Mitochondrien - mobile Energielieferanten in Neuronen

Fr, 14.04.2023 — Susanne Donner

Susanne DonnerIcon Hirn-Energie

Archaisch, mächtig, flexibel: Mitochondrien sind weit mehr als Kraftwerke. Sie treiben die Evolution, bestimmen, was das Gehirn leistet und sind mitverantwortlich, wenn wir bei Sauerstoffmangel in Ohnmacht fallen. Die Chemikerin und Wissenschaftsjournalistin Susanne Donner gibt eine Überblick über die Rolle der Mitochondrien in unserem enorm energieverbrauchenden Nervensystem, wie Neuronen über die ganze Länge ihrer Dendriten und Axone die Energieversorgung sicherstellen, und welche Folgen eine Unterversorgung haben kann.*

Die folgenreiche Vereinnahmung hat sich vor mindestens einer Milliarde Jahren ereignet. Lange bevor Tiere und Menschen die Erde bevölkerten. Im Wasser, das den Planeten bedeckte, trafen ein Bakterium und ein weiterer Einzeller aufeinander. Der Einzeller verleibte sich das Bakterium ein – eine Fusion zweier Lebensformen, die letztlich für beide von Nutzen war: So entstanden die Organelle, die sich heute in jeder Zelle von Tieren, Pflanzen und Menschen befinden.

Relikt der geschichtsträchtigen Verschmelzung, die als Endosymbiontentheorie in die Lehrbücher einging, sind beispielsweise die Mitochondrien, gern als „Kraftwerke der Zelle“ bezeichnet. Ihre Erbinformation ist bis heute „nackt“ und ringförmig als sogenanntes Plasmid angeordnet – so wie man es von Bakterien kennt. Dagegen ist die DNA des Zellkerns auf Histone aufgerollt, spezielle Proteine, die die DNA verpacken. Zudem sind die Mitochondrien von einer Doppelmembran umhüllt, die entfernt an die Zellwand von Bakterien erinnert. Abbildung 1. Auch, dass die mitochondriale DNA viel schneller Mutationen anhäuft – wohl weil die Reparatursysteme weniger effizient arbeiten – könnte auf Bakterien zurückgehen, die aufgrund ihrer kurzen Lebensdauer auf derartige Mechanismen weniger angewiesen sind. Die Kern-DNA ist dagegen robuster gegenüber dem Zahn der Zeit.

Abbildung 1. Mitochondrien: zugereiste Kraftwerke in eukaryotischen Zellen (Bild von Redn. eingefügt aus: Wikipedia; gemeinfrei)

Die Macht der Mitochondriengene

Gleichwohl wurde der Beitrag der Mitochondrien zur Erbmasse lange vernachlässigt, weil ihre Gene nur einen Anteil von 0,1 Prozent beisteuern. Sie zählen gar nur 37 Gene, gegenüber rund 25.500 auf der Doppelhelix im Zellkern. Die Mitochondrien stammen in der Regel von der Mutter. Die Kraftwerke des Vaters werden in der befruchteten Eizelle eliminiert. Es gibt allerdings Ausnahmen „Toyota-Prinzip: Nichts ist unmöglich“, kommentiert die Neurowissenschaftlerin Petra Wahle von der Universität Bochum. „Dann gibt der Vater seine Mitochondrien weiter. Das ist aber selten.“

So oder so – lange dachten Forscher, dass die Vererbungswege für die Mitochondrien-DNA und die Kern-DNA unabhängig nebeneinander existieren. Doch neuere Studien unterstreichen, wie eng Zellkern und Mitochondrien sich aufeinander abstimmen und miteinander austauschen.

