Frauen in den Naturwissenschaften: die ersten Absolventinnen an der Universität Wien (1900 - 1919)

Do, 01.06.2017 - 12:41 — Robert Rosner

Robert RosnerIcon WissenschaftsgeschichteWer waren die meist jungen Frauen, die sich im Wien der Jahrhundertwende, in einer Zeit, in der die Naturwissenschaften in Österreich wenig öffentliches Interesse fan­den, entschlossen, ein naturwissenschaftliches Studium aufzunehmen? Der Chemiker und Wissenschaftshistoriker Robert Rosner versucht an Hand der sogenannten „Nationale“ - Angaben, die alle Studenten zu Geburtsort, Religion, und Stand des Vaters oder Vormunds machen mussten - ein Bild dieser so ungewöhnlichen Frauen zu zeichnen.

In der reich­haltigen Literatur, welche die bürgerliche Gesellschaft in Wien (und Prag) um die Jahrhundertwende ausführlich beschreibt, beschäftigten sich junge Menschen - und erst recht die jungen Frauen - mit den schönen Dingen der Welt, mit Kunst, Theater oder Musik. In den Gymnasien - soweit Mädchen Gymnasien überhaupt besuchen konnten - wurde das Hauptgewicht auf Griechisch, Latein und Deutsch gelegt. Die Naturwissenschaften spielten eine untergeordnete Rolle, Chemie nur in zwei Klassen ein halbes Jahr lang als Nebengebiet der Physik unterrichtet. Es müssen also sehr ungewöhnliche Frauen gewesen sein, die sich um ein Doktorat in einem Fach der Naturwissenschaften bemühten, obwohl die Berufsmöglichkeiten gering waren. Bereit waren sich etwa „mit den Temperaturkoeffizienten einiger Jodelemente“ zu beschäftigen (Dissertation von Olga Steindler 1903) oder mit der „Esterbildung einiger Sulfosäuren“ (Dissertation der Margarete Furcht 1902).

Nachdem 1897 Frauen zum Studium an der philosophischen Fakultät der öster­reichischen Universitäten zugelassen wurden, waren es anfangs nur wenige, die tatsächlich ein Studium begannen, häufig mit der Absicht eine Lehramtsprüfung abzulegen, um dann an einem Gymnasium für Mädchen zu unterrichten. Nur ein Teil der ersten Studentinnen an den österreichischen Hochschulen schlossen das Studium mit einem Doktorat ab, gleichgültig in welchem Fach:

In Germanistik waren es drei Frauen, deren Dissertation 1903 angenommen wurde, in Anglistik und Romanistik je eine. In Mathematik gab es die erste Dissertation schon 1900, im Fach Botanik 1901 und im Fach Chemie 1902. Die oben erwähnte Olga Steindler promovierte im Fach Physik 1903; Abbildung 1.

Abbildung 1. Olga Steindler (1879 - 1933) promovierte 1903 als erste Physikerin an der Univ. Wien, legte im selben Jahr auch die Lehramtsprüfung für Mittelschulen ab, unterrichtete in Folge an einem Wiener Mädchengymnasium und befasste sich mit Themen aus dem Bereich der Optik (Rechts: aus Jahresbericht des Mädchen-Obergymnasiums mit Öffentlichkeitsrecht des Vereines für erweiterte Frauenbildung 14 1905/06, 4-11 ÖNB 496086-B.Neu) Bild: http://bit.ly/2qEaeZ5

Als in den folgenden Jahren die Zahl der Studentinnen wuchs, wurde ersichtlich, welche Fachgebiete besonderes Interesse fanden: Bis 1914 gab es In Germanistik nicht weniger als 54 Dissertationen, in Romanistik 14 und in Anglistik 6. Im selben Zeitraum wurden 11 mathematische, 22 botanische 18 chemische und 14 physikalische Dissertationen angenommen worden. In keinem naturwis­senschaft­lichen Fachgebiet gab es auch nur annähernd so viele Studienabschlüsse, wie in der Germanistik.

