Vor 76 Jahren: Friedrich Wessely über den Status der Hormonchemie

Do, 09.03.2017 - 07:19 — Inge Schuster Inge SchusterIcon Wissenschaftsgeschichte

Vor 50 Jahren ist der österreichische Chemiker Friedrich Wessely (1897 -1967) gestorben. Wie kaum ein anderer Universitätslehrer hat er an der Universität Wien - beginnend von den 1920er Jahren bis zu seinem Tod - Generationen von Wissenschaftern geprägt und seine Ansichten erscheinen nach wie vor unglaublich aktuell. Der vorliegende Text - die gekürzte Fassung eines Vortrags, den er 1941 über eines seiner Forschungsgebiete gehalten hat - endet mit den Worten: "Das Ziel der Naturwissenschaft: die unendliche Vielheit des Lebens, das uns umgibt und in das auch wir gestellt sind, zu erfassen und, soweit es dem menschlichen Geist gegeben ist, zu erkennen, wird nur erreichbar sein, wenn sich die Vertreter der Einzelwissenschaften zu einem immer enger werdenden Gedanken- und Erfahrungsaustausch zusammenfinden, um durch die Synthese ihrer Einzelergebnisse wieder ein Ganzes zu schaffen." *

Abbildung 1. Univ.Prof. Dr. Friedrich Wessely um 1966 (Quelle unklar, das Bild hat uns F. Wessely geschenkt).

Wessely war ein hervorragender, ungemein motivierender Lehrer, der uns aktuellstes Wissen vermittelte und es verstand das von ihm geleitete Institut für Organische Chemie unter ungemein schwierigen Verhältnissen auf einen modernen Standard zu bringen. Dies bedeutete in den 1960er Jahren die Ausstattung mit neuesten analytisch spektroskopischen Einrichtungen - der Kernresonanz- und Massenspektrometrie - ebenso wie die Etablierung einer Theoretischen Organischen Chemie.

Als noch ganz junger Soldat war Wessely im 1. Weltkrieg schwer verletzt worden. Er hatte dann im Rekordtempo Chemie studiert , wurde Mitarbeiter am Kaiser Wilhelm Institut für Faserchemie (Berlin, Dahlem) und bereits von 1927 an Leiter der Abteilung für Organische Chemie an der Universität Wien. 1948 trat er schließlich die Nachfolge von Ernst Späth als Leiter des II. Chemischen Institutes (später "die Organische Chemie") dieser Universität an.

Wessely liebte die Herausforderung in neue Gebiete vorzudringen. Seine Forschungsarbeiten betrafen Themen aus der Organischen Chemie und speziell aus der Naturstoffchemie. Er leistete u.a. Pionierarbeiten zur Synthese von nieder- und hochmolekularen Peptiden, klärte die Struktur von pharmakologisch wichtigen Naturstoffen (von Coumarinen, Flavonen) auf und beschäftigte sich vor allem auch mit Hormonen, u.a. mit "körperfremden weiblichen Sexualhormonen", die zur Entwicklung einer Reihe von pharmakologisch wichtigen Stoffen führten.

Wie schwierig und langwierig es war aus riesigen Materialmassen kleinste Mengen an Naturstoffen zu isolieren, in ihrer Struktur aufzuklären und durch Synthese neu herzustellen, ohne die heutigen analytischen Möglichkeiten, ist kaum mehr vorstellbar. Vielleicht kann aber der Vortrag "Einige neuere Ergebnisse der Hormonchemie", den Friedrich Wessely am 12. Februar 1941 im "Verein zur Verbreitung naturwissenschaftlicher Kenntnisse" gehalten hat, einen Eindruck davon vermitteln. Der Vortrag erscheint im Folgenden in einer für den Blog adaptierten, gekürzten Form mit einigen zusätzlichen Untertiteln.

