Wer hat das Alphabet erfunden?

Do, 07.01.2021 — Redaktion

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Neue Erkenntnisse weisen auf ein Paradoxon von historischem Ausmaß hin: Unser Schriftsystem wurde von Menschen entwickelt, die nicht lesen konnten! Die Anfänge unseres Alphabets finden sich auf der Halbinsel Sinai; es wurde offensichtlich von kanaanitischen Minenarbeitern erfunden. Lydia Wilson, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Computerlabor der University of Cambridge, hat kürzlich die BBC-Serie "Die Geheime Geschichte des Schreibens" moderiert und in diesem Zusammenhang u.a. die Ägyptologin Orly Goldwasser interviewt. Wilson berichtet nun im Smithsonian Magazine über die Erfindung des Alphabets. *

Hunderte Jahre bevor Moses in der „großen und schrecklichen Wildnis“ der Sinai-Halbinsel wanderte, hat dieses zwischen Afrika und Asien liegende Wüstendreieck Abenteurer angezogen, verlockt von den reichen Mineralienvorkommen in den Felsen. Auf einer dieser Expeditionen vor etwa 4.000 Jahren trug es sich zu, dass eine unbekannte Person oder Gruppe einen mutigen Schritt unternahm, der sich im Nachhinein als revolutionär herausstellte. In die Wand einer Mine geritzt findet sich der allererste Ansatz zu etwas, das wir täglich anwenden: das Alphabet.

Das Fundstück, das auch 116 Jahre nach seiner Entdeckung noch weiter untersucht und neu ausgelegt wird, befindet sich auf einer, den Winden ausgesetzten Hochfläche in Ägypten namens Serabit el-Khadim, einem, selbst für Sinai-Verhältnisse abgelegenen Ort. Dieser war für die alten Ägypter allerdings nicht allzu schwer zu erreichen, wie die Existenz eines Tempels dort zeigt. Als ich (d.i. Lydia Wilson; Anm. Redn.) 2019 dort war, schaute ich von der Anhöhe auf die einsame, schöne Landschaft und stellte fest, dass ich die gleiche Ansicht sah, welche die Erfinder des Alphabets jeden Tag gesehen hatten. Abbildung 1.

Abbildung 1. Ausblick von Serabit el-Khadim, dem Zentrum des Türkisabbaus im alten Ägypten (Bild: Lydia Wilson)

Tempel der Hathor

Der aus dem natürlichen Felsen herausgehauene Tempel ist Hathor, der Göttin der Türkise (und anderer Dinge) geweiht. Stelen mit eingemeißelten Hieroglyphen säumen die Wege zum Schrein, wo archäologische Funde darauf hindeuten, dass es einst einen ausgedehnten Tempelkomplex gab. Abbildung 2. Etwa eine Meile südwestlich des Tempels liegt der Grund für all das alte Interesse an dieser Gegend: eingebettet in den Felsen finden sich Klumpen aus Türkis, einem Mineral, das die Wiedergeburt symbolisierte - ein wichtiges Motiv in der ägyptischen Kultur - und die Farbe, welche die Wände ihrer prunkvoll ausgestatteten Gräber schmückte. Die Türkisvorkommen waren der Grund, warum die ägyptische Oberschicht Expeditionen hierher schickte, ein Unternehmen, das um 2.800 v. Chr. begann und mehr als tausend Jahre andauerte. In der Hoffnung, eine reiche Ausbeute mit nach Hause zu nehmen, brachten die Expeditionen der Hathor Opfergaben dar.

Abbildung 2. Tempel der Hathor in Serabit el-Chadim (Bild von Redn. eingefügt; Quelle: Einsamer Schütze - Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=30087485)

Rosetta-Stein des Alphabets

1905 grub ein Ehepaar, die Ägyptologen Sir William und Hilda Flinders Petrie, den Tempel aus und wies dort Tausende von Votivgaben nach.  An der Wand einer Mine entdeckte das Paar merkwürdige Zeichen und fing dann an solche auch an anderen Stellen, an Wänden und kleinen Statuen, zu sehen. Einige Zeichen waren eindeutig mit Hieroglyphen verwandt, aber sie waren einfacher als die schöne ägyptische Bildschrift an den Wänden des Tempels. Die Petries erkannten bald, dass diese Zeichen ein Alphabet darstellten, auch wenn das Entschlüsseln der Buchstaben ein weiteres Jahrzehnt dauern würde und das Verfolgen des Ursprungs der Erfindung noch weitaus länger .

Viele von den Schätzen, die sie ausgegraben hatten, brachten die Flinders Petries nach London. Darunter war eine kleine Sphinx aus rotem Sandstein, die auf der Seite die gleiche Handvoll an Buchstaben zeigte, welche sie in den Minen gesehen hatten. Nachdem der Ägyptologe Sir Alan Gardiner die Beschriftungen zehn Jahre lang untersucht hatte, veröffentlichte er 1916 seine Transkription der Buchstaben und ihrer Übersetzung: Die Inschrift auf der kleinen Sphinx, geschrieben in einem semitischen Dialekt, lautete „Geliebte von Ba'alat“ und bezog sich auf die Kanaanitische Göttin, Gemahlin von Ba'al, dem mächtigen kanaanitischen Gott. Abbildung 3.

