Fr, 05.06.2015 - 07:36 — Frank Stollmeier
Die heutige Artenvielfalt ist das Resultat eines langen Prozesses aus Entstehung und Aussterben von Arten. Der Verlauf dieses Prozesses lässt sich mithilfe von Fossiliendatenbanken nachvollziehen. Ein neues mathematisches Modell des Netzwerkes von Abhängigkeiten zwischen den Arten hilft, die Mechanismen dieses Prozesses besser zu verstehen. Der Physiker Frank Stollmeier (Max-Planck Institut für Dynamik und Selbstorgansisation) zeigt an Hand des Modells, unter welchen Bedingungen das Aussterben einzelner Arten ein Massenaussterben auslösen kann und weshalb die Artenvielfalt im Meer und auf dem Land einem qualitativ unterschiedlichen Wachstum folgt.*
Etwa 20 bis 40 Prozent der heute bekannten Arten gelten als vom Aussterben bedroht. Ihr Aussterben würde unseren Lebensraum dramatisch verändern. Diese bedrohten Arten leben natürlich nicht jede für sich allein, sondern sind Teil eines komplexen Ökosystems. Das Überleben einer Tierart kann beispielsweise davon abhängig sein, dass es bestimmte Beutetiere gibt, welche wiederum von bestimmten Futterpflanzen abhängen, deren Verbreitung von bestimmten Vögeln oder Insekten abhängt, und so weiter. Es gibt nur wenige Arten, die nicht in irgendeiner Weise von anderen Arten abhängig sind. Das bedeutet, dass zu den 20 bis 40 Prozent bedrohter Arten noch einmal eine unbekannte Zahl indirekt bedrohter Arten hinzukommt. Wie häufig führt das Aussterben einer Art zum Aussterben einer anderen Art? Könnte das Verschwinden einer einzelnen Art eine ganze Kettenreaktion von aussterbenden Arten auslösen?
Wenn wir das ganze Netzwerk von Abhängigkeiten zwischen den Arten kennen würden, ließen sich diese Fragen leicht beantworten. Davon sind wir allerdings weit entfernt. Die allermeisten der heute lebenden Arten sind noch gänzlich unbekannt. Und selbst die wenigen intensiv erforschten Arten sind erst seit Jahren oder einigen Jahrzehnten unter systematischer Beobachtung, was für Aussterbeprozesse ein vergleichsweise kurzer Zeitraum ist.
Um etwas über das Netzwerk von Abhängigkeiten zu lernen sind die bereits ausgestorbenen Arten besser geeignet als die heute lebenden. Es gibt Datenbanken ausgestorbener Arten, die erstellt wurden indem Tausende von Fossilienfunden nach ihrer jeweiligen Familie, Gattung und Art klassifiziert und auf ihre Entstehungszeit datiert wurden. Dies ermöglicht einen Beobachtungszeitraum von mehreren hundert Millionen Jahren. Natürlich sind auch diese Beobachtungen unvollständig, da nur von einem Bruchteil der jemals existierten Arten Fossilien gefunden wurden. Deshalb wird die Anzahl der Familien als ein Indikator für die Anzahl der Arten benutzt. Bei den Familien kann man davon ausgehen, dass diese fast vollständig erfasst sind und ihre Anzahl mit der Anzahl der Arten korreliert.
Aussterbeereignisse
Ein bekanntes Phänomen, das mithilfe der Fossiliendaten untersucht werden kann, sind die Aussterbeereignisse (Abb. 1). Bei den fünf größten Massenaussterben sind jeweils mehr als drei Viertel aller Arten ausgestorben.