Die Zahl der Frauen, die an der Universität Wien ihr Studium in den vier Fächern, Mathematik, Botanik, Chemie und Physik mit einem Doktorat abschlossen, war in Relation zu der Zahl der Männer größer als an der Deutschen Universität in Prag und noch viel größer als an der Tschechischen Universität. Abbildung 2.

Zum Vergleich: 50 Jahre später, zwischen 1950 und 1955, war die Zahl der Studentinnen, die in den vier untersuchten Fachgebieten an der Universität Wien promovierten, zwar stark gestiegen aber das relative Verhältnis von Frauen zu Männern noch immer niedrig, mit Ausnahme des Fachs Botanik.

Abbildung 2. Studienabschlüsse in Mathematik, Physik, Chemie und Botanik von Frauen und Männern in den Jahren 1900 - 1914 und zum Vergleich von 1950 -1955.

Herkunft, Religion und Stand des Vaters/Vormundes der Studentinnen

An Hand der sogenannten „Nationale“ - dem Personaldatenblatt, das alle Studenten auszufüllen hatten, - konnten diese Daten von 85 % der Absolventinnen erhoben werden.

Bemerkenswert ist die niedrige Zahl der Studentinnen aus den Bundesländern des heutigen Österreich. Die Ursache dafür mag die geringe Zahl von Bildungsstätten für Mädchen in diesen Gebieten gewesen sein. Wie Otto Neurath in einem 1914 erschienen Artikel behauptete, war Galizien das Gebiet mit der höchsten Dichte an Mädchengymnasien. Abbildung 3 :

Abbildung 3. Herkunft und Religion der Frauen, die im Zeitraum 1900 - 1919 an der Universität Wien in Mathematik oder Naturwissenschaften promoviert haben.

Wenn man sich die Berufsstruktur der Väter anschaut, sieht man, dass die Väter der katholischen Studentinnen vorwiegend höhere Beamte in der Verwaltung, bei Gericht, bei der Nordbahn, in der Armee oder im Unterrichtswesen, waren aber nur wenige Anwälte oder Ärzte. Ähnlich war die Situation bei den Vätern der evangelischen Studentinnen; nur gab es bei ihnen relativ mehr Anwälte. Die Väter der jüdischen Studentinnen waren hingegen vorwiegend in der Privatwirtschaft tätig oder arbeiteten als Anwälte und Ärzte, nur wenige waren Lehrer oder im Staatsdienst tätig. Bemerkenswerte Unterschiede sind bei einzelnen Fachrichtungen festzustellen: bei den Vätern der katholischen Botanikstudentinnen, gab es mehrere, die in der Privatwirtschaft als Direktoren, Hoteliers oder Gutsbesitzer tätig waren.

Die geringe Anzahl von katholischen oder evangelischen Studentinnen, deren Väter in der Privatwirtschaft tätig waren, deutet allerdings darauf hin, dass es in diesem Teil des Bürgertums noch größere Vorurteile gegenüber einem Frauenstudium gab als beim jüdischen Bürgertum.

An der Deutschen Universität in Prag waren die Verhältnisse sehr ähnlich. Außer einem Universitätsprofessor und einem Arzt waren die Väter von den acht jüdischen Studentinnen in der Privatwirtschaft tätig, dagegen - mit Ausnahme eines Landwirts - die Väter von fünf katholischen Studentinnen höhere Beamte. Von den Vätern der zwei evangelischen Studentinnen war einer Professor, der andere Fabrikant.

Die Studienrichtungen

Abbildung 4 bringt eine Zusammenstellung der Studienabschlüsse von Frauen und Männern in den einzelnen Fachgebieten:

Abbildung 4. Promotionen an der Universität Wien in Mathematik und Naturwissenschaften zwischen 1900 und 1919.

Es gab Unterschiede der gesellschaftlichen Herkunft zwischen den Studentinnen der einzelnen Fachrichtungen aber auch zwischen denen, die noch vor dem Krieg ihr Studium abschlossen und denen, die erst während des Krieges promovierten.

Als bei Kriegsausbruch 1914 die Männer einberufen wurden, entstand ein Mangel an männlichen Dissertanten, die mit ihren Untersuchungen die Arbeit der Professoren und Dozenten unterstützen konnten. Es wurde nun für Frauen leichter sich um ein Doktoratsstudium zu bewerben, und es konnten - besonders in den naturwissenschaftlichen Fächern - auf einmal viel mehr Frauen ihr Studium mit einem Doktorat abschließen.

