Epilepsie - wie Larven des Schweinebandwurms auf das Gehirn einwirken

Do, 31.08.2023 — Redaktion

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Vor wenigen Tagen erregte ein Presseartikel besonderes Aufsehen: in Australien wurde einer 64-jährigen Frau ein lebender Wurm operativ aus dem Gehirn entfernt, der aber offensichtlich noch keinen größeren Schaden verursacht hatte. Viel weniger öffentliche Aufmerksamkeit finden dagegen die weltweit auftretenden Infektionen mit dem Schweinbandwurm, in deren Verlauf die Wurmlarven Zysten im Gehirn bilden und in Folge Epilepsie auslösen können. Eine neue Arbeit in Journal eLife zeigt nun erstmals auf , dass die Wurmlarven durch Freisetzung des Neurotransmitter Glutamin eine wesentliche Rolle in der Pathophysiologie der Epilepsie spielen dürften.*

Infektionen mit dem Schweinebandwurm Taenia solium

(Taeniasis) treten weltweit auf, insbesondere in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen. Menschen infizieren sich, wenn sie rohes oder nicht durchgekochtes Fleisch von Schweinen verzehren, das Larven des Bandwurms, sogenannte Zystizerken enthält. Im Darm reifen die Zystizerken innerhalb weniger Monate zu segmentierten Bandwürmern heran, können dort Jahre verbleiben und Segmente (Proglottide) mit Eiern und auch isolierte Eier mit dem Kot absondern. Bandwurmeier, die von Bandwurmträgern im Kot ausgeschieden werden, können unter schlechten hygienischen Bedingungen über den fäkal-oralen Weg oder durch die Aufnahme von kontaminierten Lebensmitteln oder Wasser aufgenommen werden und sind direkt für Menschen und ebenso für Schweine infektiös. Sie werden zu sogenannten Oncosphären, unreifen Larvenformen, welche die Darmwand penetrieren, im System zirkulieren und sich als Zystizerken in Muskeln, Leber, Haut, Augen bis hin ins Zentralnervensystem festsetzen. Es kommt zur Zystizerkose mit zum Teil verheerenden Folgen für die menschliche Gesundheit.

Im Jahr 2015 hat die WHO-Gruppe für Epidemiologie der lebensmittelbedingten Erkrankungen T. solium als eine der Hauptursachen für lebensmittelverursachte Todesfälle identifiziert. Insgesamt dürften weltweit zumindest um die 5 Millionen Menschen an Zystizerkose leiden. Abbildung 1.

Abbildung 1. Weltweite Verbreitung der Zystizerkose 2019; Fallzahlen pro 100 000 Personen. Im Insert: vergrößertes Bild von Europa. Die Infektion wird durch Larvenformen des Schweinebandwurms verursacht und führt zur Zystenbildung in Muskelgewebe, anderen Organen und Gehirn. Ein Vergleich der Fallzahlen von 1990 und 2019 zeigt, dass die Infektionen in allen betroffenen Ländern stark abgenommen haben; weltweit von 71,3/100 000 auf 59,1/100 000 Personen. n (Bild: Our World in Data, https://ourworldindata.org/grapher/prevalence-cysticercosis. Lizenz: cc-by)

Neurozystizerkose

Bilden die Larven des Parasiten Zysten im Gehirn - dies wird als Neurozystizerkose bezeichnet -, so können Krampfanfälle und Epilepsie die Folge sein. Tatsächlich gehört die Neurozystizerkose weltweit zu den häufigsten Ursachen für erworbene Epilepsie und ein erheblicher Anteil (22-29 %) aller Epilepsiepatienten in Ländern südlich der Sahara hat eine Neurozystizerkose. Abbildung 2 gibt einen Eindruck wie sehr das Gehirn eines Patienten von Zystizerken befallen sein kann.

