Weltweite Ausbreitung der Delta-Variante und Rückkehr zu Großveranstaltungen

Do, 26.08.2021 — Ricki Lewis

Ricki LewisIcon Medizin Vor wenigen Tagen ist ein Bericht über ein Popkonzert-Experiment erschienen, das vor einem Jahr stattgefunden hat; das Ziel war das Risiko einer SARS-CoV-2 Verbreitung bei Massenveranstaltungen in geschlossenen Räumen zu evaluieren und gegebenenfalls zu reduzieren. Die Genetikerin Ricki Lewis fragt hier, inwieweit die aus dem Experiment gewonnenen Ergebnisse und erstellten Modelle zu Belüftungs- und Hygienemaßnahmen auch noch in der Welt der ansteckenderen und sich rascher verbreitenden Delta-Variante gelten und wie man weiteren noch kommenden Varianten begegnen sollte.*

Ein "Popkonzert-Experiment“ simuliert Virusausbreitung

Heute früh (d.i. am 19.August 2021; Anm. Redn) habe ich mich über eine neue Veröffentlichung gefreut, die unter dem Titel „Das Risiko von Hallensport- und Kulturveranstaltungen für die Übertragung von COVID-19“ im Journal Nature Communications erschienen ist [1]. Stefan Moritz und Kollegen in Deutschland haben im August 2020 „ein Popkonzert-Experiment“ veranstaltet (Abbildung 1) und festgestellt, dass bei guter Belüftung und „geeigneten Hygienemaßnahmen“ die virusverbreitenden Aerosole und Tröpfchen in Grenzen gehalten werden können.

Abbildung 1: Rückkehr zu Massenveranstaltungen in geschlossenen Räumen. (Symbolfoto von Redn eingefügt, Quelle: Pixabay, c 0)

Die 1.212 Besucher haben Monitore getragen, die ihre Bewegungen registrierten und waren jeweils einem „Hygiene-Szenario“ zugeordnet:

  • ohne Einschränkungen - d.i. Szenario wie vor der Pandemie
  • mit moderaten Einschränkungen (Schachbrettbestuhlung und Verdopplung der Eingänge)
  • mit starken Einschränkungen (Sitzplatzabstand 1,5 m und Vervierfachung der Eingänge).

Im Durchschnitt hatte jeder Konzertbesucher Kontakte mit neun anderen, zumeist beim Hinein- und Herausgehen. Personen im Szenario "ohne Einschränkungen" hatten während der gesamten Veranstaltung Kontakte von mehr als 5 Minuten, im Vergleich dazu gab es in den anderen Szenarien wenige und kurze Begegnungen.

Basierend auf diesen anfänglichen Ergebnissen entwickelten die Forscher ein Modell mit der Annahme, dass sich in einem geschlossenen Raum unter 4.000 Besuchern 24 infektiöse Personen befinden, wobei zwei Belüftungsszenarien mit unterschiedlichen Luftaustauschraten und Luftströmungen und das Tragen von Masken in das Modell eingingen. Bei einem schnelleren Luftaustausch gab jede infizierte Person das Virus im Durchschnitt an 3,5 andere Personen weiter. Bei langsameren Luftaustausch wurde das Virus auf 25,5 Menschen verbreitet – d.i. mehr als eine siebenfache Steigerung. Das Tragen von Masken reduzierte die Übertragung .

Die Schlussfolgerung der Forscher: „Das Infektionsrisiko bei Massenveranstaltungen in geschlossenen Räumen hängt maßgeblich von der Qualität des Lüftungssystems und den Hygienepraktiken ab. Unter der Voraussetzung eines effektiven Belüftungssystems haben Massenveranstaltungen in Innenräumen bei geeigneten Hygienepraktiken - wenn überhaupt - einen sehr geringen Einfluss auf die Ausbreitung der Epidemie“.

Das aber war damals. Vor einem Jahr.

