Ein neues Kapitel in der Hirnforschung: das menschliche Gehirn kann Abfallprodukte über ein Lymphsystem entsorgen

Do, 19.10.2017 - 11:54 — Redaktion

Icon Gehirn

Das Gehin besitzt keine Lymphbahnen - diese alte Lehrmeinung wurde nun eindeutig widerlegt. Neurophysiologen der US National Institutes of Health (NIH) haben Hirnscanstudien mittels Kernresonanztomografie (MRI) an lebenden Menschen durchgeführt und dabei Lymphgefäße in der Dura mater - der äußeren Hirnhhaut, die das ganze Hirn umhüllt,- entdeckt. Das Lymphsystem des Körpers erstreckt sich also bis in das Hirn, über dieses ist das Hirn mit dem Immunsystem verbunden, über dieses können Abfallprodukte des Gehirns entsorgt werden. Diese Entdeckung eröffnet neue Dimensionen in der Hirnforschung und kann das Verstehen vieler Erkrankungen des Gehirns, in denen das Immunsystem eine Rolle spielt - von Multipler Sklerose bis hin zu Alzheimer - und die Möglichkeiten zu deren Prävention und Behandlung revolutionieren.*

Die meisten Organe unseres Körpers entsorgen Abfallprodukte der Zellen mit Hilfe des sogenannten Lymphsystems. Dies ist ein verästeltes System von Lymphgefäßen, die entlang den Blutgefäßen verlaufen und als nicht zirkulierende Einbahnsystem unseren Körper durchziehen. Abbildung 1.

Abbildung 1. Das Lymphsystem des Menschen ist ein Einbahnsystem und dient der Drainage. Lymphgefäße beginnen in Organen/peripheren Geweben als blind-endende Kapillaren, die aus Endothelzellen mit relativ großen Zwischenräumen gebildet werden. Durch diese Lücken gelangen Proteine, Partikel und Zellen bis hin zu Lymphozyten in die Kapillaren und werden dort in der Lymphflüssigkeit weitertransportiert. (Im Gegensatz dazu weisen Blutkapillaren wesentlich kleinere Lücken auf -größere Proteine als Albumin können nicht in deren Lumen gelangen.) Die Lymphkapillaren vereinigen sich zu größeren Gefäßen und diese wieder zu noch größeren Gefäßen, die schliesslich in den Sammelkanal Ductus Thoracicus münden, der dann seinen Inhalt in das Blutgefäßsystem ergießt. (Bild: Blausen.com staff (2014). "Medical gallery of Blausen Medical 2014". WikiJournal of Medicine 1 (2). DOI:10.15347/wjm/2014.010 . Lizenz: cc-by 3.0 )

Das Lymphsystem ist ein Drainagesystem: Abfallprodukte und überschüssige Gewebsflüssigkeit aber ebenso auch Partikel, Bakterien und Viren werden aus den Geweben in die Lymphgefäße aufgenommen und in diesen - in der Lymph-Flüssigkeit - durch die Lymphknoten hindurch in den Blutkreislauf transportiert. Abfallprodukte gelangen über die Blutgefäße dann zu den Nieren - einem Filtersystem, das derartige Stoffe aus dem Blut heraus filtriert und (nach Möglichkeit) im Harn ausscheidet.

Neben der Funktion als Drainagesystem sind Lymphgefäße aber auch ein wesentlicher Teil des Immunsystems und der Hauptweg für die Zirkulation weißer Blutkörperchen: die Blutgefäße transportieren die Immunzellen zu den Organen, das Lymphsystem nimmt sie von dort auf und führt sie ins Blut zurück - Immunzellen können so im Organismus patrouillieren, Infektionen aufspüren und bekämpfen,

Wie das Gehirn seinen Abfall entsorgt, blieb lange ein Rätsel

Das Gehirn enthält Blutgefäße, im Gegensatz zu anderen Organen gab es aber über lange Zeit keine konkreten Anhaltspunkte, dass auch Lymphgefäße existieren könnten. Man dachte, dass - zum Unterschied zu anderen Organen - das Hirn eine spezielle Fähigkeit habe seine Abfallprodukte über die Zerebrospinalflüssigkeit (CSF, die Flüssigkeit, die das Hirn umspült und beschützt) zu entsorgen.Tatsächlich dürfte dies zum Teil auch der Fall sein.

Erst 2015 gelang es Forschern um Jonathan Kipnis von der University of Virginia in Untersuchungen an Mäusehirnen festzustellen, dass in deren äußerer Hirnhaut - der Dura Mater - Lymphgefäße vorhanden sind, die entlang der Blutgefäße verlaufen [1].

