Fr, 07.08.2015 - 06:08 — IIASA
Konventionell gesehen gilt man mit 65 Jahren als alt. Die Bevölkerungsgruppe der über 65-Jährigen nimmt auf Grund einer kontinuierlich steigenden Lebenserwartung und einer gleichzeitig sinkenden Fertilität enorm zu, deren Unterhalt und Pflege bedeuten eine enorme ökonomische Belastung für die Gesellschaft. Tatsächlich bedeutet ein Alter + 65 aber nicht automatisch Abhängigkeit und Krankheit. Forscher am Internationalen Institut für Angewandte Systemanalyse (IIASA) erarbeiten bahnbrechend neue Maßstäbe, die – weg von der Zahl der bereits gelebten Jahre – Alter durch die noch zu erwartende Lebensspanne definieren („prospective age“) und in einem weiteren Schritt die physischen und psychischen Fähigkeiten („characteristics approach“) miteinbeziehen [1].
"Altern ist ein multidimensionaler Prozess. Menschen können in bestimmten Aspekten alt sein, in anderen dagegen ganz jung." Sergej Scherbow
Im Jahr 1877 hat Tschaikowsky in einem Brief den damals 49 jährigen Schriftsteller Tolstoi als einen geschwätzigen alten Mann beschrieben. Im Jahr 2012 hat die damals 46-järige Schwimmerin Dara Torres Dutzende junge Spitzenathleten besiegt und die Qualifikation für die Olympischen Spiele nur knapp verfehlt, nachdem sie zuvor 3 Silbermedaillen von den Olympischen Spielen 2008 nachhause gebracht hatte.
Das Alter ist nicht mehr das, was es früher einmal war, insbesondere nicht in den entwickelten Ländern. Heute leben die Menschen länger und bleiben über viele der zusätzlichen Jahre gesünder. Heute beträgt die durchschnittliche Lebenserwartung in Europa bereits über 80 Jahre, um 1900 lag sie um die 50 Jahre.
Die steigende Lebenserwartung verbunden mit einer sinkenden Fertilitätsrate hat aber in vielen Industriestaaten Beunruhigung über die rapide Alterung der Gesellschaft und die damit verbundenen volkswirtschaftlichen Auswirkungen ausgelöst. Sergei Scherbov, der stellvertretende Leiter des Weltbevölkerungs-Programm am Internationalen Institut für angewandte Systemanalyse (IIASA), sieht dies etwas anders. Er und seine Kollegen schwächen die Befürchtungen ab, weil diese auf überholten und zu starren Definitionen dessen beruhen, was Alter heute bedeutet. Im Rahmen eines Advanced Grant des Europäischen Forschungsrats (ERC) arbeiten sie nun daran neue Messmethoden zu entwickeln, um das Altern der Gesellschaft zu erfassen und die Politik diesbezüglich umfassender beraten zu können.
Wer ist alt? Eine neue Betrachtungsweise
Scherbow und Kollegen wenden in zunehmendem Maße einen neuen Maßstab an, um Personen als alt einzustufen. Anstatt zu sagen „mit 65 Jahren sind Menschen alt“, zählen sie nun von der voraussichtlichen Lebenserwartung einer Person zurück und bezeichnen jemanden als alt, wenn dieser im Mittel nur mehr 15 Jahre Lebensspanne vor sich hat. Mit diesem „vorausschauenden Ansatz“ („prospective approach“) erscheint Altern in einem völlig anderen Licht, als wenn man herkömmliche Maßstäbe ansetzt (Abbildung 1).
Abbildung 1. Das Altern in Europa – neu bestimmt. Üblicherweise wird der Beginn des Alters mit 65 Jahren festgesetzt und der Anteil der + 65 Bevölkerung zur Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter (meist 20 – 64 Jahre) in Beziehung gesetzt (=old-age dependency ratio (OADR) – gelbe Linien). Der „prospective approach“ stuft dagegen Menschen als alt ein, wenn sie 15 (und weniger) Jahre Lebensspanne vor sich haben. Wird der Bevölkerungsanteil ab diesem Grenzwert in Beziehung gesetzt zur Bevölkerung 20 Jahre - bis zu diesem Grenzwert (= prospective old-age dependency ratio (POADR) – blaue Linien), so fällt die prognostizierte Alterung der Bevölkerung viel schwächer aus als nach der konventionellen fixen Altersfestlegung.(Abbildung von der Redaktion beigefügt; Quelle: European Demographic Data Sheet 2014 [2])
So zeigen Scherbov und sein Kollege Warren Sanderson (IIASA und Stony Brook University, N.Y.) in einer eben erschienenen Studie [3], dass unter Anwendung des neuen „vorausschauenden Ansatzes“ schnellere Anstiege in der Lebenserwartung tatsächlich zu einer langsameren Alterung der Bevölkerung führen. „Der Zeitpunkt, ab dem jemand als alt gilt, ist sehr wichtig“, sagt Sanderson, „weil dieses Alter ja häufig als Indikator für zunehmende Behinderung, Abhängigkeit und verringerte Erwerbsfähigkeit herangezogen wird. Ein Anpassen an das, was wir als Beginn des Alters betrachten, ist unerlässlich – sowohl, um das Altern einer Bevölkerung wissenschaftlich zu verstehen, als auch um Richtlinien auszuarbeiten, die in Einklang mit unserer gegenwärtigen demographischen Situation stehen." (Abbildung 2).
