Do, 24.10.2013 - 23:00 — Carl Djerassi
Carl Djerassi, einer der bedeutendsten und höchstdekorierten Chemiker der Welt, hat 1951 mit den Synthesen von Cortison und insbesondere von Norethisteron, dem Wirkstoff des ersten oralen Verhütungsmittels - der „Pille“- Geschichte geschrieben. Diese und weitere Erfolge haben die Wissenschaft geprägt und ebenso die Verhaltensnormen unserer Gesellschaften revolutioniert. Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich nicht mit den Leistungen des Chemikers Djerassi, sondern mit seinem Bestreben einem breiteren Publikum Naturwissenschaften nahezubringen, wofür er neue Formen der Kommunikation „Science in Fiction“ und „Science in Theater“ entwickelt hat. Dieses Anliegen ist auch Thema seiner letzten, vor rund einem Monat erschienenen, Autobiografie „Der Schattensammler“, woraus er dem ScienceBlog Ausschnitte zur Verfügung stellt.
Auf der österreichischen Briefmarke, die mein Gesicht trägt, werde ich als Romancier und Chemiker bezeichnet. ,,Romancier" ist ein schönes Wort, das ich liebend gern für mich in Anspruch nehme. Darum möchte ich aufzeichnen, wie ich mich vom Chemiker - der wie alle Naturwissenschaftler, die publizieren, ipso facto ein Schriftsteller ist - in jemanden verwandelte, der im fortgeschrittenen Alter beschloss, in den Mantel des Romanautors zu schlüpfen und in der Folge auch in den des Bühnenautors.
„Was für ein Chemiker sind Sie?“
Das setzt zwei weitere Fragen voraus, nämlich: „Warum sind Sie Naturwissenschaftler geworden?“ und: „Warum sind Sie es so lange geblieben?“ Die erste ist kurz und bündig zu beantworten: durch einen „glücklichen Zufall“. Dier zweite ebenfalls: aus „Nervenkitzel, Neugier und Ehrgeiz“.
Da mein Professorenleben ursprünglich in der Chemie begann, muß ich zunächst erläutern, was für ein Chemiker ich eigentlich bin. Ich bin organischer Chemiker, d.h. ich beschäftige mich mit Molekülen, die Kohlenstoffatome enthalten. Das klingt einfach, bis einem klar wird, daß es die ganze Chemie des Lebens mit ihren Abermillionen von natürlichen und synthetischen Substanzen umfaßt, deren Molekulargewicht von 16 für das einfache Gas Methan bis hin zu den Proteinen und Polymeren reicht, deren Molekulargewicht über eine Million betragen kann.
Um meine eigene chemische Persona zu beschreiben, ist es am einfachsten, den Bereich der organischen Chemie zunächst in theoretische und experimentelle organische Chemie zu unterteilen, wobei letztere mein Gebiet ist. Von den vielfältigen Unterteilungen der letztgenannten nenne ich nur zwei: Synthese und Strukturbestimmung. Meine gesamte Forschung in der Industrie – erst bei CIBA in New Jersey, ein Jahr lang vor dem Promotionsstudium und weitere vier Jahre nach der Promotion, und anschließend zwei Jahre bei Syntex in Mexico City - fand auf dem Gebiet der synthetischen organischen Chemie statt (Abbildung 2), während der überwiegende Teil meiner universitären Forschung, beginnend mit meinen ersten Kaktusstudien im Jahr 1952, auf die eine oder andere Art mit der Aufklärung der chemischen Struktur von Naturstoffen verbunden war.
Abbildung 2. „Interessanterweise ist das von Syntex entwickelte Norethisteron noch immer ein allgemein benutzter aktiver Wirkstoff oraler Kontrazeptiva“ Carl Djerassi (rechts) und Alejandro Zaffaroni (links) diskutieren die chemische Struktur des Norethisteron.
In den 1960er Jahren verlagerte sich mein Interesse von der kontrazeptiven „Hardware“ wie der Pille auf die kontrazeptive „Software“, d.h. auf die kulturellen, politischen, religiösen, wirtschaftlichen und juristischen Aspekte der Empfängnisverhütung. Nachdem ich mich in diesen Dschungel begeben hatte, war es nur ein kleiner Schritt, diesem Interesse durch die Einführung einer der ersten gesellschaftspolitischen Lehrveranstaltungen des neu gegründeten Fachbereichs Humanbiologie an der Universität Stanford nachzugehen.
