Placebo-Effekte: Heilung aus dem Nichts

Do, 16.02.2017 - 10:45 — Susanne Donner

Susanne DonnerIcon Gehirn

Erwartungshaltung und Konditionierung können bewirken, dass Scheinmedikamente ebenso wirkungsvoll werden wie Arzneien – zumindest gegen Schmerz, bei psychischen Erkrankungen und Allergien. Die Erforschung dieser sogenannten Placebo-Effekte ist zu einem enorm wichtigen, intensiv untersuchten Thema in der Medizin geworden. Die Chemikerin und Wissenschaftsjournalistin Susanne Donner beschreibt hier, wie Veränderungen auf Ebene des Gehirns und Rückenmarks dieses Phänomen erklären können.*

Das Experiment ist ein Lehrstück über die Macht der Gedanken: Opioide sind die stärksten Schmerzmittel überhaupt. Und sie helfen eigentlich immer. Aber als die Neurologin Ulrike Bingel vom Universitätsklinikum Essen einem Teil der 22 Probanden erzählte, dass sie nun einem Hitzeschmerz ausgesetzt würden, aber dass es mehr wehtun könne, da sie keine Opioide bekämen, peinigte sie die Hitze tatsächlich stärker als zuvor. Dabei hatten die Forscher entgegen ihrer Behauptung doch das Medikament verabreicht. Aber es wurde unwirksam, weil die Probanden dachten, dass ihnen nichts helfe. Erzählte Bingel den Versuchspersonen dagegen, dass sie ein starkes Opioid bekämen, wirkte es doppelt so stark wie ohne Vorankündigung – ein klassischer „Placeboeffekt“. Die Aufhebung der Wirksamkeit heißt in Analogie dazu „Noceboeffekt“ (lat. von nocere: schaden). Schon der Wechsel von einem Originalpräparat zu einem Generikum, einem preiswerteren Nachahmerpräparat, kann einen solchen Einbruch in der Wirksamkeit zeitigen. Beide Effekte sind genauso mächtig wie Arzneistoffe, das demonstriert Bingels Experiment von 2011.

Abbildung 1. Placebos enthalten keine Substanzen, die bei der zu behandelnden Krankheit wirksam sein könnten. Grafik: MW

Die Wirkmacht der Placebos

Scheinmedikamente lindern Studien zufolge Schmerzen bei verschiedenen Erkrankungen von der Migräne bis zum Rückenleiden. Aber auch Depressionen und Angsterkrankungen sprechen darauf an. 2008 sorgte der Psychologe Irving Kirsch von der Universität in Plymouth für Gesprächsstoff, als er in einer Metaanalyse zu vier Antidepressiva aufzeigte, dass diese bei leichter und mittelgradiger Erkrankung auch nicht mehr bewirken als ein Placebo. Sogar die Bewegungsfähigkeit von Parkinsonkranken und Heuschnupfen lassen sich über die Beeinflussung des Geistes verbessern.

„Im Grunde können wir alle Symptome mit Placebos behandeln“, macht der Psychologe Paul Enck vom Universitätsklinikum Tübingen deutlich. „Die zugrunde liegenden Krankheitsursachen bleiben aber bestehen.“ Entgegen den Verheißungen etlicher Gegner der Schulmedizin kann der Placeboeffekt aber keine Wunder erklären, stellt der Psychologe Falk Eippert von der Universität in Oxford klar. „Krebs etwa kann man damit nicht heilen. Behauptungen dieser Art sind Humbug.“

Erwartung und Gewöhnung

Abbildung 2. Eine 20 Minuten dauernde Behandlung mit Metallstäben (Perkins Tractors) sollte im 18. Jahrhundert gegen Entzündung, Schmerz im Gesichts-und Schädelbereich wirken. (Das gemeinfreie Bild wurde von der Redaktion zugefügt. Quelle: Gillray - Treatment with tractors.jpg, Created: 1 January 1801; Wikipedia.)

Der Placeboeffekt wird mindestens über zwei unterschiedliche Mechanismen vermittelt. Zum einen wird der Körper auf einen Stimulus hin, das Medikament, konditioniert. So sind Veränderungen auf das Immunsystem zu erklären, das sich willentlich gar nicht beeinflussen lässt. In einem Experiment etwa wurde das Immunsuppressivum Cyclosporin mit grüner Erdbeermilch kombiniert. Das Medikament hemmt bestimmte Entzündungsbotenstoffe. Nachdem die Probanden an diesen Effekt gewöhnt worden waren, beeinflusste grüne Erdbeermilch alleine die Entzündungsparameter in derselben Weise.

