Metformin: Vom Methusalem unter den Arzneimitteln zur neuen Wunderdroge?

Fr, 10.04.2015 - 06:25 — Hartmut Glossmann Hartmut GlossmannIcon Medizin

Metformin, ein kleines synthetisches Molekül, ist seit über 50 Jahren Nummer 1 in der Behandlung von Typ II Diabetes. Bei sehr hoher Wirksamkeit zeigt Metformin erfreulich wenige unerwünschte Nebenwirkungen und wird jährlich von mehr als 100 Millionen Patienten angewandt. Nahezu zahllose klinische Untersuchungen wurden bis jetzt mit dem Medikament durchgeführt. Der Pharmakologe Hartmut Glossmann – ein Pionier der Biochemischen Pharmakologie – erzählt, wie nun retrospektive Analysen dieser Studien ein überaus breites Potential neuer Wirkungen – u.a. gegen Krebserkrankungen, Entzündungen, bis hin zum Verzögerung des Alterungsprozesses - erkennen lassen.

Weltweit sind laut WHO 347 Millionen Menschen an Diabetes mellitus erkrankt, davon 90 % an Typ II Diabetes, der nicht Insulin-abhängigen Form der Zuckerkrankheit (früher hieß diese „Alter-Diabetes“) - Tendenz steigend. Der erhöhte Blutzucker (Hyperglykämie) führt langfristig zu schwerwiegenden Schädigungen vor allem des Herz-Kreislaufsystems und des Nervensystems. Nummer 1 in der Behandlung dieser chronischen Erkrankung ist Metformin. Seit über 50 Jahren wird das Medikament erfolgreich angewandt (in Österreich u.a. unter den Handelsnamen Glucophage, Diabetex ) und mehr als 100 Millionen Patienten bekommen es jährlich verschrieben.

Von der Heilpflanze zum Arzneimittel

Metformin ist ein kleines, stickstoffreiches stark basisches Molekül, das zur Gruppe der sogenannten Biguanidine (das sind Verbindungen mit 2 kondensierten Guanidinen; Abbildung 1) gezählt wird.

Abbildung 1. Die Geißraute (links) wurde schon seit dem Mittelalter gegen viele Krankheiten, darunter auch Diabetes, eingesetzt. Als Wirkstoffe wurden in den 1920er Jahren Galegin und Guanidin identifiziert. Metformin leitet sich von diesen Verbindungen ab.

Wie auch der Großteil anderer Arzneimittel leitet sich Metformin von Naturstoffen her: im konkreten Fall von Inhaltsstoffen in der für Menschen an und für sich giftigen Geißraute (Galega officinalis). Dieses „Kraut“ wurde bereits seit dem Mittelalter als Heilpflanze bei verschiedensten Krankheiten eingesetzt, von Diabetes bis hin zu Infektionen (u.a. Pest, Fleckfieber und Pocken). Sogar zur besseren Milchleistung von Nutztieren wurde Metformin angewandt. Die aufkommende chemische Analytik zu Beginn des 20. Jahrhunderts ermöglichte es in den Pflanzenextrakten antidiabetisch wirksame Prinzipien festzustellen: Guanidin und sein, nach der Pflanze benannter, Metabolit „Galegin“.

Guanidin selbst erwies sich als zu toxisch für die klinische Anwendung, Galegin wurde an einer Reihe von Diabetes-Patienten – offensichtlich erfolgreich – eingesetzt. Insgesamt suchte man aber nach Guanidin-basierten Verbindungen mit höherer Wirksamkeit und einem verbesserten Sicherheitsprofil. Unter diesen Verbindungen war Metformin. Es war bereits 1923 in Deutschland synthetisiert worden, hatte in Tierexperimenten blutzuckersenkende Wirkung gezeigt und schien überdies anti-entzündliches (anti-inflammatorisches) Potential zu besitzen. Offenbar war die Zeit für seine Entwicklung noch nicht gekommen und es sollte aber noch bis 1957 dauern, bis ein französischer Forscher die antidiabetische Wirkung von Metformin am Menschen nachwies. Damit begann der Siegeszug des Antidiabetikums: es erwies sich nicht nur als ein wirksames, weitgehend sicheres Medikament mit nur geringen Nebenwirkungen, sondern - auf Grund seiner einfachen chemischen Struktur – auch als recht kostengünstig in der Herstellung. Die Wirkung in kurzen Worten zusammengefasst: Metformin reduziert die Neubildung von Glukose (vor allem) in der Leber ohne dabei die Insulinausschüttung zu erhöhen und ohne, dass es zu einer Zunahme des Körpergewichts kommt.