Abbildung 3. "Rosetta Stein des Alphabets" - so nennt Goldwasser die bei Serabit entdeckte Sphinx (British Museum)

"Für mich wiegt ihr Wert all das Gold in Ägypten auf", sagte die israelische Ägyptologin Orly Goldwasser über diese kleine Sphinx, als wir diese Ende 2018 im British Museum betrachteten. Goldwasser war nach London gekommen, um für eine BBC-Dokumentation über die Geschichte des Schreibens interviewt zu werden (Der Link zu dem BBC-Video findet sich im Anhang; Anm. Redn.). In dem hohen, mit Bücherschränken gesäumten Ägypten- und Sudan-Studienraum, der von den öffentlichen Sälen durch abgeschlossene Türen und Eisentreppen getrennt war, holte ein Kurator die Sphinx aus ihrer Box und stellte sie auf einen Tisch, an dem Goldwasser und ich (d.i. Lydia Wilson; Anm.Redn.) sie bestaunten. "Jedes Wort, das wir lesen und schreiben, hat damit begonnen." Goldwasser erklärte, wie die Arbeiter in den Minen des Sinai eine Hieroglyphe in einen Buchstaben verwandelt haben dürften: „Nennen Sie das Bild beim Namen, nehmen Sie davon nur den ersten Laut und vergessen Sie dann das Bild.“ So verhalf die Hieroglyphe für einen Ochsen, Aleph, dem Buchstaben "a" eine Form zu geben, während "b" von der Hieroglyphe für "Haus", bêt, abgeleitet wurde. Diese ersten beiden Zeichen gaben dem System seinen Namen: Alphabet. Einige Buchstaben wurden aus Hieroglyphen entlehnt, andere stammten aus dem Leben, bis alle Laute der Sprache, die sie sprachen, in schriftlicher Form dargestellt werden konnten.

Ägypten - das Amerika der alten Welt

Der Tempelkomplex gab detaillierte Hinweise auf die Menschen, die in den ägyptischen Türkisminen am Sinai gearbeitet haben. Die Stelen, die die Pfade säumen, haben jede Expedition aufgezeichnet, einschließlich der Namen und Jobs aller Personen, die auf dem Gelände gearbeitet haben. Die bürokratische Veranlagung der ägyptischen Gesellschaft liefert heute ein klares Bild von den Migranten, die vor vier Jahrtausenden nach Ägypten strömten, um Arbeit zu suchen. Ägypten war, wie Goldwasser es ausdrückt, „das Amerika der alten Welt“. Wir können darüber im Buch Genesis der Bibel lesen, als Jakob, „der im Land Kanaan wohnte“ - das heißt an der Küste der Levante östlich von Ägypten - nach Ägypten reiste, um sein Glück zu suchen. Zusammen mit Hirten wie Jakob haben andere Kanaaniter in Serabit, etwa 210 Meilen südöstlich von Memphis, dem Sitz der pharaonischen Machthaber, in den Minen für ägyptischen Eliten geschürft.

Religiöse Rituale spielten eine zentrale Rolle, um ausländische Arbeiter zum Schreibenlernen anzuregen. Nach einem Arbeitstag dürften die kanaanitischen Arbeiter die Rituale ihrer ägyptischen Kollegen im prachtvollen Tempelkomplex von Hathor beobachtet und sich über die Tausenden von Hieroglyphen gewundert haben, die verwendet wurden, um der Göttin Gaben zu opfern. Nach Goldwassers Ansicht waren sie jedoch nicht entmutigt, weil sie die Hieroglyphen um sie herum nicht lesen konnten. Stattdessen begannen sie, die Dinge auf ihre eigene Weise zu schreiben und erfanden ein einfacheres, vielseitigeres System für ihre eigenen religiösen Beschwörungen.

Das Alphabet blieb bis sechs Jahrhunderte oder länger nach seiner Erfindung auf die kulturelle Peripherie des Mittelmeers beschränkt; sichtbar nur in Worten, die in Gegenstände - Dolche, Töpferwaren - wie sie im gesamten Nahen Osten gefunden wurden, eingeritzt waren, nicht aber nicht in irgendeiner Schrift der Verwaltung oder der Literatur. Aber dann, um 1200 v. Chr. kam es zu großen politischen Umwälzungen, die als Zusammenbruch der späten Bronzezeit bekannt sind. Die großen Reiche des Nahen Ostens - das mykenische Reich in Griechenland, das hethitische Reich in der Türkei und das alte ägyptische Reich - lösten sich in Bürgerkriegen, Invasionen und Dürren auf. Mit dem Aufkommen kleinerer Stadtstaaten begannen die lokalen Machthaber, lokale Sprachen für ihre Regierung zu verwenden. Im Land Kanaan waren dies semitische Dialekte, die mit Alphabeten aus den Sinai-Minen niedergeschrieben wurden.