Abbildung 1. Die Grafik zeigt den Anteil ausgestorbener Gattungen an der gesamten Artenvielfalt eines Zeitintervalls in Prozent. Die Markierungen zeigen auf die fünf größten Massenaussterben in der Erdgeschichte. © Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation / Stollmeier
Als naheliegende Erklärung für solche Ereignisse werden oft Naturkatastrophen globalen Ausmaßes genannt, z. B. Vulkanausbrüche, Meteoriteneinschläge oder ein plötzlicher Klimawandel. Allerdings hat es in der Erdgeschichte viele Katastrophen gegeben und nicht jedes Aussterbeereignis lässt sich eindeutig einer bestimmten Katastrophe zuordnen. Eine alternative Erklärung geht davon aus, dass die Anzahl der aussterbenden Arten weniger von der Intensität äußerer Einflüsse als von einer internen Dynamik, also den Abhängigkeiten zwischen den Arten, abhängt. Ein Aussterben einzelner Arten durch veränderte Umweltbedingungen könnte auf die direkt betroffenen Arten beschränkt bleiben oder aber Auslöser eines großen Aussterbeereignisses sein. Die in Abbildung 1 gezeigte Abfolge von Aussterbeereignissen kann demnach als ein Resultat eines Netzwerkprozesses angesehen werden.
In unserer im Juni 2014 veröffentlichten Arbeit**) wurde erstmals ein Modell vorgestellt, das mit nur wenigen, biologisch plausiblen Annahmen mehrere statistische Eigenschaften der Fossiliendaten reproduzieren kann. Das Modell geht davon aus, dass Arten ein bestimmtes Risiko haben durch äußere Umwelteinflüsse auszusterben. Das Aussterben hat zur Folge, dass auch alle Arten aussterben, die von der betroffenen Art abhängig waren. Weiterhin gibt es eine bestimmte Wahrscheinlichkeit, mit der sich aus einer bestehenden Art eine neue Art entwickelt. Eine neu entstehende Art kann von einer der bestehenden Arten abhängig sein. Abbildung 2 zeigt eine schematische Darstellung des Modells.
Abbildung 2. Schematische Illustration eines Zeitschritts des Modells. Die Punkte stehen für Arten und die Pfeile zeigen die Abhängigkeiten untereinander an. Neu entstehende Arten sind grün und aussterbende Arten rot eingefärbt.© Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation / Stollmeier
Beginnend von einer oder wenigen Arten baut sich in dem Modell mit der Zeit ein immer größeres Netzwerk von Abhängigkeiten auf. Das Interessante an diesem Prozess ist, dass das Netzwerk während es wächst eine bestimmte Form beizubehalten versucht. Wenn es viele Arten gibt, die von wenigen Arten abhängig sind, ist das Netzwerk nicht stabil und häufige große Aussterbeereignisse sind die Folge. Wenn es dagegen wenige Arten gibt, die von vielen verschiedenen Arten abhängig sind, ist das Netzwerk stabil. Die Aussterbeereignisse fallen dann kleiner aus, wodurch das Netzwerk schneller wächst und sich wieder in Richtung instabilen Zustand bewegt. Durch diese entgegengesetzt wirkenden Mechanismen wird sich das Abhängigkeitsnetzwerk unabhängig von den Anfangsbedingungen immer einem bestimmten Zustand annähern, der sich durch ein bestimmtes Verhältnis von abhängigen und unabhängigen Arten auszeichnet. Bemerkenswerterweise geschehen in dem Modell in genau diesem Zustand Aussterbeereignisse deren Häufigkeitsverteilung vergleichbar ist mit den in Abbildung 1 gezeigten Aussterbeereignissen aus den Fossiliendaten.
Das Wachstum der Vielfalt im Meer und an Land
Neben einer Beschreibung für Aussterbeereignisse bietet das Modell auch eine ganz neue Erklärung für eine Beobachtung, die seit Verfügbarkeit der Fossiliendaten für Diskussionen sorgt. Aus den Fossiliendaten lässt sich die Anzahl der zu einer bestimmten Zeit existierenden Familien bestimmen und dadurch die Entwicklung der Artenvielfalt über mehr als 500 Millionen Jahre rekonstruieren (Abb. 3). Lassen sich diese Kurven als einfache Wachstumsprozesse beschreiben?