Vom alten Antidiabetikum zur neuen Panacaea

In den vergangenen mehr als 50 Jahren sind zahllose Studien an Millionen von Typ2 Diabetikern durchgeführt worden, welche Metformin als Monotherapie oder als Bestandteil einer Kombinationstherapie erhielten. Durch retrospektive Analysen dieser Untersuchungen entdeckt man nun seit etwa 2005 neue Wirkungen, u.a. eine:

  • Anti-Cancer Wirkung: eine rezente Metaanalyse von nahezu 1.5 Millionen Patientendaten kommt zum überraschenden Schluss, dass Metformin die Krebshäufigkeit bei Diabetikern signifikant senkt. Dazu muss man vorausschicken, dass Diabetiker generell ein erhöhtes Risiko haben an Krebs verschiedener Organe – beispielsweise an Brustkrebs, Pankreas-Ca oder Colon-Ca - zu erkranken.
  • Anti-Psoriasis Wirkung: Andere Analysen sprechen dafür, dass Metformin das Risiko für Psoriasis - allerdings nur bei Männern - vermindert.
  • Verzögerte Progression von metabolischem Syndrom zu Diabetes: Hypothesen zur Wirksamkeit von Metformin im Vergleich zu Plazebo und „life-style“ Intervention wurden in (prospektiven) Studien getestet; sie belegen: Metformin kann das Fortschreiten von metabolischem Syndrom zum Diabetes verzögern.
  • Reduktion kardiovaskulärer Ereignisse: Metformin vermindert bei übergewichtigen Diabetikern kardiovaskuläre Ereignisse im Vergleich zu anderen Antidiabetika inklusive Insulin. Mit Hilfe spezifischer Biomarker für Entzündungsprozesse gelingt es anti-inflammatorische Wirkungen bei mit Metformin behandelten Typ 2 Diabetikern nachzuweisen.

Metformin besitzt also ein vielversprechendes Potential präventiv und therapeutisch in diversesten Krankheiten zu wirken. Derzeit laufen weltweit mehr als 370 klinische Studien mit Metformin, davon befassen sich mehr als 100 kontrollierte Untersuchungen mit der Anti-Cancer Wirkung gegen eine breite Palette von Tumoren (https://www.clinicaltrials.gov/). Zwei kürzlich publizierte Studien mit nicht-Diabetikern belegen, dass Metformin in sehr kleinen, fast homöopathischen Dosen (250 oder 500 mg /Tag), die Entwicklung von als Karzinom Vorstufen bewerteten Foci im Colon (colo-rectalen aberranten kryptischen Foci) verhindert. Diese Organ-selektive Wirkung ist mit hoher Wahrscheinlichkeit auf die Anreicherung von Metformin im Darmtrakt zurück zu führen.

Worauf beruhen die so verschiedenartigen Wirkungen von Metformin?

Auch nach jahrzehntelanger Anwendung von Metformin ist noch nicht völlig geklärt, wie und wo überall diese Substanz in Stoffwechselwege eingreift.

Belegt ist, dass bei oraler ( aber auch bei intravenöser !) Gabe eine extreme Anreicherung des Metformins erfolgt und zwar in den Zellen, die den Dünndarm auskleiden, aber ganz besonders auch in den Zellen entfernterer Darmabschnitte, im Colon. Für diese Anreicherung spielen Transportproteine in der Plasmamembran (Monoamin- (Serotonin-)Transporter) eine entscheidende Rolle.

Im unteren Dünndarm (Ileum) hemmt Metformin die Wiederaufnahme von Gallensäuren mit nachfolgender Stimulation eine Peptidhormons (Glukagon-Like Peptide 1 im Colon. Dies führt zu gravierenden Stoffwechselveränderungen in den Zellen des Colons, mit verstärkter Aufnahme von Glukose aus der Zirkulation ( erkennbar im Fluor-Deoxyglukose PET)und AMPK Aktivierung( siehe weiter unten).