Die Phönizier

Die kanaanitischen Stadtstaaten blühten auf, und ein emsiger Seehandel verbreitete ihr Alphabet zusammen mit ihren Waren. Variationen des Alphabets - heute als phönizisch bekannt, vom griechischen Wort für die kanaanitische Region - wurden von der Türkei bis nach Spanien gefunden und sind bis heute in Form der von den Griechen und Römern verwendeten und weitergegebenen Buchstaben erhalten.

In dem Jahrhundert seit der Entdeckung dieser ersten eingeritzten Buchstaben in den Sinai-Minen herrschte der akademische Konsens vor, dass hochgebildete Menschen das Alphabet geschaffen haben müssten. Goldwassers Forschung kommt zum gegenteiligen Schluss. Sie argumentiert, dass es tatsächlich eine Gruppe ungebildeter kanaanitischer Bergleute war, die den Durchbruch geschafft haben, ohne Hieroglyphen und unfähig, ägyptisch zu sprechen, aber inspiriert von der Bildschrift, die sie um sich herum sahen. Nach dieser Sichtweise stammte eine der tiefgreifendsten und revolutionärsten intellektuellen Schöpfungen der Zivilisation nicht von einer gebildeten Elite, sondern von Analphabeten, die in der Geschichtschreibung normalerweise keinen Platz finden.

Pierre Tallet, ehemaliger Präsident der Französischen Gesellschaft für Ägyptologie, unterstützt Goldwassers Theorie: "Natürlich macht [die Theorie] Sinn, da klar ist, dass wer auch immer diese Inschriften auf dem Sinai schrieb, keine Hieroglyphen kannte", sagte er mir. "Und die Wörter, die sie schreiben, sind in einer semitischen Sprache, also müssen es Kanaaniter gewesen sein, von denen wir aus den ägyptischen Aufzeichnungen hier im Tempel wissen, dass sie da waren."

Es gibt allerdings Zweifler. Christopher Rollston, ein hebräischer Gelehrter an der George Washington University, argumentiert, dass die mysteriösen Schreiber wahrscheinlich Hieroglyphen kannten. "Es wäre unwahrscheinlich, dass Menschen, die nicht schreiben konnten, fähig oder verantwortlich gewesen wären, das Alphabet zu erfinden", sagt er. Dieser Einwand scheint jedoch weniger überzeugend als Goldwassers Version - wenn ägyptische Schreiber das Alphabet erfanden, warum war es dann sofort für ungefähr 600 Jahre aus ihren Schriften verschwunden?

Abgesehen davon dürfte - laut Goldwasser - die enge Verbindung zwischen Piktogrammen und Text überall um uns herum offensichtlich sein - in unserer Zeit in Form von Emojis . Sie verwendet Emojis großzügig in ihren E-Mails und Textnachrichten und argumentiert, dass sie ein soziales Bedürfnis erfüllen, das die alten Ägypter verstanden hätten. "Emojis haben der modernen Gesellschaft tatsächlich etwas Wichtiges gebracht: Wir spüren den Verlust von Bildern, wir sehnen uns nach ihnen und mit Emojis haben wir ein bisschen von den alten ägyptischen Spielen in unser Leben gebracht."


 *Der vorliegende Artikel von Lydia Wilson ist unter dem Titel "Who Invented the Alphabet?" in der Jänner/Feber Ausgabe des Smithsonian Magazine erschienen.  https://www.smithsonianmag.com/history/inventing-alphabet-180976520/ .Der Artikel wurde von der Redaktion möglichst wortgetreu übersetzt und es wurden einige Untertitel und eine Abbildung (Abbildung 2) eingefügt.

 


Weiterführende Links

BBC Four - The Secret History of Writing (Presenter: Lydia Wilson), October 2020); Video 2:56:36. Wie die Erfindung des Schreibens die Welt, in der wir leben, geprägt hat, in drei aufeinander folgenden Teilen:  1. From Pictures to Words - 00:00 2. Words on a Page - 59:03 3. Changing the Script - 1:57:57. https://www.youtube.com/watch?v=B9mmojTDgDg

Smithsonian Institution (Smithsonian, https://www.si.edu/):  bedeutende US-amerikanische Forschungs- und Bildungseinrichtung, die auch zahlreiche Museen, Galerien und den Nationalzoo betreibt.  Das Smithsonian stellt seine komplette Sammlung nach und nach in elektronischer Form (2D und teilweise 3D) unter der freien CC-0-Lizenz kostenlos zur Weiterverbreitung zur Verfügung. Das Smithsonian Magazine (aus dem der obige Artikel stammt) bringt eine Fülle faszinierender, leicht verständlicher Artikelaus allen Bereichen der Natur und der Gesellschaften. https://www.smithsonianmag.com/?utm_source=siedu&utm_medium=referral&utm_campaign=home