Das Mathematikstudium

hat für die spätere Ausübung des Lehramts wohl mehr Möglichkeiten geboten als ein reines Naturwissenschaftstudium, denn der Lehrplan sah sogar für die humanistischen Gymnasien in den 8 Mittelschuljahren 23 Stunden Mathematik vor, während sich die Fächer Physik und Chemie zusammen mit nur 13 Stunden begnügen mussten. Man kann außerdem davon ausgehen, dass der Abschluss eines Doktorats bei der Bewerbung um eine Stelle einen Vorteil bot.

Rund zwei Drittel der Mathmatikstudentinnen stammte aus Wien und etwas mehr als ein Drittel waren Jüdinnen. In keinem anderen Fachgebiet gab es einen so hohen Anteil an Töchtern von (Hochschul)Lehrern.

Das Chemiestudium

Für Chemikerinnen gab es wenige Möglichkeiten im Schulunterricht unterzukommen. Hingegen gab es zur Jahrhundert­wende in Wien und auch in anderen Teilen des Reiches zahlreiche Betriebe und Laboratorien, in denen die jungen Chemikerinnen offenbar hofften, eine Stellung zu finden. Elisabeth Ekl, die 1918 promovierte, war die einzige, die eine Anstellung als Assistentin erhielt, nämlich an der Technischen Hochschule in Wien, wo sie bis 1923 blieb. An der Universität wurde im untersuchten Zeitraum keine einzige Frau eingestellt.

Die Chemiestudentinnen stammten aus allen Teilen der Monarchie, wobei die größte Gruppe aus Wien kam.

Die erste Frau, die 1902 in Wien ein Chemiestudium beendete, war Jüdin und die Tochter eines Börsensensals. Bis 1914 gehörten rund zwei Drittel der Frauen der jüdischen Religion an, in den Kriegsjahren immerhin noch ein Drittel. Die Struktur der Berufe der Väter änderte sich in dem Maße, in dem es verhältnismäßig mehr katholische und weniger jüdische Studentinnen gab.

Das Physikstudium

Mehr als die Studentinnen der anderen Fachrichtungen waren es die Physikstudentinnen, die ein Studium begannen, um sich Wissen anzueignen in der Hoffnung als Wissenschaftlerinnen arbeiten zu können. Tatsächlich gelang dies in der ersten Generation der Lise Meitner (Abbildung 5). Für die Frauen jener Generation, die im Krieg studierte, sind Marietta Blau (Abbildung 5), Hilde Fonovits oder Elisabeth Bormann anzuführen. Andere beschäftigten sich später mit Kinderpsychologie (wie Hermine Hug von Hugenstein) oder mit Pädagogik und Erziehung (wie Olga Steindler, Abbildung 1) und drückten dem von ihnen gewählten Fachgebiet ihren Stempel auf. Es waren sehr bedeutende Frauen, deren Namen mit Recht in Lexika zu finden sind.

Es ist bemerkenswert, dass einige der Frauen der ersten Generation erst in einem relativ fortgeschrittenen Alter begannen Physik zu studieren. Nicht nur die Offizierstochter Hermine Hug von Hugenstein beendete ihr Studium mit 37 Jahren, auch die Pragerin Marie Buchmayer war 34 Jahre, als sie nach acht Semestern das Studium abschloss und Rosa Uzel, die Tochter eines hohen Beamten der Nordbahn, 32 Jahre. Auch andere, die 30 oder 31 Jahre alt waren, als sie nach einem regulären Studium fertig wurden, mussten offenbar große Schwierigkeiten überwinden bevor sie ihr Physikstudium aufnehmen konnten.

