KI revolutioniert die Humangenetik

Ricki Lewis

Icon Künstliche Intelligenz

Genetik ist überreich an Information und dadurch ein naturgegebenes Ziel für Künstliche Intelligenz. Bei Seltenen Erkrankungen kann KI die Zeitdauer bis zur Diagnosestellung enorm verkürzen, bei Krebserkrankungen aus Bildern der Tumorumgebung das Ansprechen auf Therapien und die wahrscheinlichen Ergebnisse vorhersagen, aus Strukturmodellen das Design innovativer wirksamer Arzneimittel erleichtern. Die Genetikerin Ricki Lewis sieht optimistisch die immer besser werdenden KI-gestützten Tools und Technologien, die eine personalisierte Medizin ermöglichen (werden). *

Die Genetik ist ein an Zahlen und Mustern überreiches Fachgebiet, das auf Gregor Mendels Kreuzungsexperimente von Gartenerbsen mit unterschiedlichen Merkmalen zurückgeht, welche die beiden Grundgesetze der Vererbung aufgezeigt haben.

Auf mikroskopischer Ebene ist Genetik Information, eine Abfolge von Sprachen, in der Information gespeichert, übertragen und manifestiert wird: Eine DNA-Sequenz wird in eine RNA-Sequenz transkribiert, die dann in eine Aminosäuresequenz übersetzt wird, aus der ein Proteinmolekül besteht. Die Abfolge von Proteinen, deren Häufigkeit je nach Veränderung der Genexpression als Reaktion auf die Umwelt schwankt, bestimmt unsere Eigenschaften, unsere Fähigkeiten und die unzähligen Stoffwechselreaktionen, die uns am Leben erhalten.

Da die Genetik so reich an Information ist, ist sie ein naturgegebenes Ziel für künstliche Intelligenz. KI kann unser Wissen über die Bedeutung unserer Gene beschleunigen, verbessern und erweitern und dabei über das hinausgehen, was wir aus weitaus einfacheren Daten ableiten. Sie verarbeitet (trainiert) riesige Datenmengen, speichert und analysiert sie, stellt dann Verbindungen her und liefert Erkenntnisse, die über das hinausgehen, was ein menschlicher Verstand leisten könnte.

Entwicklung des Turing-Tests und KI

Die Anfänge der KI werden dem britischen Mathematiker Alan Turing zugeschrieben. Er veröffentlichte 1950 seine Idee zu dem Experiment, das als „Turing-Test” bekannt wurde, 1950 in der Zeitschrift „Mind” unter dem Titel „Computing machinery and intelligence” (Rechenmaschinen und Intelligenz). Er stellte die Frage: „Können Maschinen denken?”

Turing nannte den gleichnamigen Test das „Imitationsspiel”. Passenderweise definiert die KI von Google diesen Test wie folgt:

„Ein Gedankenexperiment, das 1950 von Alan Turing vorgeschlagen wurde, um festzustellen, ob eine Maschine menschliche Intelligenz zeigen kann, indem sie eine getippte Unterhaltung mit einem menschlichen Fragesteller führt, der sie nicht von einem Menschen unterscheiden kann. Wenn die Antworten der Maschine nicht von denen eines Menschen zu unterscheiden sind, kann sie als intelligent angesehen werden.”

Der Turing-Test entwickelte sich zum Large Language Model (LLM), einer KI, die durch Training mit vielen Texten und unter Verwendung von „regelbasiertem Lernen“ menschenähnliche Texte generiert. Es ist die älteste Form der KI.

Das Large Language Model beinhaltet das maschinelle Lernen (ML). Es lernt und verbessert sich, ohne dazu aufgefordert zu werden. Als Nächstes gibt es Deep Learning (DL), eine Art von ML, das in die Informationsebenen der tiefen neuronalen Netze dringt. Dieses Deep Learning eignet sich ideal für die Datenflut der medizinischen Genetik.

Die Odyssee der Diagnose wird von Jahren auf Minuten verkürzt

Familien, die nach der Ursache für die ungewöhnliche Kombination von Symptomen und Merkmalen ihres Kindes suchen, bezeichnen diese jahrelange Suche als diagnostische Odyssee. Ich habe viele solcher Geschichten gehört, als ich das Buch „The Forever Fix: Gene Therapy and the Boy Who Saved It” schrieb, und viele Artikel im Laufe der Jahre gelesen.

