Mit CapScan® beginnt eine neue Ära der Darmforschung

Do 18.05.2023  — Inge Schuster

Inge Schuster Icon Medizin

> Kenntnisse über das Mikrobiom des Verdauungstrakts und über Stoffwechselprodukte in diesem System beruhen bislang hauptsächlich auf Daten, die aus Stuhlproben erhoben wurden. Mit Hilfe der CapScan®-Kapsel können erstmals auf nicht-invasive Weise Proben aus den Regionen des Dünndarms gesammelt und analysiert werden. Damit werden Aufschlüsse über lebenswichtige Darmaktivitäten möglich, die bisher nicht messbar waren und die zum Verstehen der Stoffwechselwege des Menschen und ihrer komplexen Interaktionen mit dem Mikrobiom in Gesundheit und Krankheit beitragen.

In den letzten Jahrzehnten ist der menschliche Darm und hier vor allem das dort ansässige Mikrobiom mehr und mehr in den Fokus der Forschung gerückt. Es wurde klar, dass die riesige Zahl und Vielfalt der Mikroorganismen eine essentielle Rolle in Gesundheit und Krankheit spielen - dies beginnt mit dem Metabolismus von Nahrung und Fremdstoffen und erstreckt sich über die Regulierung des Immunsystems, den Schutz vor Pathogenen bis hin zum Einfluss auf die Steuerung des Nervensystems und damit auch auf den Gemütszustand.

Der Dünndarm ist noch weitgehend eine terra incognita

Auf Grund des schwierigen Zugangs zu den oberen Teilen des Verdauungstrakts, d.i. dem 5 - 7 Meter langen Dünndarm, stammen Informationen über die Zusammensetzung des Mikrobioms und die im Darm generierten und diesen beeinflussenden Stoffwechselprodukte bislang weitestgehend aus Analysen des Stuhls. Tatsächlich geben solche Proben aber nur ein sehr beschränktes Bild der Vorgänge im Gesamtdarm: beim Eintritt in den aufsteigenden Teil des Dickdarms ist die Verdauung der Nahrung ja nahezu vollständig (zu 90 %) abgeschlossen und die entstandenen Stoffwechselprodukte (Metabolite) wurden bereits durch die Dünndarmwand in den Organismus aufgenommen (absorbiert), teilweise weiter umgewandelt und als Endprodukte in das Darmlumen ausgeschieden. Was im Colon noch ankommt, sind im Wesentlichen unverdauliche Nahrungsbestandteile, die von den dort ansässigen Bakterienkolonien aufgeschlossen und zu Nährstoffen der Darmwand umgebaut werden.

Der Zugang zu den Dünndarmabschnitten Jejunum und Ileum ist eine Herausforderung. Diesbezügliche Proben werden ja nicht unter physiologischen Bedingungen entnommen: sie stammen aus Operationsmaterial und von klinisch toten Organspendern, die mit verschiedenen Arzneimitteln, darunter Antibiotika behandelt worden waren und bestenfalls aus mehrstündigen Endoskopien, die an nüchternen, betäubten oder sedierten Probanden erfolgen.

Wie auch für unterschiedlichste bioaktive Produkte beruhen unsere Kenntnisse beispielsweise zur Vielfalt, Dynamik und Rolle der Gallensäuren bei der Verdauung auf den wenig repräsentativen Messungen der wenigen Prozent der Gallensäuren, die im Stuhl ankommen oder dem Bruchteil eines Prozents im Blut. Fazit: Stuhlproben sind ein unzulängliches Surrogat für die Vorgänge in den oberen Darmabschnitten.

CapScan® ermöglicht erstmals eine nicht-invasive Reise durch den Dünndarm

Ein Forscherteam von den kalifornischen Universitäten Stanford und Davis und dem Spin-off Envivo Bio Inc. hat eine spezielle Kapsel CapScan® entwickelt, die geschluckt wird und in bestimmten Abschnitten des Darms ein kleines Volumen des Darmlumens inklusive der dort vorhandenen Mikroorganismen, Proteine und Metabolite aufnimmt. Zwei zeitgleich am 10. Mai 2023 in den Fachjournalen Nature und Nature Metabolism erschienene Arbeiten beschreiben diese Kapsel beschrieben und berichten über die die damit erhobenen Veränderungen im oberen Darmtrakt während der normalen täglichen Verdauung bei 15 gesunden Menschen [1,2].