Abbildung 2. . Neurozystizerkose: multiple Zystizerken im Gehirn eines Patienten; Magnetresonanz-Aufnahme. (Bild: Centers for Disease Control and Prevention (CDC), gemeinfrei)

Man nimmt an, dass Krampfanfälle und Epilepsie auftreten, wenn die Zysten platzen und ihren Inhalt in das Gehirn entleeren; frühere Untersuchungen zur Entstehung dieser Erkrankungen haben sich auf die neuroinflammatorische Reaktion des Gehirns konzentriert. Interessanterweise geht man davon aus, dass Taenia solium-Larven die lokale Immunreaktion gegen ihre Vorhandesein aktiv unterdrücken, so dass sie sich über Monate oder sogar Jahre im Gehirn halten können. Abgesehen von den Arbeiten zur Neuroinflammation wurden jedoch die Auswirkungen der Larven (und ihrer Sekrete) auf die neuronale Aktivität bisher kaum erforscht. Jetzt berichtet im Fachjournal eLife ein internationales Forscherteam unter Joseph Raimondo (Universität Kapstadt) - darunter Anja de Lange und Hayley Tomes als Erstautoren - über Untersuchungen zu den Auswirkungen der Larven auf das Gehirn [1]. Die Ergebnisse haben direkte Relevanz für das Verständnis der Pathogenese akuter Anfälle (Iktogenese) und - da Anfälle zu Anfällen führen - auch chronischer Epilepsie.

Die Larven sezernieren Glutamat

Die wichtigste Erkenntnis der neuen Arbeit ist, dass die Larven und ihre Ausscheidungen einen Neurotransmitter namens Glutamat enthalten, wobei der Glutamatgehalt hoch genug ist, um die umliegenden Neuronen direkt zu aktivieren. Um dies nachzuweisen, haben die Forscher zunächst Taenia solium-Larven homogenisiert und ihre Ausscheidungsprodukte gesammelt. Anschließend haben sie Neuronen diesen Produkten ausgesetzt und gezeigt, dass die Neuronen durch diese Exposition zum Feuern von Aktionspotenzialen aktiviert wurden. Wurden aber die Glutamatrezeptoren in den Neuronen vor der Exposition mit den Larvenprodukten blockiert, so fand keine Aktivierung der Neuronen statt.

Die Forscher untersuchten dann mit Hilfe von fluoreszierenden Kalzium-Indikatoren (Calcium-Imaging), wie sich die lokale Aktivierung von Neuronen durch das Glutamat aus den Larven auf lokale Gehirnschaltkreise auswirkt. Der Anstieg des intrazellulären Kalziums steht stellvertretend für die neuronale Aktivität, so dass sich mit Hilfe der Kalzium-Bildgebung die neuronale Aktivität in den Gehirnschaltkreisen sichtbar machen lässt. Diese bildgebenden Experimente bestätigten, dass das von den Larven ausgeschiedene Glutamat eine lokale neuronale Aktivierung auslöste, die zu einer anschließenden Aktivierung synaptisch verbundener Neuronen in entfernteren Schaltstellen führte. Die Forscher haben auch andere, von den Larven abgesonderte Produkte untersucht, die möglicherweise das Feuern von Neuronen beeinflussen könnten (wie Substanz P, Acetylcholin und Kalium), aber keines dieser Produkte hatte die gleiche weitreichende Wirkung wie Glutamat. Die Ergebnisse deuten also darauf hin, dass Glutamat aus den Larven eine potenzielle Rolle bei der Entstehung und/oder Ausbreitung von Krampfanfällen spielt.

Als Nächstes zeigten de Lange et al., dass die Larvenprodukte ähnlich erregende Wirkungen in-vitro auf Gehirngewebe von Tiermodellen und auf reseziertes menschliches Gehirngewebe haben. Sie wiesen auch nach, dass Glutamat umgebendes Hirngewebe erregen kann - in anderen Studien war dies als Treiber für spätere Epilepsie nachgewiesen worden. Darüber hinaus war von anderen Teams bereits gezeigt worden, dass von Hirntumoren freigesetztes Glutamat epileptische Anfälle auslösen kann; Forscher suchen auch nach Möglichkeiten, die Glutamatfreisetzung gezielt zu steuern, um solche Anfälle zu verhindern.