Der Genetikspezialist Wei Wei von der Universität Cambridge und seine Kollegen untersuchten dafür das Erbgut von 1.526 Müttern und ihren Kindern. Und zwar sequenzierten sie sowohl das Kern- als auch das mitochondriale Genom. Dabei fiel ihnen auf, dass Mutationen im Mitochondriengenom nicht beliebig an den Nachwuchs weitergegeben werden. Vielmehr setzten sich eher solche Varianten durch, die bereits in der Vergangenheit aufgetreten waren und die mit der Kern-DNA harmonierten. Dies ergab ein Abgleich mit einer Gendatenbank, in der die Geninformationen zu 40.325 weiteren Personen hinterlegt waren. Wei schließt daraus, dass die Kern-DNA kontrolliert, welche Mitochondrien-Erbinformationen sich durchsetzen. Beide Vererbungswege sind keineswegs isoliert voneinander.

Mitochondrien ko-evolvieren mit der Kern-DNA“, sagt Wahle. Das habe damit zu tun, dass sie längst nicht nur Energielieferanten sind. Sie haben vielfältige basale Funktionen. So steuern sie beispielsweise die Produktion wichtiger Signalstoffe und Zellbausteine. Nur mit ihrer Hilfe kann die Zelle komplexe Proteine und andere Stoffe erzeugen. Diese Baustoffe brauchen wiederum die Mitochondrien dauernd, um sich permanent rundzuerneuern. Es besteht eine wechselseitige Abhängigkeit. Diese bedingt, dass die Erbmasse von Mitochondrien und Kern fein aufeinander abgestimmt sein muss.

Wenn die Mitochondriengene nicht passen, droht das Aussterben

Das geht so weit, dass beliebig mutierte Mitochondrien die Fitness des Organismus kompromittieren würden. Wenn Forschende etwa die Mitochondrien einer anderen Art in die Keimbahn einschleusen, sind die Nachkommen dieser Bastarde zwar lebensfähig, aber weniger fruchtbar, legt Wahle dar. „Sie entwickeln sich schlechter und sterben unter dem Strich wieder aus.

Mitochondriengene weisen aber, wie erwähnt, enorm hohe Mutationsraten auf. Auf diese Weise helfen sie Lebewesen dabei, sich zu Lebzeiten an sich rasch verändernde Umweltbedingungen anzupassen. Sie modulieren beispielsweise die Menge bereitgestellter Energie.

Über Mitochondrienmutationen entstehen auch in kurzer Zeit neue Arten, wie der israelische Evolutionsforscher Dan Mishmar herausarbeitete: etwa, wenn sich die Lebensräume zweier Populationen trennen. Dann verändert sich deren mitochondriale DNA derart rasch, dass beide schon nach kurzer Zeit nicht mehr kompatibel miteinander sind. Sie können zusammen keine ausreichend lebensfähigen Nachkommen mehr zeugen.

Mehr als kleine Punkte im Neuron

Neben der Fruchtbarkeit sind es kognitive Fähigkeiten, die als Erstes leiden, wenn die Mitochondrien schwächeln. Nach derzeitigem Wissensstand stehen alle neurodegenerativen Krankheiten mit maroden Zellkraftwerken in Verbindung. Die Nervenzellen im Gehirn, aber auch die Zellen von Muskeln und Auge haben einen besonders hohen Energiebedarf.

Das liegt an zwei Besonderheiten. Damit kognitive Prozesse, das Denken und Handeln, ablaufen können, muss der Ionenhaushalt im Gehirn in einem Gleichgewicht sein. Vor allem der Calciumspiegel darf weder in den Zellen noch außerhalb zu sehr abfallen. Das entscheidet mitunter über Leben und Tod einer Zelle. Und, wenn Nervenzellen feuern, müssen sie Aktionspotentiale weiterleiten. Auch das kostet viel Energie.

„In Lehrbüchern sind Mitochondrien immer so diskret hingezeichnet. Aber wir haben pro Neuron mehrere hundert von diesen Mitochondrien“, sagt der Neurowissenschaftler Oliver Kann von der Medizinischen Fakultät der Universität Heidelberg. Das sind viel mehr als beispielsweise in weniger energiehungrigen Geweben wie die Haut.