Die Delta-Variante und das Popkonzert-Experiment

Das Konzert-Experiment in Deutschland hat für das Virus eine zu optimistische Reproduktionszahl R0 = 1 verwendet, das heißt, ein Infizierter gibt das Virus im Durchschnitt an einen anderen weiter. Tatsächlich hatte das ursprüngliche SARS-CoV-2 einen R0-Wert von 2,3 bis 2,7, die Alpha-Variante, die in Großbritannien ihren Ausgang nahm, hatte ein R0 von 4 bis 5 und die Delta-Variante, die jetzt auf der ganzen Welt stark ansteigt, ein R0 von 5 bis 8. (Abbildung 2)

Abbildung2: Die Delta-Variante verursacht höhere Infektionszahlen und verbreitet sich rascher als frühere Formen des SARS-CoV-2- Virus. (Bild von Redn. eingefügt. Quelle: US-Center for Disease Control and Prevention, update vom 19.8.2021: https://www.cdc.gov/coronavirus/2019-ncov/variants)/delta-variant.html.

Die Zeiten haben sich geändert und die Millionen (in den USA) von Nichtgeimpften haben es dem Virus ermöglicht, ausreichend umherzufliegen, um zu einer höheren Übertragbarkeit zu mutieren.

Aber wie haben sich frühere Inkarnationen des Virus in Delta verwandelt? Es stellt sich heraus, dass hinter der schnelleren Übertragbarkeit die allerkleinste Veränderung steckt – es ist nur eine RNA-Base, die in einem entscheidenden Teil des Spike-Proteins gegen eine andere ausgetauscht wird. Eine einzelne, einfache Mutation, eine der neun, welche die Delta-Variante ausmachen, findet globales Echo. (https://www.cdc.gov/coronavirus/2019-ncov/variants/delta-variant.html.)

Wie die Delta-Variante die Welt so schnell erobert hat

Die Viren sind mit Stacheln dekoriert, die sich an unseren Zellen festsetzen, wie Seeigel, die sich in Sand graben. Jedes Spike-Protein besteht aus zwei Teilen: S1, das den Spike mit der menschlichen Zelle fusioniert, und S2, das das Virus in die Zelle bringt. S1 und S2 müssen allerdings auseinander geschnitten werden, um ihre Aufgaben zu erfüllen.

Die Mutation, die den Eintritt von Delta in unsere Zellen beschleunigt, genannt P681R, verformt die Schnittstelle von S1 und S2 auf eine Weise, die das Schnippseln beschleunigt, wodurch das Virus viel schneller mit der Zelle fusioniert und eindringt (ein bisschen so, wie wenn im deutschen Rockkonzert-Szenario die Türen weiter geöffnet werden, damit mehr Personen schneller eintreten können). Wie dies alles abläuft, hat ein Team an der University of Texas Medical Branch in einer eleganten Reihe von Experimenten gezeigt; die Ergebnisse sind als Preprint verfügbar (https://www.biorxiv.org/content/10.1101/2021.08.12.456173v1)  Genetische Anweisungen des Virus infiltrieren dann die Wirtszelle, sodass sie neue Viren herstellt, verpackt und mit diesen schlussendlich explodiert.

(Nebenbei notiert: P681R bezieht sich auf den Austausch eines Arginins (R) gegen ein Prolin (P) an Position 681 im Spike-Protein und resultiert aus einer einzelnen RNA-Basenänderung. Das Spike-Protein ist eine Kette von 1273 Aminosäuren – daher stammt der ursprüngliche Name des Moderna-Impfstoffs, mRNA- 1273.)

Abbildung3: Die Struktur des SARS-CoV-2 Spike-Proteins in einer Präfusions-Konformation (Code 6VSB). Strukturanalyse mittels Kryoelektronenmikroskopie bei 3,46 Angstrom Auflösung.(Bild von Redn. eingefügt, Quelle: Datenbank  https://www.rcsb.org/3d-view/6VSB/1,)

DiePosition 681 im Spike-Protein ist auch deshalb von Interesse, weil sie ein Ziel für ein proteinschneidendes Enzym namens Furin ist. Abbildung 3. Die „Furin-Spaltungsstelle“ ist von zentraler Bedeutung für die „Laborleck“-Hypothese zum Ursprung des Virus.