Abbildung 5. Lise Meitner - Mitentdeckerin der Kernspaltung - hat 1906 ihr Physikstudium an der Universität Wien abgeschlossen, Marietta Blau - Entwicklerin des photographischen Nachweises von Kernstrahlung - im Jahr 1919. (Bilder: Lise Meitner: gemeinfrei, adaptiert; MariettaBlau: R.Rosner,B.Strohmaier (Hrsg.): Marietta Blau – Sterne der Zertrümmerung, Biographie einer Wegbereiterin der modernen Teilchenphysik. 2003)

Lag das Verhältnis von Frauen zu Männern, die ihr Studium mit einem Doktorat abschlossen, vor dem Krieg bei 1 : 7, so war in den Kriegsjahren der Bedarf an Dissertantinnen so groß, dass sich das Verhältnis zwischen Männern und Frauen vollständig umdrehte und mehr als doppelt so viele Frauen promovierten. Mehr als 60 % dieser Frauen stammten aus Wien. Die angegebene Religionszugehörigkeit war bei rund 40 % der Studentinnen römisch katholisch, bei einem Drittel jüdisch.

Das Botanikstudium

Das Interesse am Studium der Botanik scheint zu Beginn des 20. Jahrhunderts größer gewesen zu sein, als am Studium der anderen besprochenen Disziplinen. Das Verhältnis zwischen Frauen und Männern lag mit etwas mehr als 1 : 4 niedriger als in der Mathematik (1 : 7), Chemie (1 : 12) oder Physik (1 : 7). Allerdings waren die Berufsaussichten nicht rosig: der Naturge­schichts­unterricht erfolgte in den Mittelschulen nur in der Unterstufe, die Botanik konnte demnach nur als Zweitfach dazu dienen eine Stelle an einer Mittelschule zu erhalten. Auch war die Botanik ein Fach, das nicht so viele Möglich­keiten bot in der Privatwirtschaft unterzukommen, wie es für die Chemie der Fall war.

Dass sich dennoch so viele Studentinnen für ein Botanikstudium entschieden, scheint darauf hinzuweisen, dass dieses Fach für Frauen besonders anziehend war. Es mag damit zusammen­hängen, dass in der traditionellen Frauenrolle in der Familie Gartenpflege, Blumen und dergleichen größere Bedeutung hatten als Themen der Chemie oder der Physik. Vielleicht war das der Grund, dass sich Ida Boltzmann, Tochter des Physikers Ludwig Boltzmann, für ein Botanikstudium entschloss, während ihr Bruder Andreas der Studienrichtung seines Vaters folgte. Eine der ersten Botanikstudentinnen war Emma Stiassny, die sich auch nach Abschluss ihres Studiums als Wissenschaftlerin einen Namen machte. Eine andere Botanikstudentin war Margarete Streicher, die neben Botanik Turnen als Zweitfach unterrichtete und später eine entscheidende Rolle bei der Modernisierung des Turnunterrichtes spielte.

Stammte zwischen 1900 und 1914 mehr als die Hälfte der 22 Studentinnen aus Wien, so sank deren Anteil während des Krieges zugunsten von Studentinnen aus Galizien und Mähren. Als Religionszugehörigkeit wurde vor und während des Krieges von 50 % der Studentinnen römisch-katholisch angegeben, der Anteil der Jüdinnen stieg dagegen von 18 % auf 45 %.

Fazit

Aus den Angaben, die Studentinnen bei der Inskription über Herkunft, Religionszugehörigkeit und Stand ihres Vaters, bzw. ihres Vormunds gemacht hatten, konnte ein grober Eindruck darüber gewonnen werden, aus welchen Gebieten und sozialen Schichten die jungen Frauen kamen, die sich für ein Studium an der Universität Wien entschieden. Unterschiede hinsichtlich der gesellschaftlichen Herkunft gab es zwischen den Studentinnen der einzelnen Fachrichtungen aber auch zwischen denen, die noch vor dem Krieg ihr Studium abschlossen und denen, die erst während des Krieges promovierten. Die geringe Anzahl von katholischen oder evangelischen Studentinnen, deren Väter in der Privatwirtschaft tätig waren, deutet allerdings darauf hin, dass es in diesem Teil des Bürgertums noch größere Vorurteile gegenüber einem Frauenstudium gab als beim jüdischen Bürgertum.


Weiterführende Links

Frauen in Bewegung: 1848-1938. Biographien, Vereinsprofile, Dokumente.

Artikel zu Frauen in den Naturwissenschaften im ScienceBlog