Fr, 10.01.2013 - 05:20 — Ilse Kryspin-Exner
Altern unter positiven Aspekten aufzufassen bedeutet ein längeres Leben mit folgenden Möglichkeiten: Wahrung der Gesundheit, Aufrechterhaltung der persönlichen Sicherheit sowie aktive Teilnahme am Leben und am sozialen Umfeld. Die Weltgesundheits-organisation (WHO) hat den Begriff „Aktiv Altern“ deshalb aufgegriffen, damit der Prozess, der für das Erreichen dieser Vision erforderlich ist, greifbar wird.
Aktives Altern bedeutet, bei guter Gesundheit und als vollwertiges Mitglied der Gesellschaft älter zu werden, ein erfüllteres Berufsleben zu führen, im Alltag unabhängiger und als Bürger engagierter zu sein. Wir können unabhängig von unserem Alter eine Rolle in der Gesellschaft spielen und höhere Lebensqualität genießen. Wichtig ist, das große Potenzial auszuschöpfen, über das wir auch in hohem Alter noch verfügen.
Das Wort „aktiv“ bezieht sich demnach nicht nur auf die Möglichkeit, körperlich fit zu bleiben, vielmehr wird darunter die Möglichkeit verstanden, sein Reservoir für körperliches, soziales und geistiges Wohlbefinden im Verlaufe des gesamten Lebens zu nützen. Außerdem steht die Teilnahme am sozialen, wirtschaftlichen, kulturellen, spirituellen und zivilen Leben in Übereinstimmung mit den persönlichen Bedürfnissen, Wünschen und Fähigkeiten im Vordergrund.
„Aktiv Altern“ bezieht sich zusammengefasst auf die Ausweitung der Lebensqualität und des Wohlbefindens alter Menschen - somit sind auch jene Personen inkludiert, die einer Unterstützung und Pflege bedürfen. Die Lebensqualität der älteren Generation hängt von den Möglichkeiten und Risiken ab, welche im Laufe des gesamten bisherigen Lebens gegeben waren. Selbstverständlich haben auch Art und Umfang an Hilfestellung und Unterstützung, die die nachfolgenden Generationen bei Bedarf zu gewähren bereit sind, einen entscheidenden Einfluss auf die Lebensqualität.
Komponenten des aktiven Alterns
1. Solidarität
Das Kind von heute ist der Erwachsene von morgen und die Großmutter / der Großvater von übermorgen. Bestandteil eines aktiven Alterns ist ein wechselseitiges (reziprokes) Geben und Nehmen, einerseits zwischen einzelnen Personen und andererseits zwischen den jüngeren und älteren Generationen. Dies kommt auch im Schlagwort der „Solidarität zwischen den Generationen“ zum Ausdruck.
2. Gewinne und Verluste
„Aktiv Altern“ ist im Konzept der Psychologie der Lebensspanne integriert (Abbildung 1). Dieses geht entsprechend entwicklungspsychologischer Erkenntnisse von der Ansicht aus, dass Entwicklung im gesamten Leben eines Menschen stattfindet und niemals zum Abschluss kommt.
Der Zugang zu einer derartigen Life-span-Psychologie zielt auf die Verbindung folgender Gesichtspunkte ab: Berücksichtigung der Multidirektionalität ontogenetischer Veränderungen (Entwicklungsprozesse, die erst in späten Phasen des Lebens beginnen oder in verschiedene Richtungen laufen), Einbeziehung altersabhängiger (biologische Vorgänge, lebensalterstypische gesellschaftliche Prozesse) und altersunabhängiger (Zeitströmungen, periodenspezifische Ereignisse) Entwicklungsfaktoren sowie Berücksichtigung individueller Lebensereignisse. Dabei wird von der Annahme ausgegangen, dass jeglicher Entwicklungsprozess sowohl einen Gewinn (Wachstum) als auch einen Verlust (Abbau) an Adaptionsfähigkeit darstellt; die Plastizität von Entwicklungsprozessen wird betont.