„Deformation professionelle“
Als ich begann die Standardpraktiken eines Chemieprofessors hinter mir zu lassen, wurde ich ,,deformiert" und habe dadurch das Niveau meines professoralen und meines beruflichen Lebens in einer Weise erweitert und angehoben, die ich keineswegs verteidigen muss. Vielmehr halte ich diese Deformation für etwas Verlockendes und die Reaktion meiner Studenten hat dies oft bestätigt. Es ist jedoch fraglich, ob alle meine Chemikerkollegen an der Stanford University, wo ich über ein halbes Jahrhundert, länger als jedes andere Mitglied des Fachbereichs Chemie, tätig war, diese Meinung teilen. Ich sage dies, weil die Chemie, neben der Physik, die exakteste der exakten Wissenschaften ist, der Fels, auf dem die biomedizinische, die Umwelt- und die Materialwissenschaft ihre molekularen Strukturen aufbauen; gleichzeitig ist sie auch die eigenständigste unter den exakten Wissenschaften.
Leider errichten viele ihrer akademischen Vertreter stolz hohe, wenn nicht sogar undurchdringliche Mauern, die eine sinnvolle intellektuelle Interaktion mit nicht naturwissenschaftlichen Fachbereichen verhindern, und es werden kaum Versuche unternommen, diese Kluft zu überbrücken. Obwohl sich Chemiker in dieser Zeit der grassierenden Chemophobie ständig in die Defensive gedrängt fühlen, sind die meisten nicht gewillt, naturwissenschaftliche Laien für ihre Disziplin zu gewinnen, nicht einmal innerhalb der akademischen Welt. Mit missionarischer Arbeit dieser Art sind in der akademischen Chemikergemeinschaft kaum Pluspunkte zu sammeln.
Vom Chemiker zum Romancier
Was veranlaßte mich, einen Naturwissenschaftler aus der exakten Wissenschaft der Chemie, in die Belletristik überzuwechseln? Obwohl die Kluft zwischen den Naturwissenschaften und der kulturellen Welt der Geistes-und Sozialwissenschaften immer größer wird, verschwenden Naturwissenschaftler herzlich wenig Zeit darauf, mit diesen anderen Kulturen ins Gespräch zu kommen. Das liegt vor allem an der Besessenheit des Naturwissenschaftlers, Anerkennung unter seinesgleichen zu finden und daran, daß seine Zunft kaum Anreize bietet, mit der breiten Öffentlichkeit zu kommunizieren, die nichts zu der beruflichen Reputation des Wissenschaftlers beiträgt.
Science-in-Fiction – ein neues Genre
Ich beschloß etwas zu unternehmen, um einem breiteren Publikum die Kultur der Naturwissenschaften nahezubringen, und zwar mit einem Genre dem ich kurze Zeit später den Namen Science-in-Fiction gab. Für mich fällt ein literarischer Text nur dann in dieses Genre, wenn die darin beschriebenen Vorgänge allesamt plausibel sind.
Für die Science-Fiction gelten diese Einschränkungen nicht. Damit will ich keinesfalls andeuten, daß die naturwissenschaftlichen Fantasieprodukte in der Science-Fiction unangebracht wären. Aber, wenn man die freie Erfindung wirklich dazu nutzen will, um einer wissenschaftlich unbeleckten Öffentlichkeit unbemerkt wissenschaftliche Fakten zu Bewußtsein zu bringen – eine Art Schmuggel, den ich intellektuell und gesellschaftlich für nützlich halte – dann ist es ausschlaggebend, die zugrundeliegenden wissenschaftlichen Fakten exakt wiederzugeben. Wie soll der wissenschaftliche Laie andernfalls wissen, was ihm zur Unterhaltung präsentiert wird und was Faktenwissen ist?
Aber warum sich dabei ausgerechnet der Erzählliteratur zu widmen?
Die meisten naturwissenschaftlich nicht vorgebildeten Menschen schrecken vor den Naturwissenschaften zurück und lassen innerlich einen Vorhang herunter, sobald sie merken, daß ihnen irgendwelche wissenschaftlichen Fakten aufgetischt werden sollen. Genau diesen Teil der Öffentlichkeit – die wissenschaftsfernen oder sogar wissenschaftsfeindlichen Leser – möchte ich erreichen. Statt mit der aggressiven Einleitung „Ich werde Ihnen jetzt etwas über mein Fachgebiet erzählen“ anzufangen, beginne ich lieber ganz harmlos „Ich werde Ihnen jetzt eine Geschichte erzählen“, und baue dann realistische naturwissenschaftliche Vorgänge und aus dem Leben gegriffene Wissenschaftler in die Handlung ein.