Ähnliche Strategien könnten bei der Bekämpfung der Neurozystizerkose von Vorteil sein, um Anfälle zu reduzieren oder möglicherweise sogar die Entwicklung einer chronischen Epilepsie zu verhindern. Dies ist von entscheidender Bedeutung, da Millionen von Neurozystizerkose-Patienten unter Krampfanfällen und Epilepsie leiden. Allerdings ist die neue Studie noch kein strikter Beweis, dass Larvenprodukte Anfälle oder Epilepsie verursachen, da sie auf der Ebene einzelner Zellen und kleiner Schaltkreise mit Mini-Mengen (Pikoliter) von Larvenprodukten durchgeführt wurde: bisher wissen wir nur, wie Neurozystizerkose zu neuronaler Übererregbarkeit führt. Abbildung 3. fasst die Ergebnisse der Studie [1] zusammen.

Abbildung 3. . Neurozystizerkose und Epilepsie. Taenia Solium ist ein Parasit, der das Gehirn infizieren und eine Neurozystizerkose verursachen kann, die eine häufige, aber schlecht verstandene Ursache für erworbene Epilepsie ist. de Lange et al. [1] haben gezeigt, dass Taenia Solium erhebliche Mengen eines Neurotransmitters namens Glutamat enthält, der Neuronen und Schaltkreise von Neuronen aktivieren kann.

Künftige Studien werden erforderlich sein, um die Auswirkungen der Larvenprodukte und der Larven selbst auf größere Schaltkreise in vivo zu verstehen und um zu untersuchen, ob/wie diese pathologische Erregung zu langfristigen Veränderungen im Gehirn führt, die spontane, wiederkehrende Anfälle auslösen. Auch nicht-glutamaterge Mechanismen, einschließlich neuroimmunologischer Prozesse, könnten für diese Veränderungen von Bedeutung sein.

Mit den aufregenden experimentellen Hinweisen und darüber hinaus mit naturnahen krankheitsrelevanten Modellen, welche die Untersuchung neuer Behandlungsansätze ermöglichen werden, bringt uns die neue Studie einem Verstehen von Epilepsie als Folge menschlicher Neurozystizerkose näher. Die Studie ist auch deshalb wichtig, weil der Neurozystizerkose - einer Krankheit, von der unverhältnismäßig viele Menschen in einkommensschwachen und unterversorgten Ländern betroffen sind - in der Vergangenheit nicht genügend Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Die aktuellen Ergebnisse aus Kapstadt könnten die dringend benötigte Forschung auf dem Gebiet der Neurozystizerkose in Gang gebracht haben, da sie zeigen, was Taenia solium-Larven mit den sie umgebenden neuronalen Netzwerken anstellen. Es ist Aufregend!


[1] Anja de Lange, Hayley Tomes et al., 2023 Cestode larvae excite host neuronal circuits via glutamatergic signaling. eLife12:RP88174 https://doi.org/10.7554/eLife.88174.1


 * Eine Zusammenfassung des Artikels von Anja de Lange, Hayley Tomes, et al., 2023, [1] verfasst von Zin-Juan Klaft und Chris Dulla ist am 23.08.2023 unter dem Titel "Epilepsy: How parasitic larvae affect the brain " im eLife-Magazin erschienen: https://doi.org/10.7554/eLife.91149. Der Text wurde von der Redaktion ins Deutsche übersetzt, mit einigen Textstellen und Abbildungen 1 und 2 ergänzt und ohne die im Originaltext zitierten Literatustellen wiedergegeben. eLife  ist ein open access Journal, alle Inhalte stehen unter einer cc-by Lizenz.


Weiterführende Links

WHO: Taeniasis/cysticercosis (2022): https://www.who.int/news-room/fact-sheets/detail/taeniasis-cysticercosis

JJ Medicine: Pork Tapeworm (Taeniasis) | How It Infects, Symptoms & Cysticercosis, Diagnosis, Treatment (2022). Video 16:44 min. https://www.youtube.com/watch?v=z01Wu0x0us4

Parasitäre Erkrankungen im ScienceBlog: