Do, 02.09.2021 — Susana Coelho
Braunalgen sind vielzellige Eukaryonten, die sich seit mehr als einer Milliarde Jahren unabhängig von Tieren und Pflanzen entwickelt haben. Sie haben eine faszinierende Vielfalt an Körpermustern und Fortpflanzungsmerkmalen erfunden, deren molekulare Basis noch vollkommen unerforscht ist. Dr.Susana Coelho, Direktorin am Max-Planck-Institut für Entwicklungsbiologie(Tübingen), und ihr Team nutzen den Reichtum an morphologischen und sexuellen Merkmalen dieser rätselhaften Organismen, um Licht in den Ursprung der Mehrzelligkeit und in die Evolution der Bestimmung des biologischen Geschlechts innerhalb des gesamten eukaryontischen Lebensbaums zu bringen.*
Vor der Küste gibt es magische Unterwasserwälder …
Eine Welt riesiger Braunalgen, bekannt als Kelp, lebt gemeinsam mit Tausenden anderer Arten von Rot-, Braun- und Grünalgen, alle als Seetang bezeichnet, und bietet ein Kaleidoskop an Farben und Mustern (Abbildung 1). Diese Unterwasserwälder sind eine der artenreichsten Umgebungen auf unserem Planeten, die eine Vielzahl unterschiedlicher Meereslebewesen beherbergen. Algen sind nicht nur wichtige Bestandteile der Ökosysteme unserer Erde, sondern sie produzieren auch die Hälfte des Sauerstoffs, den wir in Küstengebieten atmen, und spielen eine Schlüsselrolle bei der Kohlenstoffbindung im Meer. Seetang wurde zum Schlagwort für Futuristen und wird zunehmend als Nahrungsquelle und für die Kosmetik- und Pharmaindustrie sowie zur Herstellung biologisch abbaubarer Kunststoffe verwendet.
Abbildung 1. Abbildung 1. Eine Welt riesiger Braunalgen lebt gemeinsam mit Tausenden anderer Arten von Rot-, Braun- und Grünalgen und bietet ein Kaleidoskop an Farben und Mustern.© W. Thomas, Centre national de la recherche scientifique (CNRS), Frankreich |
... aber wir wissen so wenig über diese erstaunlichen Organismen
Obwohl sie auf Sonnenlicht angewiesen sind, um Photosynthese zu betreiben, sind Braunalgen keine Pflanzen. Sie haben keine Wurzeln, Blätter oder Stängel, um Nährstoffe zu transportieren. Stattdessen bezieht jede Zelle das, was sie braucht, direkt aus dem Meerwasser. Braunalgen haben sich vor mehr als einer Milliarde Jahren unabhängig von Tieren und Landpflanzen entwickelt. Ihr letzter gemeinsamer Vorfahre war ein Einzeller, was bedeutet, dass Tiere, Pflanzen und Braunalgen die Mehrzelligkeit eigenständig erfunden haben.
Braunalgen sind die drittkomplexeste vielzellige Abstammungslinie auf unserem Planeten, wobei einige Arten eine Länge von mehr als 50 Metern erreichen und eine bemerkenswerte Vielfalt an Wachstumsgewohnheiten, Lebenszyklen und Geschlechtsbestimmungssystemen aufweisen. Während bisher enorme Anstrengungen unternommen wurden, die Entwicklungs- und Reproduktionsbiologie von Tieren und Landpflanzen zu verstehen, wurden Braunalgen fast vollständig ignoriert, und es ist nur sehr wenig darüber bekannt, wie diese Organismen auf molekularer Ebene funktionieren.
Meeresalgen helfen, grundsätzliche Fragen der Evolutions- und Entwicklungsbiologie zu beantworten
In unserer Abteilung widmen wir uns denjenigen Prozessen, die dem Übergang vom Einzeller zur komplexen Multizellularität zugrunde liegen - einem wichtigen evolutionären Ereignis, das bei Eukaryonten nur selten aufgetreten ist. Wir verwenden eine Reihe von computergestützten und experimentellen Ansätzen und nutzen die Vielfalt der morphologischen und reproduktiven Merkmale der Meeresalgen.
Wir haben Ectocarpus, eine kleine filamentöse Braunalge, als Modellorganismus gewählt, um die molekularen Grundlagen ihres Wachstumsprozesses zu untersuchen. Ectocarpus weist ein relativ einfaches Entwicklungsmuster mit wenig verschiedenen Zelltypen auf. Durch ultraviolette Bestrahlung wurden Entwicklungsmutanten erzeugt, und die betroffenen Gene wurden durch klassische genetische Analyse identifiziert. Danach wurden mehrere dieser Mutanten eingesetzt, um die Bildung bestimmter Entwicklungsmuster zu verstehen. So haben wir gefunden, dass Mutationen im Gen DISTAG (DIS) bei Dis-Mutanten zu architektonischen Anomalien in der keimenden Ausgangszelle führen, einschließlich einer Vergrößerung der Zelle, einer Desorganisation des Golgi-Apparats, einer Störung des Mikrotubuli-Netzwerks und einer anomalen Positionierung des Zellkerns. DIS kodiert TBCCd1, ein Protein, das eine zentrale Rolle bei der Zellorganisation auch bei Tieren, Grünalgen und Trypanosomen spielt - also über extrem entfernte eukaryotische Gruppen hinweg. Dieses Resultat könnte uns den Weg weisen, zu verstehen, wie der genetische Werkzeugkasten des letzten gemeinsamen Vorfahren aller Eukaryoten beschaffen war, und wie sich bestimmte Merkmale im vielzelligen Leben entwickelt haben.
