Tierversuche in der Grundlagenforschung – Grundsatzerklärung der Max-Planck-Gesellschaft

Do, 19.01.2017 - 06:27 — Max-Planck-Gesellschaft

Icon Politik & GesellschaftTierversuche geraten immer mehr unter die Kritik breiter Gesellschaftschichten. Dennoch ist die biologische und medizinische Forschung nach wie vor auf derartige Experimente angewiesen, da nur diese es erlauben das komplizierte Zusammenspiel der Komponenten komplexer Organismen zu verstehen. In ihrer Grundsatzerklärung (White Paper) zum Thema „Tierversuche in der Grundlagenforschung" betont die Max-Planck-Gesellschaft (MPG)“ die Notwendigkeit von Tierversuchen, bekennt sich aber auch zur besonderen Verantwortung des einzelnen Wissenschaftlers für die Versuchstiere und die mit Untersuchungen an Lebewesen verbundenen ethischen Probleme. Das Papier wurde nach umfangreichen Beratungen einer vom Präsidenten der MPG einberufenen international besetzten Kommission renommierter Wissenschafter unter dem Vorsitz des Neurowissenschafters Wolf Singer (http://scienceblog.at/wolf-singer) verfasst.*

Die Max-Planck-Gesellschaft fördert Grundlagenforschung in den Natur- und Geisteswissenschaften, und hat daher die Verantwortung, eine kritische Bewertung der ethischen Folgen wissenschaftlicher Untersuchungen vorzunehmen.

Besondere Herausforderungen entstehen in den Lebenswissenschaften, deren Forschungsprojekte häufig auch Tierversuche erfordern. (Abbildung 1. Tierversuche in der MPG 2015).

Abbildung 1. Tierversuchszahlen in der MPG im Jahr 2015. Es wurden vorwiegend Versuche mit geringer Belastung durchgeführt. Lediglich 0,35 Prozent der Versuche wurden als schwer belastend eingestuft. Affen (keine Menschenaffen!) werden im Tierversuch nur dann eingesetzt, wenn die Fragestellung an keiner anderen Tierart, wie beispielsweise an Mäusen, Fischen oder Fruchtfliegen, untersucht werden kann. (© MPG; https://www.mpg.de/themenportal/tierversuche/tiere)

Daraus ergibt sich eine spezielle Verantwortung der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die den Wert des Wissenserwerbs gegen den möglichen Schaden abwägen müssen, der dabei empfindungsfähigen Lebewesen zugefügt wird. Um sich mit dieser Herausforderung auseinanderzusetzen, hat der Präsident einen umfassenden Diskussionsprozess initiiert. Daran waren die Mitglieder einer internationalen Präsidentenkommission, die Wissenschaftlichen Mitglieder der MPG sowie Vertreter der Generalverwaltung beteiligt. Die Ergebnisse dieser Beratungen sind in dem vorliegenden WhitePaper zusammengefasst, das eine Stellungnahme der MPG zu Tierversuchen in der Grundlagenforschung darstellt.

Nachhaltiger Fortschritt durch erkenntnisorientierte Forschung

Dem Versuch, „die Welt besser zu verstehen“, wird ein Wert an sich zugeschrieben, da er konstitutiv für menschliche Kulturen ist. Zudem bezieht Erkenntnisgewinn auch einen großen Wert daraus, dass er die Voraussetzung für mögliche, allerdings nicht planbare Beiträge zu Problemlösungen ist. Der Beitrag, den erkenntnisorientierte Forschung letztlich am nachhaltigen Fortschritt geleistet hat und leisten kann, ist trotz menschengemachter Katastrophen unbestreitbar:

Verbesserte Erklärungsmodelle der Welt haben dazu beitragen, Herausforderungen zu meistern und werden dies auch weiterhin tun. So haben Fortschritte im Verständnis von Krankheitsmechanismen und der Vorhersage gefährlicher Entwicklungen doch unzweifelhaft zur Verbesserung der Lebensqualität und zur Bekämpfung von Leid beigetragen. Der Mensch hat dank grundlegender Erkenntnisgewinne wirkungsvolle Mittel entwickelt, um auf die unbelebte und belebte Welt einzuwirken. Ein Handeln aber wäre verantwortungslos, wenn es nicht von dem Versuch begleitet wäre, das zur Vorhersage der Folgen benötigte Wissen zu erwerben. Somit sprechen, über einen von vielen attestierten intrinsischen Wert des Erkenntnisgewinns hinaus, langfristige Nützlichkeits- ebenso wie moralische Überlegungen für den hohen Wert wissenschaftlicher Grundlagenforschung.

In den Lebenswissenschaften entstehen besondere ethische Konflikte,

weil der zu erwartende Nutzen wissenschaftlicher Forschung gegen den tatsächlichen oder mutmaßlichen Schaden für empfindungsfähige Lebewesen abgewogen werden muss. Die entstehenden ethischen Konflikte müssen in einem qualifizierten Diskurs aller Beteiligten kontinuierlich aufs Neue gelöst werden. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben folglich die moralische Verpflichtung, die für ethisch verantwortungsvolles Handeln notwendigen Fähigkeiten zu erwerben und die Öffentlichkeit an ihrem Diskurs zu beteiligen. Sie müssen Vertrauen bilden, indem sie offen über die Ziele ihrer Untersuchungen und die dafür eingesetzten Methoden berichten. Ebenso müssen sie die unberechenbare Natur von Entdeckungen, deren mutmaßliche Folgen, sowie die Grenzen wissenschaftlicher Erkenntnisse deutlich machen. Alle Beteiligten müssen hierbei bedenken, dass ethische Einschätzungen stark von subjektiven Einstellungen und Werten abhängen, die zudem einem zeitlichen Wandel unterliegen.

