Tuberkulose und Lepra – Familienchronik zweier Mörder

Fr, 08.05.2015 - 06:59 — Gottfried Schatz Gottfried SchatzIcon MedizinLepra und Tuberkulose gehören zu den ältesten menschlichen Infektionskrankheiten. Deren Erreger sind miteinander verwandte, langsam wachsende, stäbchenförmige Bakterien aus der Familie der Mycobakterien. Der renommierte Biochemiker Gottfried Schatz erzählt vom Kampf gegen diese Bakterien, der - erst im vergangenen Jahrhundert aufgenommen - zur enormen Reduzierung aber noch nicht zur Ausrottung der Krankheiten führte.

Die Diagnose kam spät: Zwei Jahrtausende lang hatten die Leichen in der Grabhöhle bei Jerusalem geruht, bevor Wissenschafter zeigten, dass fast jede zweite Reste von Tuberkulose- und Leprabakterien in sich trug. Ähnliches fand sich in einem ägyptischen Heiligtum aus dem 4. Jahrhundert, einer ungarischen Grabstätte aus dem 10. Jahrhundert und einem schwedischen Friedhof aus der Wikingerzeit. Lepra war bereits vor 4500 Jahren in Ägypten endemisch und ist eine der ältesten bekannten menschlichen Krankheiten. Begleitet wurde sie meist von der Tuberkulose. Die beiden Krankheitserreger Mycobacterium tuberculosis und Mycobacterium leprae sind aber nicht nur Waffenbrüder, sondern echte Brüder.

Einst friedliche Bodenbewohner

Das mörderische Brüderpaar entstammt der weitverzweigten Familie der Mycobakterien, die als friedliche Bodenbewohner die Überreste anderer Lebewesen verbrennen und so die Fruchtbarkeit der Erde sichern. Als jedoch Menschen vor etwa zehntausend Jahren zur Viehzucht übergingen, dürfte einigen Mycobakterien der Sprung vom schützenden Boden auf ein Rind gelungen sein. Von diesem war es nur ein kleiner Sprung auf den Hirten - und mit der Entwicklung unhygienischer Städte wurde Mycobacterium tuberculosis zur Geissel für Tier und Mensch. Einige der Boden- Auswanderer spezialisierten sich ganz auf Menschen, veränderten ihr Erbgut und ihre Lebensweise und wurden zu Mycobacterium leprae, dem Erreger von Lepra.

Mycobacterium leprae in einer Hautläsion (links), Mycobacterium tuberculosis in einer Sputumprobe (rechts)Abbildung1. Mycobacterium leprae in einer Hautläsion (links), Mycobacterium tuberculosis in einer Sputumprobe (rechts). Die stäbchenförmigen Bakterien sind durch ziegelrote Anfärbung sichtbar gemacht (Quelle: CDC - Center of Disease Control and Prevention; public domain)

Die beiden Brüder sind sich noch in vielem ähnlich.

Sie sehen ungefähr gleich aus (Abbildung 1), teilen sich viel langsamer als die meisten Bakterien und schützen sich mit einer ungewöhnlich aufgebauten Fetthülle. Dennoch ging jeder der Brüder seinen eigenen Weg. Der Erreger von Tuberkulose setzte auf gnadenlose Vernichtung und wurde zum grossen Bruder. Er zerstört die Lunge und andere wichtige Organe, tötete im Europa des 17. und 18. Jahrhunderts ein Viertel der Bevölkerung und hat wahrscheinlich mehr Menschen auf dem Gewissen als jeder andere Krankheitserreger. Gegen die gefürchtete «Schwindsucht» gab es lange keine anderen Waffen als gesunde Ernährung, Ruhe und eine sonnige, trockene und reizfreie Umgebung - Thomas Manns «Zauberberg» beschreibt diese, bis in das 20. Jahrhundert andauernde Situation.

Chemische Wunderwaffen

Nach dem Zweiten Weltkrieg konnten wir mit neuartigen chemischen Wunderwaffen Tuberkulose fast ausrotten - doch nur in reichen Ländern. Weltweit nistet der grosse Bruder immer noch im Körper jedes dritten Menschen. Eine Röntgenaufnahme zeigt, dass er während meiner Kindheit auch in meine rechte Lunge eindrang und dort vielleicht immer noch auf seine Chance lauert. Jedes Jahr gelingt es ihm, acht Millionen Menschen krank zu machen und zwei bis drei Millionen von ihnen zu töten. Vor kurzem hat er auch gelernt, uns im Verbund mit dem Aids-Virus anzugreifen, und einige seiner südafrikanischen Stammesgenossen haben sogar gelernt, allen unseren chemischen Waffen zu trotzen. Der erschreckende Vormarsch von Tuberkulose bewog die Weltgesundheitsorganisation (WHO) im Jahre 1993, den Tuberkulose-Notstand auszurufen. Der grosse Bruder ist noch lange nicht besiegt (Abbildung 2).