Mit Blick auf die Mitochondrien sei Neuron allerdings nicht gleich Neuron, wie Kann betont. In seinen Forschungen ergründet er, wie sich verschiedene Hirnzelltypen in ihren Mitochondrien unterscheiden. Manches ist augenfällig, etwa wenn seine Mitarbeitenden die Mitochondrien in Hirnschnitten von Ratte oder Maus histologisch anfärben. In den Dendriten, den verästelten Zellfortsätzen, die die elektrische Erregung von Nachbarzellen aufnehmen, sehen Mitochondrien langgezogen aus. Wenn man aber entlang des Zellfortsatzes näher an die Zelle heranrückt, werden die Mitochondrien kompakt und punktförmig. Und auch in den Prinzipalneuronen selbst, zu denen etwa die Pyramidenzelle gehört, haben sie diese aus Lehrbüchern vertraute Form.

Mitochondrien sind mobil und teilbar wie ein Güterzugsystem

Abbildung 2. Die Form der Mitochondrien hängt vom Kompartiment des Neurons ab. Im Dendriten sind die Mitochondrien langgezogen (0,5 -8,9 µm) und füllen den Großteil des dendritischen Raums aus (b) unten). Im Axon sind die Mitochondrien vergleichsweise kurz (0,3 - 1,1 µm) und besetzen nur rund 5 % der Axonlänge. a) Pyramidenzelle aus dem Kortex, Mitochondrien mittels eines Matrix-gerichteten fluoreszierenden Proteins (mt-DsRED - grün) sichtbar gemacht. b)Vergrößerter Ausschnitt aus a) (braune Box): Teil eines Dendriten, mt-DsRED : mitochondrialer Marker, GFP: Cytosol markiert mit fluoreszierendem Protein. c) Vergrößerter Ausschnitt aus a) (grüne Box): Teil eines Axons, Markierung wie in b). (Bild von Redn. eingefügt, Quelle: Lewis, T.L. et al.,. Nat Commun 9, 5008 (2018) https://doi.org/10.1038/s41467-018-07416-2 Lizenz: cc-by 4.0)

Besonders viele Mitochondrien sitzen in der synaptischen Endigung, also an jenem Ort, an dem Information von einer Nervenzelle zur nächsten übertragen wird. Dort ist besonders viel Energie nötig, um das Signal über den synaptischen Spalt weiterzuleiten. Dafür schließen sich die Mitochondrien teilweise sogar lokal zusammen. Sie bilden hochdynamische Netzwerke, erklärt Kahn, ähnlich einem Güterverkehrssystem. Mitochondrien können sich tatsächlich auch fortbewegen. Sie wandern entlang des Axons und nutzen dafür Mikrotubuli, röhrenförmige Proteine, und molekulare Motoren.

Qua ihrer Mobilität können sich Mitochondrien sammeln. Noch dazu sind sie – wieder in Analogie zum Güterzugsystem in der Lage - miteinander zu verschmelzen, sodass aus mehreren Mitochondrien ein Mitochondrium wird, oder sich zu teilen. (Abbildung 2) Diese Eigenart wird als „fusion“ für Verschmelzung und „fission“ für Spaltung bezeichnet. Wie wichtig sie ist, zeigt auch die Entdeckung, dass eine Stammzelle sich genau dann zum Neuron entwickelt, wenn sich die Mitochondrien in ihr massiv teilen und damit in ihrer Zahl erhöhen.

Wenn Mitochondrien nicht abliefern, schwächeln wir beim Lernen und Autofahren

Besonders viele Mitochondrien benötigen aber auch bestimmte Nervenzellen, Interneurone genannt, die die Netzwerkaktivität im Gehirn synchronisieren. Sie sind quasi die Taktgeber des Neuronenfeuers im Gehirn. Sie sorgen dafür, dass beim Ableiten der Hirnströme über die Kopfhaut überhaupt rhythmische Signale von den alpha- bis zu den theta-Wellen auf dem Bildschirm zu sehen sind. Die Interneurone ermöglichen höhere kognitive Leistungen wie die Verarbeitung komplexer visueller Reize und die selektive Wahrnehmung, auch das Bewusstsein. Dafür müssen sie allerdings in schnellem Takt stark feuern.