Die größte Herausforderung für die Lebenswissenschaften in den kommenden Jahrzehnten besteht darin, die äußerst komplexen Wechselwirkungen zwischen den einzelnen Komponenten von Organismen zu verstehen. Dank der Untersuchungen in Modellsystemen wie Zellkulturen und in vitro Präparationen sind die Bausteine von Organismen, die Gene, Proteine und individuelle Zellen bereits gut erforscht. Um jedoch integrierte Funktionen zu verstehen, die aus dem Zusammenspiel dieser Komponenten entstehen, müssen intakte Organe und Organismen untersucht werden. Dies gilt insbesondere für komplexe Systeme wie das Herz-Kreislauf-System, das Immunsystem und allen voran das Gehirn.

Über den fortlaufenden Diskurs hinaus müssen ethische Kompromisse auch in einem rechtlichen Regelwerk festgeschrieben werden. Die aktuelle ethische Einstellung einer Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger spiegelt sich gegenwärtig in einem Konzept wieder, das den moralischen Status von empfindungs-und leidensfähigen Lebewesen sowie ihre kognitiven Fähigkeiten in den Mittelpunkt stellt. Diese sogenannte pathoinklusive Position ist auch die Grundlage der derzeitigen Tierschutz-Gesetzgebung in der Europäischen Union und in Deutschland.

Das 3R-Prinzip

Trotz strikter gesetzlicher Regelungen bleibt die ethische Abwägung eine außerordentlich herausfordernde Aufgabe, für die sowohl ein informierter Diskurs als auch die Zuweisung und Übernahme von Verantwortung notwendig ist. Die MPG verpflichtet sich daher zu einer Reihe von Maßnahmen zur Verbesserung des Tierschutzes und der Förderung einer Kultur der Fürsorge für die Tiere im Rahmen des gesetzlichen vorgeschriebenen 3R-Prinzips „Replacement, Reduction, Refinement“: Ersatz von Tierversuchen, Reduktion von Tierversuchen, Minimierung der Belastungen der Tiere. Abbildung 2.

Abbildung 2. Die Verantwortung der Max-Planck-Gesellschaft fußt auf dem 3R-Prinzip: „Replacement, Reduction, Refinement“ - dem Vermeiden, dem Verringern und dem Verbessern von Tierversuchen. (© Wolfgang Filser/MPG)

Ein koordinierendes Team in der Generalverwaltung der MPG soll aufgebaut werden und diese Maßnahmen in enger Kooperation mit den Instituten umsetzen.

Die MPG verpflichtet sich unter anderem:

  • in der Tierforschung höchste wissenschaftliche Qualität anzustreben, um den größtmöglichen epistemischen Nutzen zu erzielen
  • Tierversuche durch die Förderung und Finanzierung alternativer Versuchsmethoden zu vermeiden
  • offen und transparent über Tierversuche zu kommunizieren und eine aktive Rolle im öffentlichen Diskurs über alle Aspekte der Tierforschung zu übernehmen.

Als Organisation, die sich der Grundlagenforschung widmet, führt die MPG ein viertes R für „Responsibility“ oder Verantwortung ein. Sie beabsichtigt damit, ihre breitgefächerte wissenschaftliche Expertise in den Lebens- und Geisteswissenschaften zur Beförderung des Tierschutzes zu nützen. Hierzu gehören die Erforschung der kognitiven Fähigkeiten unterschiedlicher Tierarten, ihrer adäquaten Lebensbedingungen und von Verhaltensäußerungen, die auf Leid oder Stress schließen lassen. Wissenschaftliche Fortschritte, die für den Tierschutz von Bedeutung sind, sollen kommuniziert und mögliche Konsequenzen diskutiert werden.

Zur Erfüllung des vierten R verpflichtet sich die MPG unter anderem:

  • das Sozialleben von Versuchstieren zu verbessern
  • die wissenschaftliche Grundlage für eine objektive Ermittlung von Empfindungsfähigkeit, Schmerzerfahrung, Bewusstsein und Intelligenz in der Tierwelt weiterzuentwickeln
  • die Professionalisierung des öffentlichen Diskurses über Fragen der Tierethik aktiv zu unterstützen.

Zur Umsetzung des „White Papers“ wurden folgende Programme entwickelt:

  • Eine interne interaktive Datenbank bietet einen Überblick über alle Tierversuche der MPG und dient als Instrument für die Metaanalyse, zur transparenten Kommunikation und für das Management der Tierhäuser.
  • Forschungsprojekte zur Verbesserung der 3R-Maßnahmen sollen speziell gefördert werden.
  • Um der Notwendigkeit der Transparenz und Vertrauensbildung gerecht zu werden, wurde ein “Kommunikationsleitfaden“ formuliert und den Max-Planck-Instituten zur Verfügung gestellt.
  • Ein verpflichtendes Ethik-Curriculum wird derzeit entwickelt, um alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die mit Tieren arbeiten, zur aktiven Teilnahme an einem professionellen ethischen Diskurs zu befähigen.
  • Die Fortschritte der Institute bei der Umsetzung der Selbstverpflichtungen, die in diesem White Paper formuliert wurden, sollen durch die Fachbeiräte evaluiert werden.

*Die Grundsatzerklärung "Tierversuche in der Max-Planck-Gesellschaft , White Paper" wurde am 12. Januar 2017 vom Senat der Max-Planck Gesellschaft verabschiedet. Im Blog erscheint die ungekürzte Zusammenfassung des White Paper. Wir haben diese durch Untertitel leicht adaptiert und zur Illustration 2 Abbildungen aus dem MPG-Themenportal Tierversuche eingefügt. Die MPG-Pressestelle hat freundlicherweise der Veröffentlichung in ScienceBlog.at zugestimmt.


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