarometer 340 „Wissenschaft und Technik“; Juni 2010 (175 p.)http://ec.europa.eu/public_opinion/archives/ebs/ebs_340_de.pdf

[3] Spezial- Eurobarometer 401 „Verantwortliche Forschung und Innovation, Wissenschaft und Technologie; November 2013 (223 p.) http://ec.europa.eu/public_opinion/archives/ebs/ebs_401_de.pdf

[4] Special Eurobarometer 419 “Public Perceptions of Science, Research and Innovation” (6.10.2014) http://ec.europa.eu/public_opinion/archives/ebs/ebs_419_en.pdf

[5] J.Seethaler, H.Denk, 17.10.2013: Wissenschaftskommunikation in Österreich und die Rolle der Medien — Teil 1: Eine Bestandsaufnahme [6]

J.Seethaler, H. Denk Wissenschaftskommunikation in Österreich und die Rolle der Medien. — Teil 2: Was sollte verändert werden?

[7] I. Schuster, 28.02.2014: Was hält Österreich von Wissenschaft und Technologie? — Ergebnisse der neuen EU-Umfrage (Spezial Eurobarometer 401)

[8] I. Schuster, 02.01.2015: Eurobarometer: Österreich gegenüber Wissenschaft*, Forschung und Innovation ignorant und misstrauisch

[9] Special Eurobarometer 516: European citizens’ knowledge and attitudes towards science and technology. 23. September 2021. ebs_516_science_and_technology_report - EN