Friedrich Wessely: Einige neuere Ergebnisse der Hormonchemie

Vortrag am 12. Februar 1941 im "Verein zur Verbreitung naturwissenschaftlicher Kenntnisse" *

Ein wichtiger Zweig der heutigen modernen organischen Chemie beschäftigt sich mit der Isolierung und chemischen Erforschung von im Pflanzen- und Tierreich vorkommenden Stoffen. Diese interessieren nicht nur den Chemiker, sondern auch andere naturwissenschaftliche Disziplinen, so z. B. den Zoologen, Botaniker, Biologen und Mediziner. Diese Tatsache bedingt auch die Zusammenarbeit verschiedener Wissenszweige und je größer deren gemeinsames Interesse an einer Frage ist, desto intensiver gestalten sich die wechselseitigen Anregungen, desto fruchtbarer wird die Zusammenarbeit, die in den meisten Fällen zu wirklich wertvollen Ergebnissen führt. Der im Jahre 1941 verstorbene große deutsche Chemiker und Techniker C. Bosch, dem wir neben vielen anderen die technische Ammoniaksynthese verdanken, hat den Satz geprägt: „Alle wirklichen Fortschritte liegen auf Grenzgebieten." Von einem solchen Grenzgebiet soll im folgenden die Rede sein, von den Hormonen.

Wir verstehen unter Hormonen

heute Stoffe, die vom Organismus selbst erzeugt, diesem zur Steuerung bestimmter für sein Leben wichtiger Reaktionen dienen. Sie liegen meist nur in sehr kleinen Mengen vor und der Chemiker hätte die meisten der heute bekannten Hormone noch nicht isoliert, wenn er nicht das biologische Experiment als Ausgangspunkt und als Hilfe für seine Untersuchungen zur Verfügung hätte. Durch den biologischen Versuch wurde und wird auch heute noch der Nachweis geführt, dass bestimmte Vorgänge und Reaktionen des lebenden Organismus isolierbare stoffliche Ursachen haben müssen. Erst wenn dieser Nachweis erbracht ist, beginnt die Arbeit des Chemikers, dem die Feindarstellung, die Aufklärung des chemischen Baues und die Synthese des Wirkstoffes obliegt. Es ist wichtig, die Stoffe, die am Lebensgetriebe beteiligt sind, rein darzustellen, denn nur so kann ihre Wirkung gegen die von anderen Stoffen hervorgerufene abgegrenzt werden.

Mit der Kenntnis bestimmter von gewissen Stoffen hervorgerufenen Endwirkungen stehen wir aber erst am Anfang des Weges. Denn vor uns liegt noch die Aufgabe, in den feineren Mechanismus der biologischen Reaktionen und in deren Neben- und Miteinanderlaufen einzudringen. Hierüber wissen wir fast nichts oder nur sehr wenig. Es liegen hier Forschungsaufgaben für Generationen vor und die Frage, wieweit sich uns überhaupt das Geheimnis der Lebensvorgänge entschleiern wird, muss heute unbeantwortet bleiben. Es ist sicher, dass heute nur ein Teil aller das Getriebe eines Organismus steuernden Stoffe bekannt ist.

Biologische Versuche weisen stoffliche Ursachen für Vorgänge in Organismen nach

Es soll hier zunächst von Hormonen die Rede sein, deren Wirken durch biologische Versuche sichergestellt, deren chemische Untersuchung aber noch nicht abgeschlossen ist.

Thyroxin - das Schilddrüsenhormon

Die Metamorphose bestimmter Tiere wird durch Hormone, also hormonal gesteuert. Es ist schon eine ältere Erkenntnis, daß das Thyroxin (I), das Hormon der Schilddrüse bei der Kaulquappe zu einer verfrühten Metamorphose in die Landform führt.