Auf Konferenzen über Humangenetik habe ich voller Begeisterung beobachtet und gehört, wie Repräsentanten von Unternehmen neue Tools und Technologien vorstellten, welche die Zeitdauer bis zur Diagnosestellung immer mehr verkürzten., Mit Algorithmen und Datenbanken, die schnell Übereinstimmungen zwischen einer ungewöhnlichen oder sogar unbekannten Kombination von Anzeichen und Symptomen und bestimmten DNA-Sequenzen fanden, konnten Jahre, Monate, Wochen und sogar Tage auf wenige Minuten schrumpfen. Wenngleich ein Neugeborenen-Screening von Blutproben aus der Ferse zur Identifizierung von einigen Dutzend seltenen Krankheiten schon seit Jahrzehnten durchgeführt wird, bringen die heutigen KI-gestützten Ansätze die Diagnose extrem seltener Krankheiten auf ein neues Niveau. Ich habe in meinem Blog "DNA Science"mehrmals darüber berichtet.

Digitalisierung von Daten und Details

Die KI schichtet genetische Informationen und durchsucht Datenbanken nach Übereinstimmungen.

Sie kann leicht ungewöhnliche Anzeichen und Symptome bestimmter seltener genetischer Erkrankungen erkennen und vergleichen – beispielsweise unterscheidet sich das krause Haar eines Kindes mit Giant Axonal Neuropathy (GAN -Anschwellen der Nervenzellfortsätze) vom drahtigen Haar eines Kindes mit Menkes-Syndrom (einer tödlich verlaufenden, fast nur bei Knaben auftretenden Störung des Kupferstoffwechsels).

Einige Anzeichen sind subtil, wie beispielsweise die Fähigkeit, die Finger nach hinten zu biegen (bei Menschen mit Ehlers-Danlos-Syndrom, einer Bindegewebsstörung), das charakteristische breite Lächeln eines Kindes mit Williams-Syndrom (einer Deletion auf Chromosom 7) oder der große, schlaksige Körperbau und das lange Gesicht einer Person mit Marfan-Syndrom (Mutation des für das Bindegewebe wichtigen Proteins Fibrillin-1). KI kann die Gangart einer Person mit Ataxie von den Bewegungen einer Person mit Huntington-Krankheit im Frühstadium unterscheiden.

Eine Vielfalt von Daten fließt in die KI-gestützte genetische Diagnose ein. Dazu gehören Anzeichen und Symptome, Ergebnisse aus Blut- und Urintests, Bilder aus medizinischen Scans, Stammbäume, die die Familiengeschichte aufzeigen, Ergebnisse und Messungen aus physischen Untersuchungen sowie molekulare Befunde wie DNA- und RNA-Sequenzen, Chromosomenanomalien und Genexpressionsmuster.

Einige Kriterien, die zur Diagnose genetischer Krankheiten herangezogen werden, sind nicht naheliegend: Längenverhältnisse von Strukturen wie die der Finger, Muster der Blutkapillaren im Augenhintergrund, Distanzen in den Gesichtszügen. KI sieht, vergleicht, gruppiert und analysiert all diese Faktoren. Dabei sind Details wichtig.

Eine Person mit Williams-Syndrom hat ein kleines Kinn, eine breite Nase und einen breiten Mund, ein rundliches Gesicht, einen langen Hals und eingeschränkte Beweglichkeit. Die Iris kann sternförmig sein. Eine Person mit Noonan-Syndrom (genetisch bedingte Entwicklungsstörungen) sieht ganz anders aus: hängende, weit auseinanderstehende Augen, tiefsitzende Ohren, die nach hinten geneigt sind, hervorstehende Augen, eine breite Nase und eine gewölbte Oberlippe. Kinder mit diesen und vielen anderen genetischen Erkrankungen sehen nicht unbedingt ungewöhnlich aus, ähneln sich jedoch auffallend.

KI kann auch beim Design von Behandlungsmethoden helfen. Ein Tool namens AlphaFold übersetzt beispielsweise DNA-Sequenzen in die Millionen von durch sie kodierten Proteinarten. Der Algorithmus durchsucht dann die dreidimensionalen Strukturen der Proteine nach spezifischen Zielorten (Targets) ab, für die sich neuartige Arzneimittel entwickeln lassen.

Daten, Daten und noch mehr Daten

Ein in der Genforschung eingesetzter Deep-Learning-Algorithmus wird mit einem extrem großen Datensatz trainiert. Betrachten wir das KI-Tool CHIEF, das zur Bewertung von Krebserkrankungen eingesetzt wird.