Abbildung 1 Psychologie der Lebensspanne: Weg von der überkommenen Vorstellung eines stetigen Abbaus hin zur Vorstellung eines Wechselspiels zwischen Verlust und Gewinn
Die psychische Entwicklung ist in jedem Lebensalter von diesen Gegebenheiten bestimmt, sie sind jedoch im frühen Lebensalter in einzelnen Phasen gesetzmäßiger und in größerem Maß normativ als im höheren. Ein „typisches“, für den letzten Abschnitt des Lebens einheitlich gültiges Verhalten älterer Menschen ist nicht bekannt (etwa, ob Verinnerlichung, Motivationsverlust, Resignation, Depression einen charakteristischen Ablauf zeigen). Dies liegt zum einen daran, dass die Gesetzmäßigkeiten des höheren Lebensalters noch nicht so gut erforscht wurden bzw. über lange Zeiträume beobachtet werden konnten – noch nie seit Bestehen der Menschheit erreichten durchschnittlich die Menschen ein so hohes Lebensalter! Da Verhaltens- und Denkweisen zudem sehr wesentlich durch Erfahrungen während des ganzen Lebens geprägt und überformt sind, was in früheren Entwicklungsabschnitten noch nicht in dem Ausmaß der Fall ist, gilt es, sowohl von verschiedene Formen als auch verschiedenen Stadien des Alterns auszugehen. Je nachdem, ob ein kalendarischer, subjektiver oder von außen beurteilender Standort eingenommen wird, ist es unzulässig eine Zeitspanne von durchschnittlich 30 Jahren, die Menschen heute „im Alter“ verbringen, als „einheitliche Etappe“ anzusehen.
3. Gesundes Altern
„Aktives Altern“ meint stets auch gesundes Altern. Die WHO definiert Gesundheit als Summe des körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens. Politische Maßnahmen und Programme, die eine Verbesserung oder Stabilisierung der körperlichen Gesundheit bewirken sollen, sind ebenso wichtig wie jene, die der Förderung von geistigem und sozialem Wohlbefinden dienen. Erst bei Beachtung sämtlicher eben genannter Aspekte kann der Weg für aktives bzw. kompetentes Altern geebnet sein.
4. Autonomie, Selbstständigkeit und Kompetenz
Unter Autonomie wird die bestmögliche Selbstständigkeit einer Person verstanden, die sich nicht nur auf die Verrichtung alltäglicher Fertigkeiten (z.B. Anziehen, Körperhygiene) bzw. lebensnotwendiger Routinetätigkeiten (z.B. Flüssigkeitsaufnahme) beschränkt ist. Die oberste Maxime lautet, Lebensformen zu gewährleisten, die soweit als möglich von anderen autonom bzw. unabhängig sind. Kompetenz bezieht sich wiederum primär auf die geistige und körperliche Leistungsfähigkeit.
5. „Hilfe zur Selbsthilfe“
Bei Berücksichtigung der Autonomie und Selbstständigkeit sollte die „Hilfe zur Selbsthilfe“ im Kontrast zu unreflektierter und uneingeschränkter Hilfeleistung bzw. Abnahme jeglicher Tätigkeit vordergründig sein. Pflegende Angehörige, professionelle Fachkräfte aber auch neuere technische Entwicklungen können hierfür einen bedeutsamen Beitrag leisten.
6. Berücksichtigung von Wünschen
Zu aktiv-kompetentem Altern zählt auch die Beachtung von Wünschen älterer Menschen. Dabei gilt als oberstes Ziel, so lange wie möglich zu Hause mobil bleiben zu können. Sowohl die Förderung des Selbsthilfepotentials als auch der Einbezug und die Inanspruchnahme technischer Hilfsmittel in unserer heutigen Zeit können der Berücksichtigung und Erfüllung dieser Anliegen dienen.
Argumente, die berechtigen von Konzepten des „erfolgreichen“, „konstruktiven“ oder „emanzipierten“ Alterns zu sprechen
Epidemiologische Resultate: Betrachtet man die Zahl der in Heimen und Pflegeinstitutionen untergebrachten alten Menschen, so betrifft dies ca. 4% der über 65jährigen Menschen. Dies ist insofern ein gewisser Trugschluss, als der Prozentsatz von zeitweise in Krankenhäusern und Pflegeinstitutionen untergebrachten Menschen natürlich viel höher ist und 18 bis 20% umfasst. Dennoch: 80% der über 65jährigen können zu Hause leben bzw. werden dort versorgt.