Dieser Befund veranlasste den Neurologen Daniel Reich (NIH’s National Institute of Neurological Disorders and Stroke (NINDS)) zu prüfen, ob derartige Lymphgefäße auch beim Menschen vorhanden wären, und er wandte dazu Magnetresonanztomographie (MRI) an. Es ist die Methode, die Reich primär einsetzt, um multiple Sklerose und andere neurologische Erkrankungen zu untersuchen, in die das Immunsystem involviert ist.

Die nicht-invasive Detektion von Lymphgefäßen mittels MRI

Die Gruppe um Reich konnte tatsächlich mittels MRI - d.h. nicht-invasiv - Lymphgefäße in der Dura mater des Menschen sichtbar machen. Die Forscher untersuchten dazu fünf gesunde Probanden, denen ein Gadoliniumkomplex - Gadubotrol - injiziert worden war. Es handelte sich dabei um einen Farbstoff, der in MRI-Scans üblicherweise verwendet wird, um Gefäßschäden bei Krankheiten wie Multipler Sklerose oder Krebs zu detektieren: die Farbstoffmoleküle sind klein genug, um aus den Blutgefäßen herauszulecken, jedoch zu groß , um die Blut-Hirn Schranke zu durchbrechen und in andere Teile des Gehirns zu gelangen.

Lymphgefäße ähneln Blutgefäßen, die aber in viel größerer Zahl vorhanden sind - daneben Lymphgefäße festzustellen, ist nicht einfach. Um neben den hell leuchtenden Blutgefäßen eine kleinere Zahl von Lymphgefäßen detektieren zu können, wandten die Forscher einen Trick an: die sogenannte Dark Blood MR Angiography, eine Strategie, in der das Signal von fließendem Blut unterdrückt wird (das Gefäß dann schwarz erscheint). In Anlehnung an den Mäusebefund untersuchten die Forscher den Bereich der Dura mater und konnten dort tatsächlich Lymphgefäße entdecken. Abbildung 2.

Abbildung 2. Sichtbarmachung von Lymphgefäßen in der äusseren harten Hirnhaut - der Dura mater- mittels MRI. Oben: die drei Hirnhautschichten Dura mater, Arachnoidea und Pia mater - schematische Darstellung. Venöses (sauerstoffarmes) Blut(blau) aus der grauen Hirnrinde entleert in die angrenzenden Sinuse der Dura mater und von dort in die Jugularvene im Nacken. Der Sinus sagittalis superior entleert die oberflächlichen Venen des Gehirns (Bild modifiziert nach: OpenStax Wikimedia Commons, Lizenz: cc-by 4.0.) Unten: MRI-Aufnahme des menschlichen Schädels nach Verabreichung des Farbstoffs Gadubotrol zur Sichtbarmachung der Gefäße. Der Ausschnitt (gelb umrandet) zeigt die hellen Lymphgefäße im Querschnitt (rote Pfeile), diese grenzen an den Sinus sagittalis superior an

Der Farbstoff war offensichtlich aus den Blutgefäßen in das Bindegewebe ausgetreten, wurde von den lymphatischen Kapillargefäßen aufgenommen und liess diese ebenso hell leuchten wie es zuvorbei den Blutgefäßen der Fall war (Abbildung 2, unten).

Wurde dagegen ein viel größerer Farbstoffkomplex (Gadofosvet) injiziert, der aus den Blutgefäßen kaum aussickern konnte, so sahen die Forscher nur hell leuchtende Blutgefäße, aber keine Aufnahme und daher kein Sichtbarwerden der Lymphgefäße.

Weitere Untersuchungen mittels MRI wurden an gesunden, erwachsenen Weißbüscheläffchen ausgeführt. Hier wurden - ebenso wie beim Menschen oder auch der oben erwähnten Maus [1] - Lymphgefäße mit gleicher Topographie in der äußeren Hirnhaut detektiert. Dies lässt darauf schliessen, dass das Lymphsystem der Hirnhaut über die Evolution in den Säugetieren konserviert wurdegemeinsam sein dürfte.

Dass es sich in der Dura mater tatsächlich um Lymphgefäße handelte, konnte schließlich an Autopsie-Proben bestätigt werden, in denen spezielle Methoden zur Anfärbung von Lymphgefäßen und Blutgefäßen verwendet wurden. Abbildung 3.