Daneben entsteht der Placeboeffekt über die Erwartung des Patienten und damit über eine geistige Manipulation des körperlichen Zustands. Die Erwartungshaltung speist sich auch aus Vorerfahrungen mit demselben Medikament oder aus Vorwissen etwa aus den Medien über die Wirksamkeit. Je positiver der Patient der Therapie gegenübersteht, desto mehr wird sie ihm helfen. Überhaupt zeigen Optimisten ausgeprägtere Placeboeffekte.

Bis heute am besten untersucht ist die Hemmung von Schmerz mit Scheinmedikamenten. Dabei produzieren die Nervenzellen im Gehirn körpereigene Opioide, die dann sozusagen als leibeigenes Medikament auf das Schmerzsystem wirken. Dies beinhaltet verschiedene schmerzhemmende Regionen der Hirnrinde wie den dorsolateralen präfrontalen Cortex und das rostrale anteriore Cingulum. Die Aktivierung dieser Areale zieht eine verminderte Aktivierung schmerzrelevanter Regionen nach sich, etwa im somatosensorischen Cortex.

Der Noceboeffekt wird mutmaßlich über ähnliche Mechanismen ausgelöst, sodass dieselben Hirnstrukturen mit von der Partie sind. Allerdings wird überdies auch der präfrontale Cortex im Stirnhirn aktiviert, berichtet Bingel. „Nachvollziehbar, denn im präfrontalen Cortex werden Ängste verarbeitet. Je ängstlicher Patienten sind, desto eher erleiden sie bei der Einnahme eines Medikamentes einen Noceboeffekt, also einen Schaden, der nicht rein pharmakologisch bedingt ist.“

Hirnrinde, Hirnstamm und Rückenmark sind beteiligt

Die Beteiligung der Hirnrinde lässt vermuten, dass der Placeboeffekt höhere geistige Fähigkeiten erfordert. Allerdings entdeckte der Psychologe Falk Eippert von der Universität Oxford, dass der Placeboeffekt schon auf Ebene des Rückenmarks einsetzt – also einem evolutiv sehr alten und zugleich sehr schnellen Pfad. Die Antwort der Nervenzellen im Rückenmark wird gedämpft, wie er anhand von Aufnahmen mit einem Magnetresonanztomografen nachweisen konnte. Gesteuert wird der Effekt vom Hirnstamm, sagt Eippert. Dort werden Opioide ausgeschüttet, die die Schmerzminderung vermitteln.

Weshalb der Effekt schon auf so früher Ebene einsetzt, beschäftigt die Wissenschaftler. Eippert glaubt, dass der Placeboeffekt auch über eine Ausrichtung der Aufmerksamkeit zustande kommt. „Wenn wir Hunger haben, spüren wir Schmerzen nicht sonderlich“, verdeutlicht er an einem Beispiel. Dies ist aber keine sonderliche kognitive Leistung, sondern das Zentralnervensystem steuert autonom die Verschiebung der Aufmerksamkeit, so die Theorie.

Auch Tiere reagieren

Demzufolge sollten aber auch Tiere auf Scheinmedikamente ansprechen. Und tatsächlich: In Ratten und Mäusen konnten Forscher das beobachten. Todd Nolan von der Universität Florida stellte 2012 gar ein Rattenmodell vor, das sich zum Studium des Placeboeffektes eignet. Wenn er den Tieren Morphium verabreichte, reagierten sie weniger stark auf einen Hitzeschmerz an der Schnauze, auch nachdem er das Medikament absetzte. Eine klassische Konditionierungsreaktion: Ihr Körper produzierte eigenmächtig Opioide. Nolan konnte die erträgliche Schmerzschwelle messen, indem er die Hitzeelektrode so platzierte, dass es den Tieren an der Schnauze unangenehm heiß wurde, wenn sie von einer gesüßten Milch tranken. Je mehr Milch, desto mehr überwanden sie den Schmerz, desto ausgeprägter der Placeboeffekt.

Vom Tierversuch auf den Menschen zu schließen ist allerdings nur bedingt möglich: Schließlich setzt der Placeboeffekt beim Menschen eine mündliche Mitteilung voraus. Tiere haben jedoch keine Sprache, und ihre Erwartungshaltung muss daher im Experiment indirekt – durch Konditionierung – geweckt werden. „Es ist noch immer strittig, inwieweit Tiere wirklich zu einem dem Menschen vergleichbaren Placeboeffekt fähig sind“, bewertet Eippert. „Aber die aktuelle Forschung deutet darauf hin.“

Placebo statt Pille

Unterdessen grübeln die Forscher, wie das Wissen über Placebo- und Noceboeffekte den Patienten zu Gute kommen kann. Denn in den Experimenten wird den Probanden oft eine Lüge aufgetischt, damit ihre Erwartung den Placeboeffekt in die Höhe schraubt. Doch im klinischen Alltag gilt das Ideal des aufgeklärten Patienten. Ärzte dürfen nicht schwindeln oder Informationen unterschlagen. In der Heilkunde anderer Länder gehören Mystik und Geheimhaltung dagegen zur guten Tradition, etwa bei Heilern aus dem afrikanischen Raum. „Schwindeln ist nicht der richtige Weg“, wehrt Enck ab, „wir müssen deshalb damit leben, dass drastische Placeboeffekte nur Gegenstand akademischer Forschung sein können.