Der Anteil psychisch kranker Menschen über 65 Jahre beträgt ca. 25%, eine unter Versorgungsgesichtspunkten sehr ernst zu nehmende Realität (Depression, Demenz, Verwirrtheit, paranoide Tendenzen). Die Zahl soll aber dennoch nicht den Blick dafür verstellen, dass eben 75% der älteren Menschen nicht – zumindest in keiner ernsthaften bzw. behandlungsbedürftigen Weise -, psychisch krank sind.
Altern generell im Sinne eines Defizitmodells zu diskutieren ist obsolet.
Untersuchungen über den altersbedingten Abbau wurden früher meist an einer Auslese von Leuten in Spitälern oder Altersheimen durchgeführt: Wer im Familienverband lebte oder sich bis ins hohe Alter allein versorgte, wurde lange Zeit in diesen Studien kaum berücksichtigt.
Zudem hatte man Ende der 60er/ Anfang der 70er Jahre begonnen, Personen verschiedener Altersgruppen hinsichtlich ihrer Leistung zu untersuchen und miteinander zu vergleichen und damals wurde erhoben, dass die globale Intelligenz ab Mitte 20 leicht und ab 75 Jahren relativ rapid abnimmt. Daraus wurde das „Defizitmodell“ abgeleitet, d.h. dass Alter generell mit einem Defizit einherginge (Abbildung 2). Erst allmählich hat man festgestellt, dass es einen ab Mitte 20 beginnenden, allerdings sehr unterschiedlichen Altersabbau verschiedener Funktionen gibt, z.B: baut die motorische Geschicklichkeit relativ früh ab, wo hingegen das Optimum an Gedächtnisleistung im dritten Lebensjahrzehnt liegt. Andererseits werden manche Funktionen wie Urteilen und Vergleichen, Phantasie oder Problemlösefähigkeit mit dem Alter besser.
Defizitmodell | Erfolgreiches, konstruktive & kompetentes Altern |
Altern | Phase der Lebensspanne |
Abbau | Multidirektionalität Multidimensionalität der Leistung Biographische Intelligenz Konzepte der Sichtweise |
globale Betrachtung | individuelle Sichtweise |
Depressitivät |
... diesen Kriterien Sinn geben |
Förderung von skills → Orientierung, Gedächtnis, Konzentration, soziale Fertigkeiten etc. |
Prävention (Auswirkungen von Lebensweise im mittleren Lebensalter, Zahl und Schweregrad von Noxen im Kindesalter auf späteres Altern) |
abrupter Übergang von Berusfstätigkeit in Pensionierung | Allmähliche Überleitung bzw. Vorbereitung auf die Zeit ohne geregelten Beruf |
Verlust signifikanter Bezugspersonen Ausgliederung ("Ghettos") |
Neugestaltung des sozialen Netzes Soziale Integration |
Tabelle 1. Defizitmodell versus Aktives Altern
Anhand dieser Beobachtungen wird „Intelligenz“ heute in viel komplexerer Form dargestellt und aufgezeigt, dass Intelligenzfunktionen mit dem Alter sehr unterschiedlich abfallen oder steigen. „Flüssige Intelligenz“, also Fähigkeiten der Umstellung und Motorik sowie das Gedächtnis bauen eher ab, das rasche Auffassen und Verarbeiten von Informationen, lässt tendenziell bereits ab dem 30.Lebensjahr nach. Hingegen nimmt die „kristallisierte Intelligenz“ – Problemlösefähigkeiten, Kombinationsfähigkeit usw. – eher zu, was heute in Zusammenhang mit dem Konzept der „Weisheit“ diskutiert wird bzw. in der „biographischen Intelligenz“, dem „über sich selbst klüger werden“, Ausdruck findet.
Intelligenz ist demnach multimodal und multidimensional (siehe auch weiter oben): Manche Intelligenzfaktoren werden mit dem Alter besser, andere schlechter. Jedenfalls kann man nicht von einem allgemeinen Intelligenzabbau sprechen und dies ist ein wesentliches Argument gegen das Defizitmodell.