Vögel tun es, Bienen tun es, und Algen tun es auch
Die Entwicklung des Geschlechts und geschlechtsbezogener Phänomene beschäftigt und fasziniert Biologen seit Jahrhunderten, und viele Fragen zur evolutionären Dynamik der sexuellen Fortpflanzung bleiben noch unbeantwortet. Wir verwenden unsere Braunalgen, um den Ursprung und die Entwicklung der Geschlechtschromosomen zu verstehen. Wir haben entdeckt, dass bei den meisten Braunalgen das weibliche Geschlecht durch ein einziges sogenanntes „U“-Geschlechtschromosom bestimmt wird, während das männliche Geschlecht durch ein einziges „V“-Geschlechtschromosom bestimmt wird. Diese Organisation steht im Gegensatz zum Geschlechtschromosomensystem vieler Tiere, bei dem die Männchen ein Y- und ein X-Chromosom und die Weibchen zwei X-Chromosomen tragen. Obwohl das U/V-System auf den ersten Blick sehr unterschiedlich zum tierischen – und menschlichen - XX/XY System scheint, hat unsere Arbeit gezeigt, dass alle diese Geschlechtschromosomen universelle Merkmale aufweisen, darunter die Unterdrückung der Rekombination, die Anhäufung repetitiver DNA, die Bewegung von Genen vom Geschlechtschromosom zu den anderen Chromosomen und das Vorhandensein eines Master-Switch-Gens, das das biologische Geschlecht innerhalb der sich nicht rekombinierenden Genomregion bestimmt.
Bei Eukaryonten wurden bislang nur wenige Hauptgene für die Bestimmung des biologischen Geschlechts identifiziert. Unter diesen Hauptgenen sind Proteine der High-Mobility-Group-(HMG)-Domäne in die Bestimmung des biologischen Geschlechts bei Wirbeltieren und Pilzen involviert. Bemerkenswerterweise haben wir ein HMG-Domänen-Gen auch im V-Chromosom von Ectocarpus und allen anderen männlichen Braunalgen, die wir untersucht haben, identifiziert. Dieses Gen ist daher ein Kandidat für das geschlechtsbestimmende Hauptgen in Meeresalgen, was wichtige Fragen über die Evolution der geschlechtsbestimmenden Gen-Netzwerke in den Eukaryonten insgesamt aufwirft.
Unsere Forschung an Braunalgen wird dazu beitragen, unser Wissen zu erweitern, wie Geschlechtschromosomen und die Bestimmung des biologischen Geschlechts funktionieren, indem sie evolutionären Modellen eine breitere phylogenetische Dimension verleiht.
*Der vorliegende Artikel von Susana Coelho ist in dem neuen Jahrbuch 2020 der Max-Planck-Gesellschaft unter dem Titel " Das Privatleben der Braunalgen: Ursprünge und Evolution einer vielzelligen, sexuellen Entwicklung" (https://www.mpg.de/16324504/eb_jb_20201?c=151755)erschienen und kann mit freundlicher Zustimmung der MPG-Pressestelle und der Autorin von ScienceBlog.at weiterverbreitet werden. Text und Abbildung wurden unverändert übernommen.
Weiterführende Links
Max-Planck-Institut für Entwicklungsbiologie, Abteilung für Algen-Entwicklung und Evolution: https://www.eb.tuebingen.mpg.de/de/department-of-algal-development-and-evolution/home/
usoceangov: Underwater Kelp Forests (2009). Video 3:13 min. https://www.youtube.com/watch?v=GcbU4bfkDA4
The Nature Conservancy in California: Virtual Dive: Kelp Forests off the California Coast (2020). Video 2:15 min. https://www.youtube.com/watch?v=8LZz7DJyA10
Erlendur Bogason: The Seaweed Jungle (2014). Video 3:16 min; https://www.youtube.com/watch?v=hQ6tNi3FLhU
Wikipedia: Brown algae https://seaiceland.is/what/algae/brown-algae
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Algen im ScienceBlog:
Georg Pohnert, 14.11.2019: Plankton-Gemeinschaften: Wie Einzeller sich entscheiden und auf Stress reagieren
Christian Hallmann, 20.11.2015: Von Bakterien zum Menschen: Die Rekonstruktion der frühen Evolution mit fossilen Biomarkern
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