Kanns Team stellte unter Beweis, dass diese Energiefresser im Gehirn als erstes an Funktion einbüßen, wenn es zu mildem Stress auf den Stoffwechsel kommt. Der kann darin bestehen, dass weniger Glucose oder Sauerstoff ins Gehirn kommen oder zu viele freie Radikale anfluten. In weiteren Experimenten an isolierten Hirnschnitten von Ratte und Maus erkannten die Forschenden schließlich auch, dass auch ein gestörter Calcium-Ionen-Haushalt die rhythmische Netzwerkaktivität, den Job der Interneurone, unterminiert. Wahrscheinlich, weil die Mitochondrien nicht richtig arbeiten können, wenn der Calciumeinstrom in die Zelle gestört ist.

Für den Neurowissenschaftler können all diese Befunde ein bemerkenswertes Verhalten des menschlichen Gehirns erklären: An Piloten testete man nach dem Zweiten Weltkrieg, was geschieht, wenn kurzzeitig zu wenig Blut ins Gehirn gelangt. Wie anekdotisch überliefert sei, berichtet Kann, legte man ihnen dafür eine enge Manschette um den Hals. Nach vier bis sechs Sekunden waren sie schon bewusstlos. Doch ihre Nervenzellen feuerten noch weiter. Erst nach einigen Minuten beginnen die Neuronen unterzugehen. Kann sagt: „Das Gehirn hat einfach nicht ausreichend Energiespeicher, um die Interneurone zu versorgen und damit die höheren kognitiven Fähigkeiten aufrechtzuerhalten.“

Frauen bekamen das im 19.Jahrhundert dank der damals vorherrschenden Mode am eigenen Leib zu spüren. Zu eng geschnürte Korsette drückte ihre Atemwegsorgane ab, sodass ihr Gehirn zu wenig Sauerstoff bekam. Mangels Mitochondrien-Power fielen die Frauen dann schon mal zu Boden. Nach der Ohnmacht aber war es, als sei nichts gewesen.

Zusammenfassung

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


Zum Weiterlesen

  • Wei, W et al.: Germline selection shapes human mitochondrial DNA diversity. Science. 2019. 364(6442):eaau6520. doi: 10.1126/science.aau6520
  • Bas-Orth, C et al. : The mitochondrial calcium uniporter is crucial for the generation of fast cortical network rhythms. J Cereb Blood Flow Metab. 2020, Nov;40(11):2225–2239. doi: 10.1177/0271678X19887777
  • Kann, O. et al.: The interneuron energy hypothesis: Implications for brain disease. Neurobiol Dis. 2016, Jun;90:75¬–85. doi: 10.1016/j.nbd.2015.08.005
  • Elzoheiry, S et al.: Mild metabolic stress is sufficient to disturb the formation of pyramidal cell ensembles during gamma osciallations. J Cereb Blood Flow Metab. 2020 Dec;40(12) :2401–2415. doi: 10.1177/0271678X19892657
  • Iwata, R et al.: Mitochondrial dynamics in postmitotic cells regulate neurogenesis. Science. 2020 Aug 14;369(6505):858–862. doi: 10.1126/science.aba9760
  • Rangaraju, V et al.: Pleiotropic Mitochondria: The Influence of Mitochondria on Neuronal Development and Disease. J Neurosci. 2019 Oct 16;39(42):8200–8208. doi: 10.1177/0271678X19892657

*Der Artikel stammt von der Webseite www.dasGehirn.info, einer exzellenten Plattform mit dem Ziel "das Gehirn, seine Funktionen und seine Bedeutung für unser Fühlen, Denken und Handeln darzustellen – umfassend, verständlich, attraktiv und anschaulich in Wort, Bild und Ton." (Es ist ein Projekt der Gemeinnützigen Hertie-Stiftung und der Neurowissenschaftlichen Gesellschaft e.V. in Zusammenarbeit mit dem Zentrum für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe). Der vorliegende Artikel ist am 15.3.2023 unter dem Titel: " Zugereiste Kraftwerke" https://www.dasgehirn.info/grundlagen/energie/zugereiste-kraftwerke erschienen. Der unter einer cc-by-nc-sa Lizenz stehende Artikel wurde unverändert in den Blog gestellt.


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