Ausnützen der sog. „Reservekapazität“
Anhand mannigfacher Untersuchungen konnte nachgewiesen werden, dass sich der Abbau-Prozess durch gezieltes Üben verlangsamen lässt, wenn beginnende Defizite rechtzeitig aufgespürt, Motivation erreicht und eine stimulierende Umgebung aufgebaut werden kann; hierbei spielen auch soziale Aspekte eine große Rolle, d.h. das Eingebundensein in Familie, Freundeskreis, Zugehörigkeit zu verschiedenen Gruppierungen.
Dies soll anhand eines Beispiels über altersspezifische Geschlechtsdifferenzierung aufgezeigt werden: aus der Beobachtung, dass Frauen in ihren Hirnleistungsfunktionen schneller abbauen, wurde abgeleitet, dies müsse mit einer unterschiedlichen Hirnalterung zu tun haben. Aber man hatte Frauen im Alter untersucht, die in der Jugend wenig Förderung, keine besondere Schulausbildung erhielten und ihr Leben lang ihre intellektuellen Kapazitäten nur wenig nützen konnten. Im Alter bauen diese Personen dann rascher ab – und dies ist nicht geschlechtsspezifisch! Insofern ist der Abbau nicht ausschließlich ein Hirnalterungsprozess, sondern auch ein Förderungsdefizit von früher – was wiederum ein Argument, für das Konzept des „erfolgreiches Alterns“ bringt und zudem darauf hinweist, dass das Altern auch einen sozialen und gesellschaftlichen Aspekt hat.
Altern ist nicht nur individuelles sondern auch soziales Schicksal!
Die Möglichkeiten der Auseinandersetzung und Bewältigung von Alternsprozessen werden durch gesellschaftliche Erwartungen und Normen beeinflusst. In der Gesellschaft bestehen Bilder vom alten Menschen die sowohl negativ (=hilfebedürftig) als auch positiv (=die jungen aktiven Alten, die wohlhabend und wichtige Konsumenten sind) verzerrt sein können und die das Selbstwertgefühl und damit wiederum subjektiv erlebte Handlungsalternativen und das konkrete Verhalten beeinflussen.
Aus letztgenanntem Punkt heraus soll eine weitere Überlegung entwickelt werden, der enorme präventive Bedeutung zukommt: Aus Längsschnittuntersuchungen ist heute bekannt, dass das Fundament zur Alterung bzw. verschiedener Alterungsformen sehr früh, im mittleren Lebensalter, gesetzt wird. Die Art der intellektuellen Betätigung (wobei hier intellektuell im Sinne der bestmöglichen Ausnützung der vorhandenen mentalen Fähigkeit bedeutet) sowie eine ansprechende berufliche Tätigkeit, haben sich als den Alterungsprozess positiv beeinflussend im Sinne einer geringen Progredienz herausgestellt, wohingegen risikoreiches Verhalten im Sinne von falscher Ernährung und insbesondere Alkoholmissbrauch, Mangel an körperlicher Fitness einen Abbau beschleunigen. Konzepte des „erfolgreichen“ Alterns, richtig an die entsprechenden Zielgruppen herangebracht, könnten somit an Selbstkompetenz und den Anteil der eigenen Gestaltmöglichkeit appellieren.
Resumé
Das Konzept des aktiven Alterns beruht auf der Anerkennung der Menschenrechte des älteren Menschen und der Grundsätze der Vereinten Nationen im Hinblick auf die Unabhängigkeit, die Einbindung in das soziale Umfeld, die Würde, die Verfügbarkeit von Pflege und die Erfülltheit eines Lebens. Dabei wird der Schwerpunkt der strategischen Planung weg von dem Konzept der „Bedürftigkeit“ hin zu einem Konzept eines „Rechts“ gelenkt; man geht also von der Annahme ab, dass ältere Menschen primär passive Objekte sind und erkennt ihr Recht auf die Gleichheit an Chancen und Behandlung in allen Lebensbereichen an. Dabei wird die Verantwortung zur Teilnahme an den politischen Prozessen und anderen Aspekten des sozialen Lebens hervorgehoben.
Anmerkungen der Redaktion
Ilse Kryspin-Exner: „Aktiv durchs Leben- Psychologische Aspekte des Älterwerdens“ Vortrag Mai 2011 (PDF)
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