Man beobachtet im normalen Entwicklungsgang unmittelbar vor der Metamorphose ein Ansteigen der Absonderungstätigkeit der Schilddrüse. Nimmt man die Schilddrüse aus einer Larve heraus, so verwandelt sich diese nicht. Sie ist aber wieder dazu imstande, wenn man ihr Schilddrüsensubstanz oder deren wirksames Prinzip das Thyroxin zufügt. Im Falle des Thyroxins bewirkt also ein altbekanntes, den Stoffwechsel vielfach beeinflussendes Hormon auch als morphogenetisches oder Formbildungshormon den Übergang von einer Entwicklungsstufe zu einer anderen. Richtung und Verlaufsart der Veränderungen sind aber in den reagierenden Zellen vorbestimmt. Wir kennen also von dem Mechanismus der Metamorphose nur das Anfangsglied, das die heute noch unbekannte Reaktionskette der Verwandlung auslöst.

Das Verpuppungshormon

Neuere Versuche haben auch gezeigt, dass die Insektenmetamorphose hormonal gesteuert wird. Schnürt man eine erwachsene Schmetterlingsraupe, die kurz vor der Verpuppung steht, quer durch, so verpuppt sich nur das Vorderende, während das Hinterende unverpuppt bleibt. Ebenso verliert die ganze Raupe die Verpuppungsfähigkeit, wenn man ihr das Gehirn herausnimmt. Sie stirbt dann aber nicht rasch ab, sondern kann als Dauerraupe Wochen, ja Monate unter Verbrauch des angesammelten Fettvorrates weiterleben. Setzt man einer solchen „Dauerraupe" das Gehirn einer anderen erwachsenen Raupe irgendwo in den Leib, dann kann Verpuppung eintreten. Das Gehirn bewirkt die Verpuppung also nicht als nervöses Zentralorgan, sondern als Spender eines Stoffes, des Verpuppungshormons. Die Metamorphosenhormone sind nicht artspezifisch. Aus jungen Schmetterlingspuppen ließ sich ein Extrakt gewinnen, der Verpuppungserscheinungen bei Dauermaden von Fliegen hervorruft, die wie die „Dauerraupen" durch Abschnüren des Vorderendes erhalten wurden. Bei Insekten mit vollständiger Verwandlung setzt sich die Metamorphose aus mehreren einschneidenden Wandlungen zusammen und jede dieser Entwicklungsphasen wird hormonal gesteuert. Bei den Insekten werden mehrere verschiedene Entwicklungsschritte durch mehrere nacheinander auftretende Hormone ausgelöst. In der letzten Zeit sind von dem deutschen Chemiker Butenandt Versuche zur Isolierung und Charakterisierung solcher Verpuppungshormone in Angriff genommen worden.

Organlokalisierende Stoffe

Man kennt auch Versuche, die darauf hinweisen, dass es Wirkstoffe gibt, die die Ausbildung bestimmter Organe an bestimmten Orten bewirken. Man kann in diesem Fall von „organlokalisierenden" Wirkstoffen sprechen. Beispiele kennt man aus der Entwicklung der Wirbeltiere, vor allem der Amphibien. Durch Transplantationsversuche hat Spemann schon vor längerer Zeit gezeigt, dass gewisse Teile eines Molchkeimes an andere Stellen anderer Molchkeime transplantiert, an diesen Stellen die Ausbildung der Organe hervorrufen, die sonst normalerweise aus diesen Keimstücken gebildet werden. Diese induzierte sekundäre Embryonalanlage kann eine beträchtliche Größe und einen hohen Grad der Ausbildung der Körperteile erreichen, sodass der Keim als Doppelbildung erscheint. Das implantierte Material erweist sich also als Organisator, der in dem benachbarten Keimmaterial Organanlagen induziert. Diese Induktionswirkung vollzieht sich offenbar durch ein chemisches Mittel, das von dem implantierten Stück des Keimes gebildet wird. Denn auch ein durch Hitze, Gefrierenlassen, Aceton-Äther abgetötetes Stück ruft zum mindesten einen Teil der von dem intakten Hautstück hervorgerufenen Wirkungen hervor. Ein Teil der Induktionswirkungen lässt sich auch durch chemische bekannte Stoffe, wie z. B. Ölsäure hervorrufen. Die bisher bekannten chemischen Mittel rufen allerdings nie zusammenhängende Organkomplexe hervor, so wie sie von einem Stück lebenden Gewebes hervorgerufen werden. Weitere Versuche zeigten auch, dass die Induktoren nicht artspezifisch sind. Aber welche Organe entstehen, das ist artspezifisch, d. h. die hervorgerufene Organisation entspricht der Natur des reagierenden Materials. Dies wird bewiesen durch Gewebeaustausch zwischen Arten mit sehr verschiedenen Einzelorganen. Die Molchlarven haben auf ihren Kiefern Zähne, die Froschlarven Hornscheiden. Pflanzt man nun in die Gesichtsgegend eines jungen Molchkeimes ein Stück Bauchhaut eines Froschkeimes, so bildet dieses Hautimplantat unter der Induktionswirkung der Umgebung eine Mundbucht mit Mundbewehrung und entsprechend der Natur der Froschhaut erhält die Molchlarve ein Froschmaul mit einem Hornkiefer. Die Reaktion, die durch Induktionsreize ausgelöst wird, wird also durch die Erbanlagen des reagierenden Stückes gesteuert.