Die 4 Aminosäuren lange Stelle in der Spitze, an der Furin schneidet, bildet eine Signatur, die mittels Algorithmen zwischen den verschiedenen Spezies verglichen wird, um daraus die Entwicklung des neuartigen Coronavirus abzuleiten. Furin-Spaltungsstellen wurden in bestimmten Typen von Coronaviren gefunden, die von Nagetieren oder Fledermäusen stammten, aber nicht in den nächsten bekannten Verwandten von SARS-CoV-2; so kam die Idee eines im Labor hergestellten Fledermaus-Coronavirus auf, das dann zu SARS-CoV-2 führte. Oder aber: wir haben die nächsten verwandten Virustypen nur noch nicht identifiziert. Die Wissenschaft bietet nie einen festen Beweis und häuft selten Befunde zu umfassenden Theorien an. Stattdessen untersuchen wir alternative Hypothesen - eine nach der anderen -, um Wissen zu vermehren und neue Fragen zu stellen.

Fazit

Gelten die in in der heutigen Publikation in Nature Communications beschriebenen Ergebnisse des Popkonzert-Experiments, die ausreichende Belüftungs- und Hygienemaßnahmen zur Eindämmung der Virusausbreitung bei Massenversammlungen in Innenräumen proklamierten, auch in der Welt der Delta-Variante? Wie werden es Maßnahmen im Bereich der öffentlichen Gesundheit für noch kommende Varianten halten? Was werden ähnliche Simulationen ergeben, wenn das Publikum nach dem Impfstatus analysiert wird, etwas, das vor einem Jahr noch nicht möglich war?

Wir wissen es nicht. Aber eines wissen wir mit Sicherheit: Mutation und Evolution sind Naturgewalten, die wir nicht kontrollieren können. Neue Mutationen werden aus Replikationsfehlern entstehen, sich zu sogenannten Varianten kombinieren und Populationen positiver natürlicher Selektion durchlaufen, wenn sie für das Virus von Vorteil sind, wie es für die P681R-Mutation in der Delta-Variante der Fall ist.

Da wir die Kräfte der Natur nicht ändern können, müssen wir mit den Waffen, die wir bereits haben, alles einsetzen, was möglich ist – Impfstoffe, Distanzierung, Masken. Aber um gesund zu bleiben, denke ich, dass es gut ist, ab und zu einen Hauch von Normalität zu erleben.

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[1] Stefan Moritz et al., The risk of indoor sports and culture events for the transmission of COVID-19. Nat Commun 12, 5096 (19.8.2021). https://doi.org/10.1038/s41467-021-25317-9.


* Der Artikel ist erstmals am 19.August 2021 in PLOS Blogs - DNA Science Blog unter dem Titel "Returning to Live Music and How a Tiny Mutation Sent Delta All Over the World" https://dnascience.plos.org/2021/08/19/returning-to-live-music-and-how-a-tiny-mutation-sent-delta-all-over-the-world/ erschienen und steht unter einer cc-by Lizenz . Die Autorin hat sich freundlicherweise mit der Übersetzung ihrer Artikel durch ScienceBlog.at einverstanden erklärt, welche so genau wie möglich der englischen Fassung folgen. Passende Abbildungen und Legenden wurden von der Redaktion eingefügt.


Artikel zum Thema COVID-19 im ScienceBlog:

Vom Beginn der Pandemie an waren bis jetzt 36 Artikel (rund 50 % aller Artikel), darunter 5 Artikel von Ricki Lewis, diesem Thema gewidmet. Die Links zu diesen Artikeln finden sich im Themenscherpunkt Viren.