Abbildung 3. Lymphgefäß (LV) und Blutgefäße (BV) in einer Autopsieprobe. Histochemische Untersuchung mit spezifischen Anfärbungen für LV und BV. Die BV - aber nicht das LV - enthalten Erythocyten (Quelle: aus Fig. 3 in [2] https://doi.org/10.7554/eLife.29738.007; open access) Wie nun die Lymphgefäße in der Hirnhaut verlaufen, ist in Abbildung 4 dargestellt.

Abbildung 4. 3D-Darstellung des humanen Lymphsystems (dkl.blau) in der Dura mater. Erstellt aus MRI-Aufnahmen an einer gesunden, 47 Jahre alten Frau (Quelle: [2] aus Figure 1, https://doi.org/10.7554/eLife.29738.004)

Ausblick

Die Entdeckung, dass sich das Lymphsystem des Körpers bis in die Gehirnhaut erstreckt, die das gesamte Gehirn umgibt, eröffnet neue Dimensionen in Grundlagen- und angewandter Forschung. Zentrale Themen betreffen dabei:

  • die direkte Verbindung von Gehirn und Immunsystem
  • wie Abfallprodukte aber auch andere Stoffe unter physiologischen Bedingungen aus dem Zentralnervensystem über die Lymphbahnen drainiert werden,
  • ob und wie Störungen in der Lymphdrainage neurologische Krankheiten verursachen oder verstärken können.

Die Methode der Magnetresonanztomographie erlaubt es nicht-invasiv und relativ einfach an gesunden wie auch kranken Menschen Hirnscans auszuführen. Dies bedeutet nicht-invasiv Erkrankungen des Gehirns zu untersuchen, in denen das Immunsystem eine Rolle spielt, beispielsweise Multiple Sklerose, Alzheimerkrankheit und Amyotrophe laterale Sklerose, und Möglichkeiten zu deren Prävention und Behandlung zu finden.


[1] Structural and functional features of central nervous system lymphatic vessels. Louveau A, Smirnov I, Keyes TJ, Eccles JD, Rouhani SJ, Peske JD, Derecki NC, Castle D, Mandell JW, Lee KS, Harris TH, Kipnis J. Nature. 2015 Jul 16;523(7560):337-341.

[2] Human and nonhuman primate meninges harbor lymphatic vessels that can be visualized noninvasively by MRI. Absinta M, Ha SK, Nair G, Sati P, Luciano NJ, Palisoc M, Louveau A, Zaghloul KA, Pittaluga S, Kipnis J, Reich DS. Elife. 2017 Oct 3;6.


* Der Artikel basiert auf dem eben erschienen Artikel von Absinta et al., [2] und auf dem Blogartikel von Francis S. Collins vom 17.10.2017 "New Imaging Approach Reveals Lymph System in Brain" https://directorsblog.nih.gov/2017/10/17/new-imaging-approach-reveals-ly.... . Aus diesen Arbeiten wurden Sätze in den Blog übernommen (ins Deutsche übersetzt) und mit passenden Bildern u.a. aus [2] ergänzt.


Weiterführende Links

National Institute of Neurological Disorders and Stroke (NINDS) https://neuroscience.nih.gov/ninds/Home.aspx

Scientists Uncover Drain Pipes in Our Brains (03.10.2017), Video 3:25 min. https://www.youtube.com/watch?v=T9y_5vzJZtk. Daniel S. Reich, discusses how his team discovered that our brains may drain waste through lymphatic vessels, the body’s sewer system. (Standard-YouTube-Lizenz)

A Brain Drainage System (03.10.2017), Video 0:39 min. https://www.youtube.com/watch?v=d5YV-dCLvW8. NIH researchers provided the first evidence that our brains may drain waste through lymphatic vessels, the body’s sewer system.

Lymphatic system in the brain (02.07.2015), Video 11:13 min. https://www.youtube.com/watch?v=d5YV-dCLvW8. (Standard-YouTube-Lizenz) Jonathan Kipnis (University of Virginia) discusses a ground-breaking discovery: his team identified a lymphatic system in the brain of mice. This goes against decades of established knowledge and is a key step forward for the study of many neurological diseases, such as multiple sclerosis. (details: paper [1])

Dissecting Science: Your Amazing Brain "The Immune Dimension of Brain Function" Short lecture by Jonathan Kipnis (13.11.2015) Video 21:07 min. https://www.youtube.com/watch?v=F1GJXNlwGVM&t=56s (Standard-YouTube-Lizenz)

Meningeal lymphatic vessels Seite in Wikipedia. https://en.wikipedia.org/wiki/Meningeal_lymphatic_vessels.