Steuerung durch Gene

Diese Erbanlagen oder Gene, die in bestimmten Teilen der Chromosomen im Zellkern lokalisiert sind, verursachen bekanntlich die Übertragung bestimmter Eigenschaften von Generation zu Generation. In die Natur der Gene ist man von der chemischen Seite aus noch nicht sehr weit eingedrungen, wenngleich auch hier in den letzten Jahren wichtige Ergebnisse gewonnen werden konnten. Hier sei einiges über die Art der Genwirkung berichtet. Prinzipiell sind zwei Möglichkeiten der Genwirkung gegeben:

  1. eine einzelne Erbanlage wirkt nur unmittelbar in der Zelle, die damit unter bestimmte Entwicklungsbedingungen kommt (innerzellige Genwirkung);
  2. unter der Wirkung bestimmter Erbanlagen wird in bestimmten Zellen ein Wirkstoff gebildet, welcher an andere Stellen abgegeben wird und in anderen Zellen bestimmte Bildungsvorgänge auslöst (zwischenzellige Genwirkung). In diesem Fall sind also zwischen dem Gen und dem ausgebildeten Merkmal diffusible Wirkstoffe eingeschaltet, die wir wegen ihrer Beziehungen zum Gen als „Genhormone" bezeichnen. (Versuche, die die Existenz derartiger Wirkstoffe sicherstellen, wurden beispielsweise an der Mehlmotte Ephestia ausgeführt.)

Chemische Charakterisierung

Je tiefer wir in das Geheimnis des Zellgeschehens eindringen wollen, desto schwieriger werden die Aufgaben des Chemikers. Wir verfügen heute über keine Methodik, Stoffe, die nur in Gewichtsmengen von Mikrogramm vorliegen, zu isolieren. Unsere heutige Mikrochemie ist für diese Aufgabe noch viel zu grob. Meist ist aber die Isolierung eines Stoffes die unumgänglich notwendige Voraussetzung zur chemischen Charakterisierung.

Manche biologische Reaktionen sind unspezifisch

Bestimmte biologische Reaktionen können nicht allein von dem natürlichen Wirkstoff hervorgerufen werden. Dies hat (neben dem bedeutenden theoretischen Interesse) auch unter Umständen große praktische Bedeutung. Der natürliche pflanzliche Wuchsstoff, das Auxin, ist synthetisch nicht zugänglich und aus seinem natürlichen Vorkommen isoliert ein äußerst kostbarer Stoff. Man kann aber fast alle seine Wirkungen mit dem sogenannten Heteroauxin nachahmen, das heute ein leicht und billig erhältliches Material darstellt. Auch bei den Vitaminen finden wir zahlreiche Fälle von Unspezifität.