CHIEF wurde zunächst anhand von 15 Millionen nicht-bezeichneten Bildern trainiert, die nach Gewebetyp oder Lage in einem bestimmten Organ oder einer bestimmten Struktur gruppiert waren. Anschließend wurde der Algorithmus mit weiteren 60.000 Bildern trainiert, die viele Körperteile repräsentierten, wobei genau berücksichtigt wurde, wo sich eine bestimmte Zelle im dreidimensionalen Raum eines Gewebes oder Organs befindet. Dann wurden CHIEF mehr als 19.400 digitale Bilder von Objektträgern mit Gewebeschnitten aus 32 unabhängigen Datensätzen vorgelegt, die aus 24 Krankenhäusern und Patientenkohorten aus aller Welt stammten.

KI kann diagnostische Hinweise und Anhaltspunkte extrahieren, die vielleicht nicht offensichtlich sind.

Beispielsweise analysiert und vergleicht CHIEF Scans von der „Mikroumgebung des Tumors”, der Zelllandschaft, die Krebszellen umgibt. Das Tool kann den Ursprungsort des Tumors identifizieren, DNA-Muster finden, die das Ansprechen auf die Behandlung und die wahrscheinlichen Ergebnisse vorhersagen, und sogar die Überlebensrate des Patienten vorhersagen, je nachdem, ob sich Immunzellen in der Nähe befinden (gute Prognose) oder nicht (schlechte Prognose).

Das Tool Eye2Gene analysiert Netzhautscans auf Muster von Blutgefäßen und beschleunigt so die Diagnose von mehr als 63 Augenerkrankungen. Eye2Gene kann auch Hinweise auf Herz-Kreislauf-Erkrankungen entdecken – verräterische Cholesterinflecken, ob Blutgefäße und ihre Verzweigungsmuster intakt sind sowie Schäden durch Bluthochdruck.

Das Tool Bone2Gene zielt auf das Knochengerüst ab, es identifiziert mehr als 700 Erkrankungen, die mit mehr als 500 Genen zusammenhängen, welche die Knochen betreffen. Dazu gehören Achondroplasie (eine Form von Zwergwuchs), Turner-Syndrom (XO) (eine Frau mit nur einem X-Chromosom), Noonan-Syndrom und mehrere lysosomale Speicherkrankheiten.

Am faszinierendsten finde ich Face2Gene, das Fotos mit Deskriptoren des Gesichts versieht. Die digitalisierten Daten beinhalten Abstände zwischen den Gesichtszügen, Formen, Größen, Konturen, Hautmuster und andere Merkmale - daraus erstellt das Tool eine Liste möglicher passender genetischer Syndrome.

Fazit

Meine persönliche Erfahrung mit den heutigen Gesundheitsdienstleistern ist, dass sie nur selten über fundierte Kenntnisse oder auch nur Vertrautheit mit dem aktuellen Stand der medizinischen Genetik und verwandten Biotechnologien wie Screening- und Diagnosetests sowie genbasierten Behandlungen verfügen. Vertriebsmitarbeiter, die Tests und Medikamente anbieten, plappern die Fakten zu ihren spezifischen Produkten nach, wie es ihnen eingebläut wurde, aber ich bin mir nicht sicher, ob sie beispielsweise zwischen einem Tumorsuppressor und einem Onkogen unterscheiden könnten oder wissen, dass es nicht nur eine einzige „mitochondriale Erkrankung” gibt.

Ich bin daher optimistisch, dass KI in zunehmendem Maße fähig sein wird, sich einzuschalten und die DNA-Wissenschaft in die Gesundheitsversorgung einzubringen. KI und DNA sind eine leistungsstarke Kombination und können die „persönliche” Medizin zu einer "personalisierten" Medizin machen.


 *Der Artikel ist erstmals am 6. November2025 in PLOS Blogs - DNA Science Blog unter dem Titel "AI Enhances Human Genetics" erschienen https://dnascience.plos.org/2025/11/06/ai-enhances-human-genetics/und steht unter einer cc-by Lizenz . Die Autorin hat sich freundlicherweise mit der Übersetzung ihrer Artikel durch ScienceBlog.at einverstanden erklärt. Mit Ausnahme von Titel, Abstract und einigen kleinen Abweichungen folgt die Übersetzung so genau als möglich der englischen Fassung.


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