Abbildung 2. Die Altersgrenze ab der die verbleibende Lebensspanne (weniger als) 15 Jahre beträgt; 2013 und Prognose für 2050 (Abbildung von der Redaktion beigefügt; Quelle: European Demographic Data Sheet 2014 [2])
Nach Meinung der Wissenschafter müsste eine der Konsequenzen darin bestehen, dass das Pensionierungsalter nicht festgelegt sein dürfte, sondern sich entsprechend der Lebenserwartung und den Fähigkeiten von Personen in den verschiedenen Altersstufen dynamisch ändern sollte.
Paradigmenwechsel – Alter definiert auf Grund von physischen und mentalen Fähigkeiten
Auch dem „vorausschauenden Ansatz“ der Altersbestimmung können wichtige Aspekte fehlen. Wenn Menschen zwar länger leben, dafür aber gegen das Lebensende hin über längere Zeit krank oder behindert sind, hat das andere gesellschaftliche Auswirkungen, als wenn Menschen in höherem Alter gesund und auch noch erwerbsfähig bleiben. Scherbov und Sanderson erarbeiten nun eine Reihe neuer Maßzahlen, die in Summe ein wesentlich umfassenderes Bild des Status der Bevölkerung geben können. Sie bezeichnen dies als „characteristics approach“, eine Methode, bei der messbare physische und mentale Eigenschaften im Mittelpunkt stehen. Ein erstes Set dieser Eigenschaften kann in einem 2013 erschienenen Artikel nachgelesen werden [4]. Im vergangenen Jahr zeigten die Forscher beispielsweise, dass die Kraft eines Händedrucks sehr gut mit anderen Indikatoren des Alterns – zunehmende Behinderung, Verringerung kognitiver Fähigkeiten, Sterblichkeitsrate - korreliert und als Maßstab verwendet werden könnte, um Alterung in verschiedenen Bevölkerungsgruppen zu vergleichen [5].
„Altern ist ein multidimensionaler Prozess. Menschen können in bestimmten Aspekten alt sein, in anderen dagegen ganz jung“ sagt Scherbow. „ Beispielweise ist man mit 20 Jahren bereits zu alt, um anzufangen Geige zu spielen. Andererseits wurden Mitglieder des Sowjet-Politbüros für jung erachtet, wenn sie 60 waren. Es hängt davon ab, was wir von den Menschen erwarten“.
Ausblick
Die IIASA Forscher dehnen ihre Untersuchungen nun auch auf Länder außerhalb Europas aus. Beispielsweise zeigen viele Länder in Asien ähnlich niedrige Fertilitätsraten wie Europa und steigende Lebensspannen. Rund um die demographischen Studien des IIASA wächst die Gemeinschaft der Forscher, die neue Methoden der Altersmessung entwickeln. Von Scherbov und Sanderson organisiert, hat eine erste große internationale Konferenz zu “New Measures of Age and Ageing“ im Dezember 2014 in Wien stattgefunden. Ein Großteil der Präsentationen, die sich auch mit den Auswirkungen der neuen Methoden der Altersbestimmung auf Gesellschaft und Politik befassten, sind online abrufbar [6].
Schlussendlich reagiert dieses Gebiet demographischer Forschung auf die um sich greifenden Änderungen biologischer und sozialer Natur, reflektiert also die reale Welt um uns herum. Das Alter muss dynamisch definiert werden - wie es Scherbov einfach ausdrückt: „Wir können nicht sagen, dass ein 65-jähriger Mensch heute dasselbe bedeutet, wie ein 65-Jähriger vor 100 Jahren oder, wie ein 65-Jähriger in 100 Jahren sein wird.“
[1] Forever joung? Der von der Redaktion aus dem Englischen übersetzte Text stammt aus dem Options Magazin (Juni 2015) der IIASA, die freundlicherweise einer Veröffentlichung in unserem Blog zugestimmt hat. http://www.iiasa.ac.at/web/home/resources/publications/options/150614-fo.... Die Abbildungen wurden von der Redaktion zugefügt und stammen ebenfalls aus IIASA-Unterlagen.
[2] European Demographic Data Sheet 2014 http://www.iiasa.ac.at/web/home/research/researchPrograms/WorldPopulatio...
[3] W.C.Sanderson, S. Scherbov. Faster Increases in Human Life Expectancy Could Lead to Slower Population Aging. PLOSone (2015), DOI: 10.1371/journal.pone.0121922 http://journals.plos.org/plosone/article?id=10.1371/journal.pone.0121922
[4] Sanderson, W. C. and Scherbov, S. (2013), The Characteristics Approach to the Measurement of Population Aging. Population and Development Review, 39: 673–685. doi: 10.1111/j.1728-4457.2013.00633.x
[5] Sanderson, W., and S. Scherbov. (2014) Measuring the Speed of Aging Across Population Subgroups. PLOS ONE. http://dx.plos.org/10.1371/journal.pone.0096289
[6 ] International Conference on New Measures of Age and Ageing , Vienna, 3 - 5 December 2014. http://www.oeaw.ac.at/vid/newage/
Weiterführende Links
"New Measures of Age and Aging" Interview mit Sergej Scherbov Video 8:40 min. https://www.youtube.com/watch?v=aYT-whbRSwQ
Unterschiedliche Aspekte des Themas „Altern“: damit haben sich bereits mehrere Autoren im ScienceBlog auseinandergesetzt: Christian Ehalt, Ilse-Kryspin Exner, Gottfried Schatz, Georg Wick.
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