Zur Stammeskultur der Wissenschaftler
Wie ich im Nachwort meines ersten Science-in-Fiction Romans „Cantors Dilemma“ (inzwischen in der 29. Auflage) ausdrücklich hervorhob, agieren Wissenschaftler innerhalb einer Stammeskultur, deren Regel, Sitten und Eigenarten im Allgemeinen nicht durch Vorlesungen oder Bücher vermittelt werden, sondern vielmehr in einer Mentor-Schüler Beziehung durch eine Art intellektuelle Osmose erworben werden. Gewiefte junge Wissenschaftler sind voll damit beschäftigt, die egoistischen Interessen ihres Mentors zu verinnerlichen: die Veröffentlichungspraktiken und Fragen der Priorität, die Reihenfolge der Autoren, die Wahl der Fachzeitschriften, die Bemühungen um eine Festanstellung, das Einwerben von Drittmitteln, die Schadenfreude und sogar das Gieren nach dem Nobelpreis. Die meisten dieser Aspekte haben mit dem Verlangen nach namentlicher Anerkennung und finanzieller Belohnung zu tun, und jeder dieser Aspekte ist mit ethischen Nuancen behaftet.
Für mich, der ich über vier Jahrzehnte in dieser Stammeskultur verbracht habe, war es wichtig, daß Naturwissenschaftler von der Öffentlichkeit nicht vorrangig als Fachidioten, Frankensteins oder Strangeloves („Drs Seltsam“) wahrgenommen werden. Und da sich Science-in Fiction nicht nur mit Wissenschaft befaßt, sondern insbesondere mit Wissenschaftlern, glaube ich, daß ein Stammesangehöriger seine Kultur und die Verhaltensweisen seines Stammes am besten beschreiben kann, wie ich es in einer auf vier Bände angelegten Romanreihe (Cantors Dilemma; Das Bourbaki Gambit; Menachems Same; und NO) getan habe.
Auf diesem Terrain tummle ich mich seit über 20 Jahren, und der interessierte Leser kann es erkunden, wenn er in diesen Büchern schmökert*, die infolge meines Ehrgeizes entstanden sind, auf diesem Gebiete zu schürfen.
Science-in-Fiction – „hineingeschmuggelte“ Didaktik
Während die Aufsätze und Artikel eines Naturwissenschaftlers vorrangig der Übermittlung von Erkenntnissen dienen und unter diesem Gesichtspunkt akzeptiert und beurteilt werden, einschließlich ihrer didaktischen Komponente, würde ein Romancier didaktischen Ballast dieser Art ablehnen, da Lehrhaftigkeit, sofern sie nicht gut versteckt ist, bei Schriftstellerkollegen und Literaturkritikern für ein Werk oft den Todesstoß bedeutet. Hinzu kommt, dass für den wissenschaftlichen Autor der Inhalt zählt, während Stil nur schmückendes Beiwerk ist. Niemand würde das bei einem Romancier zu sagen wagen.
Meinen eigenen literarischen Arbeiten haftet ganz bewusst zumindest ein Hauch von Lehrhaftigkeit an. Wenn die Worte in der Ars Poetica von Quintus Horatius Flaccus, ,,lectorem delectando pariterque monendo" (den Leser erfreuen und unterweisen zugleich), auch 2.000 Jahre später noch beifällig als zutreffende Beschreibung des Wortes ,,didaktisch" zitiert werden, was spricht dann dagegen, dass ich mich in dem, was Horaz predigte, zumindest versuche?
Science-in-Theatre - der Bühnenautor
Ich habe bereits erwähnt, daß die Überzeugung vieler naturwissenschaftlich nicht vorgebildeter Menschen, sie seien unfähig einschlägige Begriffe zu verstehen, sie davon abhält es auch nur zu versuchen. Für dieses Publikum, und nicht für den schnörkellosen Vortrag, können „Fallbeispiele“ eine reizvolle und überzeugende Methode sein, derartige Schwellen zu überwinden. Wenn auf der Bühne – nicht vom Rednerpult aus oder auf den Druckseiten einer Publikation – ein „Fallbeispiel“ erzählt und verhandelt wird, beginnen wir uns mit Science-in-Theater zu beschäftigen (Abbildung 3).
Abbildung 3. Fallbeispiel: Wer kann den Ruhm für sich verbuchen Entdecker des Sauerstoffs zu sein? Lavoisier, Scheele oder Priestley? Fiktive Szene aus Oxygen von Carl Djerassi und Roald Hoffmann. (Scheele und Priestley beobachten das berühmte Experiment von Lavoisier zur Rolle des Sauerstoffs in der Atmung.)