In der letzten Zeit hat man in dieser Richtung auch auf dem Gebiet der Zoohormone Erfolge erzielt. Es wurden Verbindungen gewonnen, die in allen wichtigen Wirkungen einem weiblichen Sexualhormon, dem Follikelhormon entsprechen. In quantitativer Hinsicht wird dieses sogar von den künstlichen Stoffen noch übertroffen.

Weibliche Sexualhormone

Zu den weiblichen Sexualhormonen zählen wir die sogenannten gonadotropen Hormone des Hypophysen-Vorderlappens und die Keimdrüsen- oder Gonadenhormone selbst. Gonadotrop werden die Hormone der Hypophyse genannt, weil sie die Tätigkeit der Keimdrüsen regeln. Sie gehören zu den Eiweißstoffen und dementsprechend weiß man sehr wenig über ihren chemischen Bau. Von weiblichen Gonadenhormonen gibt es zwei: das Follikelhormon und das Hormon des Gelbkörpers oder Corpus luteum. Ersteres wird auch als östrogenes Hormon bezeichnet, weil, eine seiner Wirkungen beim Tier in der Auslösung der Brunst, des Östrus besteht. Man kennt mehrere körpereigene Östrogene, die sämtlich in nahen chemischen Beziehungen zu einander stehen. (Abbildung 2). Vom Chemiker werden sie zu den Steroidverbindungen gezählt. Von körpereigenen Hormonen mit Corpus luteum-Wirkung kennen wir bisher nur ein einziges, das sogenannte Progesteron, das ebenfalls zu den Steroiden zu zählen ist

Abbildung 2. Weibliche Gonadenhormone sind nah-verwandte Steroidverbindungen.

Durch eine Unterfunktion der Hypophyse oder der Keimdrüsen wird die Produktion der diesen Organteilen eigentümlichen Hormone gestört. Durch eine Zufuhr der „Ausfallshormone" können die entstandenen krankhaften Zustände meist günstig beeinflusst werden und die Therapie mit weiblichem Sexualhormon ist aus der modernen Medizin nicht mehr wegzudenken.

Die genannten Hormone sind aber recht teure Substanzen und dieser Umstand ließ eine Therapie mit ihnen auf breitester Basis nicht zu. Für die weiblichen Gonadenhormone ist die Totalsynthese bisher nur für das Equilenin gelöst. Der Weg, der zu diesem Stoff führt, ist sehr umständlich. Die anderen weiblichen Gonadenhormone werden entweder aus ihren natürlichen Vorkommen isoliert oder durch entsprechende Umbaureaktionen aus Sterinen dargestellt, beides Wege, die sehr teuer und umständlich sind. Durch die Untersuchungen, über die im folgenden berichtet wird, ist man aber in den Besitz von östrogenen Stoffen gelangt, die wesentlich billiger sind. Seit 1932 liefen anfangs vor allem von Engländern ausgeführte Versuche, die es sich zum Ziele setzten, die für die östrogene Wirkung notwendigen strukturellen Voraussetzungen näher zu bestimmen. Es wurde eine sehr große Zahl der verschiedensten Verbindungen auf ihre östrogene Wirkung hin untersucht. Dabei zeigte sich, daß diese auch bei Stoffen eintrat, die mit den natürlichen östrogenen chemisch gar keine oder zum mindesten nur sehr wenig Beziehungen hatten. Besonders interessant war die östrogene Wirkung von Verbindungen, die sich vom Stilben ableiten lassen. Auch der Verfasser und seine Mitarbeiter haben sich seit 1937 mit der Synthese solcher Stoffe befasst, in deren Verlauf es fast gleichzeitig mit den Engländern gelang, ein besonders hochwirksames Produkt zu gewinnen, das sogenannte Diäthylstilböstrol (Abbildung 3).