Später, beim Eintritt in die (Leber)Zelle – u.a. über das Transportprotein OCT-1 („Organic Cation Transporter“) kommt es zur Konkurrenz mit Substanzen, die denselben Transportweg benutzen. U.a. wird die Aufnahme von Vitamin B1 (Thiamin), welches eine essentielle Rolle in der Lipidsynthese spielt, stark blockiert.

In den Zellen reichert sich Metformin in Mitochondrien an und baut sich dort spezifisch in eine Komponente (Komplex I) der Atmungskette ein. Dieser zentrale Prozess der zellulären Energiegewinnung ist auf der inneren Mitochondrienmembran lokalisiert und generiert hier die universelle Energiewährung der Zelle, das ATP (Adenosintriphosphat). Der Einbau des Metformins bewirkt eine leichte Hemmung dieses Prozesses und damit eine verminderte Produktion von ATP. Als Folge steigt der zelluläre Spiegel der Vorstufe des ATP, des Adenosinmonophosphat (AMP), an.

Erhöhtes AMP wird als Signal von Enzymen registriert welche u.a den Glukoseabbau (Glykolyse) und die Glucoseneubildung (Gluconeogenese) kontrollieren (z.B. die AMP-regulierte Phosphofructokinase). Vor allem aktiviert AMP ein Enzym – die AMP-aktivierte Proteinkinase (AMP-Kinase) -, welches als Master Regulator den Energiestatus der Zelle kontrolliert und bei reduzierter verfügbarer Energie von energieverbrauchenden Syntheseprozessen auf energieliefernde Abbauprozesse umschaltet. Dies führt langfristig zu adaptiven Veränderungen im Fettstoffwechsel , im Glukosestoffwechsel und in der Proteinsynthese - eine Vielzahl von Stoffwechselvorgängen ist davon betroffen: so wird u.a. das Entzündungsgeschehen beeinflusst, ebenso der programmierte Zelltod (Apoptose) und wichtige Proteine der Tumorabwehr aktiviert (Abbildung 2).

Abbildung 2. Wie wirkt Metformin? Stark vereinfachte Darstellung des Angriffspunkts Komplex 1 in Mitochondrien. Metformin gelangt über einen Transporter (OCT-1) in die Zelle, baut in Komplex 1 ein und reduziert die Zellatmung und damit die Entstehung von ATP. Der nun in erhöhter Konzentration vorliegende Vorläufer AMP wirkt als Signal auf mehrere Enzyme, u.a. auf die Phosphofructokinase (PFK) und stimuliert damit den Glukoseabbau. Vor allem aktiviert AMP die AMP-Kinase, einen Masterregulator, der essentielle Syntheseprozesse (e.g. von Glukose, Lipiden, Proteinen,..) „abschaltet“.

Mit dem Umschalten auf energieliefernde Abbauprozesse imitiert Metformin quasi „Fasten“ bzw. Kalorienrestriktion (es wird deshalb auch als „Calorie Restriction Mimetic“ bezeichnet). Im Tierversuch kann Metformin ebenso wie Einschränkung der Nahrungszufuhr das „Leben“ von Mäusen verlängern und zu weniger mit dem „Altern“ in Verbindung gebrachten Veränderungen wie beispielsweise Katarakten oder Tumoren führen. Dabei zeigt Metformin auch überragende anti-­entzündliche (anti‐inflammatorische) Eigenschaften. Dem ist besondere Bedeutung zuzumessen: Der Entzündungsprozeß steht derzeit im Mittelpunkt der Forschung über kausale Auslöser/Verstärker der Atherosklerose, der Pathogenese des Typ 2 Diabetes und des aggressiven Tumorgeschehens. Für die Anti-Tumorwirkungen des Metformins gibt es viele direkte, experimentelle Belege, die von Verhinderung der durch UVB-Strahlung induzierten Hauttumoren bis hin zur selektiven Abtötung von rasch wachsenden, metastasierenden Krebs Stammzellen reichen.

Für wie gefährlich sollte man Metformin einschätzen?