Abbildung 3. Die Grafik zeigt die aus Fossiliendaten rekonstruierte Entwicklung der Anzahl von Familien auf der Erde. Die großen Massenaussterben sind hier nur als kleine Einbrüche zu erkennen, weil bei diesen trotz sehr vieler Arten nur wenige komplette Familien ausgestorben sind. © Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation / Stollmeier
Die meisten vorgeschlagenen Modelle für das Wachstum lassen sich auf zwei Hypothesen zurückführen. Da neue Arten aus bestehenden Arten entstehen, ist die eine Hypothese ein exponentielles Wachstum. Dem gegenüber steht die Hypothese vom logistischen Wachstum, bei dem die Vielfalt nach anfänglichem Wachstum eine Sättigung erreichen würde, weil der Platz, die Energie und andere Ressourcen auf der Erde begrenzt sind.
Schaut man zunächst nur die Entwicklung der Artenvielfalt auf den Kontinenten an, dann scheint das exponentielle Wachstum dafür eine gute Beschreibung zu sein. Bei der Kurve für die Vielfalt im Meer sieht man aber nach einem anfänglichen Wachstum einen bemerkenswert langen Zeitraum von über 200 Millionen Jahren in dem sich die Vielfalt kaum verändert hat oder sogar leicht gesunken ist. Dies lässt sich mit exponentiellem Wachstum kaum vereinbaren, es passt eher zur Sättigung eines logistischen Wachstums. Dann bleiben aber zwei Fragen ungeklärt: Warum beginnt die Vielfalt im Meer nach diesem Zeitraum der Sättigung wieder zu wachsen? Und was ist der Grund dafür, dass die Vielfalt im Meer von der auf dem Land ein so unterschiedliches Wachstum aufweist?
Mit dem vorgestellten Modell lassen sich beide Kurven erklären ohne zwei voneinander verschiedene Prozesse anzunehmen. Ob die Anzahl der Arten annähernd exponentiell wächst oder ein exponentielles Wachstum durch längere Phasen der Stagnation unterbrochen wird, hängt in dem Modell nur von einem Parameter ab. Dieser Parameter ist die relative Aussterbewahrscheinlichkeit, definiert als das Verhältnis der Wahrscheinlichkeit, dass eine Art ausstirbt, zu der Wahrscheinlichkeit, dass aus einer bestehenden Art eine neue Art entsteht. Ist die Wahrscheinlichkeit auszusterben deutlich kleiner als die Wahrscheinlichkeit neue Arten zu bilden, bleibt das Abhängigkeitsnetzwerk in einem stabilen Zustand und die Artenvielfalt wächst exponentiell. Ist die Wahrscheinlichkeit auszusterben fast so groß wie die Wahrscheinlichkeit neue Arten zu bilden, kann das Netzwerk plötzlich instabil werden. In diesem Zustand sind viele Arten von wenigen abhängig, wodurch es vermehrt zu großen Aussterbeereignissen kommt. Dadurch ist die Aussterberate erhöht und somit das Wachstum gehemmt solange bis das Übermaß an abhängigen Arten abgebaut wurde und das Netzwerk damit in einen stabilen Zustand zurückgekehrt ist.
Diese Erklärung für das unterschiedliche Wachstum im Meer und an Land setzt voraus, dass die relative Aussterbewahrscheinlichkeit im Meer kleiner ist als an Land. Mithilfe der Fossiliendaten konnte dieser Unterschied bestätigt werden.
Mit einem solchen Modell lassen sich weder Aussterbeereignisse noch der weitere Verlauf der Artenvielfalt vorhersagen. Aber es kann dazu beitragen eine Vorstellung davon zu bekommen, wie die Arten voneinander abhängig sind und nach welchen Mechanismen sich dieses Netz entwickelt, was eine notwendige Voraussetzung dafür sein wird, das heute zu beobachtende Artensterben zu verstehen.
*) Der im Jahrbuch der Max-Planck Gesellschaft MPF 4/13 online erschienene Artikel http://www.mpg.de/8880580/MPIDS_JB_2015 wurde mit freundlicher Zustimmung der MPG-Pressestelle ScienceBlog.at zur Verfügung gestellt. Der Artikel wird hier in voller Länge, aber ohne Literaturzitate wiedergegeben. **) Stollmeier, F.; Geisel, T.; Nagler, J. Possible Origin of Stagnation and Variability of Earth’s Biodiversity. Physical Review Letters 112, 228101 (2014)
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