Das Prinzip von CapScan®: Die Kapsel - etwa in der Größe einer Vitamin-Pille - ist mit einer magensaftresistenten, pH-sensitiven Polymer-Beschichtung versehen und enthält darin eine kollabierte Blase mit einem Einwegventil. Normalerweise steigt der pH-Wert im Darmlumen von 4-6 im Zwölffingerdarm auf 7-8 im Ileum an und sinkt im anschließenden aufsteigenden Colon etwas ab. Sobald eine Kapsel mit voreingestelltem pH-Wert auf diesen Wert im Lumen trifft, löst sich die Beschichtung mit vorbestimmter Geschwindigkeit auf, die Blase entfaltet sich und kann bis zu 400 µl Lumenflüssigkeit ansaugen. Ist die Blase voll, so verhindert das Ventil, dass auf dem Weiterweg durch den Verdauungstrakt noch Flüssigkeit eintreten kann. Die Kapsel wird schließlich mit dem Stuhl ausgeschieden, daraus hervor geholt und ihr Inhalt analysiert

Die Untersuchungen erfolgten an 15 gesunden Personen im Rahmen einer klinischen Untersuchung. Um Proben aus vier verschiedenen Regionen des Darmtrakts nehmen zu können, nahmen die Versuchspersonen jeweils vier Kapsel-Typen mit unterschiedlichen pH-Sensitivitäten ein, nachdem sie Mahlzeiten ihrer Wahl gegessen hatten. Abbildung.

Abbildung. 4 Kapsel-Typen, die Proben aus mehreren Regionen des menschlichen Darmtraktes während der normalen Verdauung sammeln. Die Kapseln öffnen sich bei unterschiedlichen, ansteigend höheren pH-Werten. Kapsel-Typ 4 enthält eine zeitverzögerte Beschichtung, um die Sammlung in Richtung des aufsteigenden Dickdarms zu lenken wo der pH-Wert typischerweise im Vergleich zum terminalen Ileum abfällt. (Bild: Ausschnitt aus Dari Shalon et al, 2023 [1]., deutsch beschriftet; Lizenz cc-by).

Die Analyse: Ein sogenannter "Multiomics"-Ansatz wurde angewandt, um die Proben einerseits auf Bakterien, Viren, Wirtsproteine und andererseits auf Stoffwechselprodukte aus der Nahrung zu analysieren [1, 2]. In den verschiedenen Regionen des menschlichen Darms zeigten sich dabei signifikante, zum Teil dramatische Unterschiede in der Zusammensetzung des Mikrobioms, des Wirtsproteoms und in der Induktion von Prophagen. Auch hinsichtlich der Zusammensetzung der Stoffwechselprodukte - die Forscher identifizierten insgesamt nahezu 2000 Metaboliten - gab es massive Unterschiede vom oberen (proximalen) zum unteren (distalen) Dünndarm und zu Stuhlproben und (am Beispiel von Obst und Alkohol) interessante Zusammenhänge zwischen Ernährung und Metaboliten.

Fazit

Mit CapScan® kann nicht nur eine neue Ära in der Forschung des Darmmikrobioms beginnen, die Kapsel kann auch breite Anwendung in der Forschung und Entwicklung von Arzneistoffen finden. Ein erstes Beispiel ist die auf der US-Plattform für Klinische Studien (ClinicalTrials.gov) gelistete Phase 1 Studie: "Evaluierung der CapScan-Vorrichtung zur Messung des Sulfasalazin-Stoffwechsels." (Sulfasalazin wird zur Behandlung von chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen eingesetzt.) Dabei geht es darum die regionale Verteilung von Sulfasalazin, die metabolischen Abbauprodukte von Sulfasalazin und die Darmmikrobiota im Verdauungstrakt gesunder Freiwilliger zu charakterisieren. Die von Envivo Bio Inc. geleitete Studie an 10 gesunden Freiwilligen ist vor Kurzem zu Ende gegangen; sie wurde von den NIH unterstützt, die auch weiterhin die Entwicklung und klinische Evaluierung von CapScan fördern wollen.  Für ein anderes Projekt, eine klinische Studie  über die "Auswirkungen des Darmmikrobioms auf die Darmgesundheit von Müttern und Kindern in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen" die von Envivo in Zusammenarbeit mit Forschern von Stanford Medicine durchgeführt wird, hat die Bill and Melinda Gates Foundation  Mittel für zur Verfügung gestellt.


 [1] Dari Shalon et al, Profiling the human intestinal environment under physiological conditions, Nature (2023). DOI: 10.1038/s41586-023-05989-7

[2] Jacob Folz et al, Human metabolome variation along the upper intestinal tract, Nature Metabolism (2023). DOI: 10.1038/s42255-023-00777-z


 Mit CapScan könnten auch wesentliche Fragen zum Überleben von Probioika während der Darmpassage und zu ihrer Wirksamkeit  gelöst werden. Dazu:

Inge Schuster, 15.01.2023: Probiotika - Übertriebene Erwartungen?