Um in diesem Genre zu schreiben, muß der Autor kein Naturwissenschaftler sein. Seit den frühen Dramen mit naturwissenschaftlichem Bezug, wurde alle großen und erfolgreichen diesbezüglichen Stücke von anerkannten Dramatikern geschrieben, die ihre wissenschaftlichen Kenntnisse aus zweiter Hand hatten und Naturwissenschaft hauptsächlich zu metaphorischen Zwecken benutzten.
Wie kommt es, daß meines Wissens noch kein „harter“ Naturwissenschaftler anerkannter Dramatiker geworden ist, während Mediziner (u.a. Anton Tschechow, Arthur Schnitzler) durchaus einen Beitrag geleistet haben? Ist der Mangel an Chemikern, die Stücke schreiben, darauf zurückzuführen, daß es ihnen schwerfällt, selbst mit ihresgleichen ohne Wandtafel, Dias oder andere piktographische Hilfsmittel zu kommunizieren? Oder liegt es daran, daß Chemiker sich in erster Linie mit Abstraktionen auf Molekularebene beschäftigen, während Ärzte ihre Zeit damit verbringen, sich die Geschichten anderer Menschen anzuhören? Oder liegt es daran, daß der gesamte schriftliche Austausch unter Naturwissenschaftlern rein monologisch ist, während das Theater das Reich des Dialogs ist?
Vielleicht steckt in keiner dieser Verallgemeinerungen der wahre Grund, dennoch reizte mich vor allem der letzte Punkt, mich als Bühnenautor zu versuchen.
Science-in-Fiction ist nicht Science Fiction – ist es Autobiographie?
Die Art Romane und Theaterstücke, die ich in den letzten zwei Jahrzehnten geschrieben habe, haben mich etwas erreichen lassen, was bei einer herkömmlichen Autobiographie schlicht unmöglich ist: den eigenen psychischen Filter zu umgehen und somit Analytiker und Analysand gleichzeitig zu sein. Autobiographien weisen per definitionem Lücken auf – ob aus Versehen oder mit Absicht -, sowohl aus Gründen der Diskretion, als auch aus Scham, Verlegenheit oder auch nur als Folge eines schlechten Gedächtnisses. Meine Romane und Theaterstücke ermöglichten es mir, dem Naturwissenschaftler, dem es an Selbstreflexion fehlte, mich unter dem Deckmantel der freien Erfindung mit den unauslöschlichen Spuren zu beschäftigen, die die Kultur der naturwissenschaftlichen Zunft, der ich über ein halbes Jahrhundert angehörte, bei mir hinterlassen haben. Zweifellos sind die zentralen Themen meiner literarischen Arbeit allesamt unbewußt einem inneren Verlangen entsprungen, diese in meinem Leben so wichtigen Themen unter dem Deckmantel der Fiktion unter die Lupe zu nehmen.
Manche Romanautoren sind verkappte Autobiografen, und ich hege nicht den geringsten Zweifel, dass ich zu dieser Untergruppe gehöre.
*Neben 1308 wissenschaftlichen Veröffentlichungen in peer-reviewed Journalen (Thomson Reuters, Web of Knowledge) hat Carl Djerassi eine Reihe von Sachbüchern (Die Mutter der Pille, Von der Pille zum PC), Lyrik, Kurzgeschichten, Romane und Theaterstücke verfaßt.
Eine vollständige Darstellung der schriftstellerischen Tätigkeit, inkl. Inhaltsangaben, Ausschnitten aus seinen Texten, links findet sich auf der Webseite: Webseite: http://www.djerassi.com/
Weiterführende Links
Vortrag von Carl Djerassi über seine Entwicklung vom Wissenschaftler zum Schriftsteller an der Universität Graz (2012): 1:21:57Zusammenschnitt der Dialoge zwischen Prof. Carl Djerassi und Prof. Markus Hengstschläger auf der Bühne des ACADEMIA SUPERIOR PLENUM. "What can the theatre do for science: OXYGEN and PHALLACY": Carl Djerassi at Science Gallery 1:30:53 min (Trinity College Dublin, August 2011; an excerpt from "PHALLACY”, selected clips from a recording of “Oxygen”) A Conversation with Carl Djerassi, 1:11:52 min. Veröffentlicht am 13.04.2012 ; Annual Reviews In this interview, he explains how he went from being a high school student in Vienna escaping the Nazi regime to developing the first birth-control pill in Mexico. Eventually, he oversaw the development of insecticide-free pest control products, which prevented insects from reaching sexual maturity.
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