Abbildung 3. Vom Stilben abgeleitete Verbindungen sind östrogen wirksam

Auch eine Reihe von anderen Verbindungen, die sich von diesem Stoff durch Absättigung der Doppelbindung durch Wasserstoff oder Sauerstoff ableiten, zeigten hohe östrogene Aktivität. An zahlreichen Stellen des In- und Auslandes durchgeführte biologische Versuche er gaben, dass zwischen diesen künstlichen östrogenen und den natürlichen keine wesentlichen Wirkungsunterschiede bestehen. Für die praktische Verwendung musste auch die Toxizität der synthetischen Verbindungen geprüft werden; dabei ergaben sich keine Hinweise dafür, daß deren Verwendung für den Menschen irgendwie gefährlich sein könne. Es wurden also auch bald das Diäthylstilböstrol und gewisse Derivate von ihm klinisch erprobt. Und es wird heute von allen Klinikern übereinstimmend angegeben, daß die synthetischen Präparate alle Wirkungen der körpereigenen Hormone herzurufen imstande sind. Sie werden also schon heute in großem Umfang bei allen Indikationen der Gynäkologie, inneren Medizin und Dermatologie verwendet, die bisher den körpereigenen Follikelhormonen vorbehalten waren. Auch für die Veterinärmedizin sind diese Verbindungen wegen ihrer Billigkeit von Wichtigkeit.

Ausblick

Die synthetischen Östrogene sind eines von vielen Beispielen, die zeigen, dass eine zunächst aus theoretischen Gründen begonnene Arbeitsrichtung von bedeutendem praktischen Erfolg begleitet sein kann. Man wird erwarten können, dass man auch für andere Hormone und Vitamine billigere Ersatzpräparate finden wird. Es soll hier auch auf die soziale Seite dieser Untersuchungen hingewiesen werden: eine Hormontherapie mit billigeren Präparaten kann die breitesten Volksschichten erfassen.

Bei der Suche nach Ersatzhormonen wird man aber gegenwärtig auf die Empirie angewiesen sein, da man auf Grund der heutigen Kenntnisse nicht angeben kann, welchen chemischen Bau ein Ersatzhormon haben muss. Hier ist noch sehr viel Arbeit zu leisten.

Es gilt den Ursachen für die gleichartige Wirkung chemisch verschieden gebauter Stoffe nachzuspüren und man kann erwarten, dabei auch Einblicke in den Wirkungsmechanismus der natürlichen Wirkstoffe zu gewinnen. Auch diese Untersuchungen setzen wieder eine intensive Zusammenarbeit verschiedener Wissenschaftszweige voraus.

Das Ziel der Naturwissenschaft: die unendliche Vielheit des Lebens, das uns umgibt und in das auch wir gestellt sind, zu erfassen und, soweit es dem menschlichen Geist gegeben ist, zu erkennen, wird nur erreichbar sein, wenn sich die Vertreter der Einzelwissenschaften zu einem immer enger werdenden Gedanken- und Erfahrungsaustausch zusammenfinden, um durch die Synthese ihrer Einzelergebnisse wieder ein Ganzes zu schaffen.


* Friedrich Wessely (1947): Einige neuere Ergebnisse der Hormonchemie. Schriften des Vereines zur Verbreitung naturwissenschaftlicher Kenntnisse in Wien 81-85: 1-23. http://www.zobodat.at/pdf/SVVNWK_81_85_0001-0023.pdf

Der sehr lange Vortrag wurde für den Blog adaptiert und stark gekürzt. Insbesondere fehlt der Teil über Versuche von Franz Moewus, der die Grünalge Chlamydomonas als Modellobjekt der Genetik verwendete: diese Versuche standen später unter der Kritik Fälschungen zu sein.


Weiterführende Links

Redaktion 26.12.2014: Popularisierung der Naturwissenschaften im 19. Jahrhundert. Über den Verein zur Verbreitung naturwissenschaftlicher Kenntnisse in Wien im ScienceBlog