 Aktuelle globale Verbreitung von Lepra (oben) und Tuberkulose (unten)Abbildung 2. Aktuelle globale Verbreitung von Lepra (oben) und Tuberkulose (unten). Während Lepra weltweit auf dem Rückzug ist (d.h. die Inzidenz fast überall auf weniger als 1 Infizierter:10 000 Menschen zurückgegangen ist), ist Tuberkulose eine der tödlichsten Ansteckungskrankheiten geblieben. 2013 waren rund 9 Millionen Menschen an TB erkrankt, 1,5 Millionen starben daran. Die Zahl der an Lepra Erkrankten ist dagegen zwischen 1985 und 1912 von rund 5,2 Millionen auf 185 000 gesunken. (Quelle: WHO., Global Tuberculosis Report 2014)

Auch der Erreger von Lepra tötet - doch statt auf rasche Überwältigung setzt er auf langsame Zermürbung. Er zerstört die elektrische Isolation der Hautnerven, entstellt das Antlitz mit grotesken Geschwülsten und lässt schließlich Finger, Zehen, Hände oder Füße abfallen und Augen erblinden. Er macht seine Opfer zu Ausgestoßenen - zu lebenden Toten. Mycobacterium leprae ist der grausame kleine Bruder. Als die beiden Brüder uns noch gemeinsam jagten, kam der kleine Bruder meist zu kurz, weil ihm der große die Opfer zu schnell wegmordete. Unsere Medizin hat auch den kleinen Bruder in die Knie gezwungen, denn eine Mischung dreier Medikamente kann Leprakranke in einem Tag ansteckungsfrei machen und in sechs bis zwölf Monaten heilen. Wenn die Behandlung früh genug einsetzt, verschwinden sogar die entstellenden Geschwülste. Doch in den Elendsregionen unserer Welt überwältigt der kleine Bruder jedes Jahr immer noch viel zu viele Menschen, da sich niemand um die Kranken kümmert und diese aus Angst vor Ächtung ihre Krankheit verheimlichen und so auf andere übertragen (Abbildung 2). Lepra hat bisher noch nicht gelernt, unseren Medikamenten zu widerstehen, versteckt sich vor diesen jedoch hinter Armut und Unwissenheit.

Verschiedene Charaktere

Weshalb sind die beiden Brüder so verschieden? Obwohl sie die ersten Bakterien waren, die unsere Ärzte als Krankheitserreger entlarvten, konnte die Frage lange nicht beantwortet werden. Die Mediziner wussten zwar viel über Tuberkulosebakterien, konnten sie aber nicht sorgfältig mit Leprabakterien vergleichen, da sich diese nicht in genügender Menge rein herstellen ließen. Leprabakterien weigern sich bis heute beharrlich, in einer künstlichen Nährflüssigkeit zu wachsen, und vermehren sich außer in Menschen nur noch in Mäusepfoten, im kühleren Gewebe kleiner Nagetiere und in einigen Gürteltieren. Und selbst dann teilen sie sich nur alle zwei Wochen - etwa tausendmal langsamer als die meisten anderen Bakterien. Seit einigen Jahren kennen wir jedoch die chemische Struktur des gesamten Erbmaterials der beiden Brüder und können endlich ihre unterschiedlichen Charaktere erklären.

Der große Bruder bewahrte sorgsam den Schatz von mehr als 4000 Genen, den ihm seine Vorfahren vererbt hatten. Dank diesem genetischen Reichtum kann er sich an verschiedene Umweltbedingungen anpassen, die meisten seiner Bausteine selbst herstellen, durch Verbrennung von Nahrung Energie gewinnen und Wege ersinnen, um unsere Medikamente zu überlisten. Der kleine Bruder ließ dagegen mehr als die Hälfte seines genetischen Erbes verkommen, so dass sein heutiges Erbgut mit über 2400 verstümmelten Genen übersät ist. In dieser genetischen Schrotthalde finden sich zwar immer noch 1600 intakte Gene, doch diese liefern dem Bakterium bei weitem nicht mehr genügend Information, um Nahrung zu verbrennen, den eigenen Energiebedarf zu decken und unabhängig zu leben. Deshalb kann sich der kleine Bruder nur extrem langsam und nur innerhalb von Menschen- und einigen wenigen Tierzellen vermehren. Sein Informationsdefizit könnte auch erklären, warum er bisher keinen Weg fand, um gegen unsere Medikamente resistent zu werden. Wer einen starken Charakter entwickeln will, muss nicht nur Neues lernen, sondern auch Vertrautes über Bord werfen. Dies gilt nicht nur für uns Menschen. (Die Bereitschaft, Traditionen zu missachten, ist für den Musiker Pierre Boulez ein Maß für die Kraft einer Kultur.) Und die Veränderung oder Zerstörung ererbter Gene ist Teil der Entwicklung jedes neuen Lebewesens. Als das Leprabakterium auf die Hälfte seines genetischen Erbes verzichtete, ging es ein großes Wagnis ein. Doch erst dieses Wagnis schenkte ihm seinen unverwechselbaren biologischen Charakter.

Ist der kleine Bruder dümmer als der große - oder einfallsreicher? Ich weiß es nicht. Für mich ist er interessanter.


Weiterführende Links

WHO Lepra

WHO Global Tuberculosis Report 2014

Vernachlässigte Krankheiten – Multiresistente Tuberkulose (Ärzte ohne Grenzen). Video 6:20 min

Lepra und Tuberkulose in Indien - Hier zählt Erfahrung Video 21:07 min,

Artikel im ScienceBlog