Der Ausspruch des Paracelsus „Alle Dinge sind Gift, und nichts ist ohne Gift; allein die Dosis macht‘s, daß ein Ding kein Gift sei“ gilt für alles, was wir zu uns nehmen. Natürlich auch für Medikamente – es gibt keine Wirkstoffe, die nicht auch unerwünschte Nebenwirkungen haben. Im Falle des Metformin werden Gefahren zweifellos überschätzt, sein Nutzen unterschätzt. Keines der in den letzten Jahren neu eingeführten Antidiabetika hat bislang die gleichen günstigen Wirkungen wie Metformin belegen können, keines hat so wenige und durchaus kontrollierbare Nebenwirkungen gezeigt, wie das an Millionen und Abermillionen von Patienten erprobte Metformin.

Die Nachteile von Metformin :

  • nach einigen Jahren kann es zu einem Vitamin B12 Mangel kommen (Ursache ungeklärt), der sich leicht korrigieren lässt.
  • Die bei Beginn einer Therapie zu beobachtenden gastro-intestinalen Nebenwirkungen (Durchfall, Übelkeit) können oft durch einschleichende Dosierung umgangen werden und sind gegenüber dem Nutzen vernachlässigbar.
  • Als schwerwiegende unerwünschte Wirkung wird im Beipackzettel die sogenannte Laktazidose zitiert, d.i. ein vermehrter Gehalt an Milchsäure in Blut und Gewebe auf Grund eines gestörten Abbaus von Glukose. Mit dem Risiko einer derartigen Laktazidose wird die Kontraindikation bei Herzinsuffizienz begründet: jedenfalls konnte in klinischen Studien an ausgewählten und überwachten Patienten eine Laktazidose nicht beobachtet werden. Für die Kontraindikation Herzinsuffizienz gibt es also keine gesicherten Belege- das Gegenteil ist eher der Fall: Patienten mit Herzinsuffizienz scheinen von Metformin zu profitieren.
  • Ebenso wird zunehmend bezweifelt, ob das pauschale Verbot von Metformin bei Einschränkung der Nierenfunktion sinnvoll ist. Die Vorteile von Metformin, insbesondere die erwartbaren Langzeitwirkungen, lassen es sinnvoll erscheinen (ähnlich wie bei vielen anderen Medikamenten) eine Nierenfunktions-abhängige Dosierung einzuführen. In unseren Kliniken ist es möglich, die Plasmaspiegel mit Massenspektromie rasch und zuverlässig zu bestimmen. Ein (vor Jahrzehnten zwischen Herstellern und Behörden vereinbarter) „Beipackzettel“ darf nicht dazu führen, dass ärztliches Handeln aufgrund überwältigender wissenschaftlicher Erkenntnisse behindert wird.

Ausblick

Die relativ milden Nebenwirkungen des Metformin lassen somit seine Verwendung „off-label“ , d.h. für Indikationen, die über die behördlich zugelassene Indikation Diabetes Typ II hinausgehen, gerechtfertigt erscheinen. Dementsprechend wird dieses Medikament bereits bei Polycystischem Ovarialsyndrom, bei metabolischem Syndrom und Prädiabetes erfolgreich angewandt. Es erscheint durchaus wahrscheinlich, dass weitere Indikationen folgen werden (Abbildung 3).

Abbildung 3. Neben der etablierten Therapie von Diabetes II, zeigt Metformin ein vielversprechendes Potential in vielen anderen Indikationen.

Die eingangs erwähnten klinischen Studien prüfen die Wirkung von Metformin gegen eine breite Palette an Krankheiten, die neben Diabetes von diversen Krebserkrankungen über Atherosklerose bis hin zur Fettsucht reichen. Bei entsprechendem Ausgang könnten damit neue Zulassungen von Metformin angestrebt werden. Ein derartiges „Drug-Repositioning“ wird heute auch mit einer Reihe anderer etablierter Medikamente angestrebt.

Darüber hinaus könnte aber auch die vorbeugende Wirkung des Metformin gegen einige unserer Zivilisationskrankheiten bis hin zum Verzögern von „Alterserscheinungen“ besondere Bedeutung erlangen (Abbildung 4). Abbildung 4. Über Wellness hinausgehend: Gesundheit, Klugheit, Jugend – kann Metformin einen Beitrag leisten? (Bild: Peter Paul Rubens (1638) „Urteil des Paris“; Prado, Madrid)


Literatur zu einzelnen Punkten dieses Artikels wird auf Wunsch zugesandt.


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