Doch in engen Grenzen kann die Manipulation des Geistes auch dem Patienten helfen". So diskutieren einige Ärzte, ob sich der Konditionierungseffekt nutzen lässt, um in gewissen Abständen das Medikament durch ein Placebo zu ersetzen. „Wir könnten Medikamente einsparen und Nebenwirkungen vermindern. Die meisten Patienten wären dazu sofort bereit“, glaubt Enck. Das Konzept ist als „placebo-kontrollierte Dosisreduktion“ in die Literatur eingegangen. Bei Schuppenflechte, allergischem Schnupfen und dem Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom haben Wissenschaftler es schon erprobt.

So teilte Adrian Sandler vom Olson Huff Center in Asheville 99 Kinder mit Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom in drei Gruppen ein. Acht Wochen lang erhielten alle zunächst die normale Dosis an Methylphenidat, einem gängigen Medikament gegen die Erkrankung. Eine Gruppe fuhr so fort. Eine weitere nahm nur noch die halbe Dosis und eine weitere Gruppe bekam die halbe Dosis samt einer farbigen Tablette, bei der es sich um ein Placebo ohne Wirkstoff handelte. Sandler zufolge war die Wirksamkeit der Behandlung in allen Gruppen gleich gut.

Mitgefühl und Mitverantwortung

Einen anderen Ansatzpunkt die Kenntnisse aus der Forschung in die Praxen zu bringen, hat eine Hamburger Palliativmedizinerin gegenüber Eippert geschildert. Sie schärfe ihren Patienten ein, dass sie es selbst in der Hand hätten, wie gut die Therapie anschlage, weil ihr Körper selbst die Schmerzen vermindern könne, wenn sie an den Behandlungserfolg glaubten. Mit dieser Ausrichtung der Erwartungshaltung versucht sie den Placeboeffekt zugunsten ihrer Patienten zu nutzen.

Die Zuwendung des Arztes kann ein Übriges beitragen. In einem Experiment demonstrierte David Rakel von der Universität Wisconsin in Tampa, dass sich die Dauer einer Erkältung um einen Tag verkürzt, wenn der Kranke einen mitfühlenden Arzt vor sich hat. Die Empathie kann in einigen Experimenten die Wirkung von Scheintherapien erklären.

Vor allem aber zeigt die Forschung eines: Die bisherige Fokussierung des Gesundheitswesens auf pharmakologische Effekte greift viel zu kurz. Es gibt andere ebenso potente Heilmittel wie die Zuwendung und die Orientierung der Erwartung des Kranken, die bisher völlig außer Acht gelassen wurden. Dabei kosten sie fast nichts.


*Der Artikel ist der Webseite www.dasgehirn.info entnommen: https://redaktion.dasgehirn.info/wahrnehmen/schmerz/heilung-aus-dem-nichts,er ist dort am 17.11.2016 erschienen und steht unter einer CC-BY-NC Lizenz. (Abbildung 2 wurde von der Redaktion zugefügt) www.dasGehirn.info ist ein Projekt der Gemeinnützigen Hertie-Stiftung und der neurowissenschaftlichen Gesellschaft e.V. in Zusammenarbeit mit dem ZKM|Zentrum für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe


Weiterführende Links

Placebos - Die Kraft der Einbildung (zdf info, 18.05.2013) Video 14:57 min https://www.youtube.com/watch?v=VuX0mi-L5hM Standard-YouTube-Lizenz

UKF Aktuell: Der Placeboeffekt (Universitätsklinikum Freiburg, 01.04.2015) Video 2:40 min. https://www.youtube.com/watch?v=O6zHRYuWv9A Standard-YouTube-Lizenz

Placebos und Nocebos mit Paul Enck (Arvid Leyh, Datum: 31.08.2012) Audio 16:05 min. https://redaktion.dasgehirn.info/aktuell/foxp2/placebos-und-nocebos-mit-paul-enck-8330/view/ Lizenz: cc-by-nc ,

Stephan Geuter und Schmerz per Nocebo (Martin Vieweg, 11.10.2013) Audio 12:56 min https://redaktion.dasgehirn.info/aktuell/foxp2/stephan-geuter-und-schmerz-durch-nocebo-888/view/ Lizenz: cc-by-nc .