Wie universell ist das Darwinsche Prinzip?

Do, 12.04.2012- 00:00 — Peter Schuster

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Das Darwinsche Prinzip der natürlichen Selektion kann als nahezu universell geltend angesehen werden, es ist wirksam in präzellulären Systemen und ebenso auf der Ebene der Einzeller und der Vielzeller. Die Selektion kann jedoch durch funktionelle Kopplung andernfalls konkurrierender Partner – konkretisiert am Modell des Hyperzyklus – aufgehoben werden.

Charles Darwin hat sein Prinzip der natürlichen Selektion, bestehend aus dem Zusammenspiel von Reproduktion mit Vererbung und Variation, und begrenzten Ressourcen, von Beobachtungen hergeleitet, welche er einerseits in Großbritannien und andrerseits als Naturforscher auf den Erkundungsfahrten an Bord der HMS Beagle machte. Alle seine Schlußfolgerungen hat er dabei ausschließlich aus Untersuchungen an höheren Organismen, Tieren und Pflanzen gewonnen (1). Dennoch läßt sich sein Prinzip ebenso gut auf einzellige Organismen anwenden: auf Protisten, Eubakterien und Archebakterien. Es gilt auch für die Evolution von Viren und Viroiden bis hin zur „Züchtung“ von Makromolekülen im Reagenzglas Für das Darwinsche Prinzip gibt es keine einfach erkennbare Grenze der Anwendbarkeit, sogar konkurrierende Computerprogramme und andere nicht der Biologie zuzuordnende Objekte folgen den Gesetzen der „natürlichen“ Selektion.

Der Darwinsche Mechanismus wird also immer schlagend, wenn Biomoleküle, Zellen, Organismen, Gesellschaften, Wirtschaftssystems aber ebenso Computerprogramme oder andere Elemente auftreten, die sich vermehren und bei der Reproduktion verändern können und um Ressourcen konkurrieren.

Warum läßt sich das Darwinsche Prinzip praktisch universell anwenden?

Die Antwort ist einfach: Es spielen weder die Details der Vermehrung eine Rolle noch die Art der sich reproduzierenden Spezies. Ausschlaggebend ist einzig und allein die Zahl der „Nachkommen“ in den folgenden Generationen. Es bedurfte aber des Genies eines Charles Darwins um dieses Faktum zu erkennen, um es aus der ungeheuren Fülle an Details zu abstrahieren, die er in Anpassung der Spezies an natürliche Gegebenheiten beobachtete.

Wäre dies nicht so, und würden die Details der Mechanismen von Reproduktion und Vererbung in das Prinzip der natürlichen Auslese eingehen, dann hätte Darwin keine Chancen auf Erfolg gehabt: Seine Vorstellungen über Vererbung waren nach unserem heutigen Wissensstand schlicht und einfach falsch.

Der Mechanismus, welcher dem Vorgang der Reproduktion lebender Spezies zugrunde liegt, wurde erst vor rund 60 Jahren entdeckt und basiert auf der Aufklärung der räumlichen Struktur der Desoxyribonukleinsäure (DNA) durch James Watson und Francis Crick, die damit als nahezu universaler Träger der Erbinformation identifiziert werden konnte (2). Die Einzelstränge dieses in Form einer Doppelhelix – einer schraubenförmigen Doppelwendeltreppe – vorliegenden Makromoleküls sind aus vier unterschiedlichen Bausteinen - Nukleotiden – aufgebaut; durch spezifische Paarbindung zwischen jeweils zwei Nukleotiden wird, wie in Abbildung 1 schematisch dargestellt, der Doppelstrang zusammengehalten.

Die Doppelhelix (schematisch)Abbildung 1. Eine schematische Darstellung der Doppelhelix. Die Nukleotide bestehen aus jeweils einem Phosphatrest, der zusammen mit dem Zuckerrest (Desoxyribose) das nach außen gerichtete „Rückgrat“ der Doppelhelix bildet (türkis), und einer der vier Basen: Adenin (A, weiß), Thymin (T, rosa), Guanin (G, grün), Cytosin (C, gelb). Spezifische Paarbildung zwischen A und T und zwischen G und C hält die beiden Einzelstränge zusammen. Darin besteht die Besonderheit der DNA-Struktur: Nur AT oder TA und GC oder CG Basenpaare passen in die Doppelhelix hinein und, kennt man die Basenfolge an einem Strang, dann lässt sich der zweite eindeutig ergänzen – dies ist das molekulare Prinzip der Replikation von DNA und auch von RNA. (RNA – Ribonukleinsäure ist ein der DNA ähnliches Molekül, welches üblicherweise als Einzelstrang vorliegt und anstelle des Thymins als 4. Base Uracil enthält.) (Bild: DOE Human Genome Project)

Die Doppelhelix lässt sich - vereinfacht ausgedrückt - wie ein Reißverschluß öffnen und repliziert sich – insofern die zum Aufbau nötigen Nukleotide ausreichend vorhanden sind, indem die Einzelstränge als Kopiervorlage verwendet, und an diesen, die Komplementarität der Basenpaare ausnutzend, Nukleotide anlagert und mittels geeigneter Enzyme zu neuen Strängen verknüpft werden. Diese fundamentale Grundlage der modernen Biologie wurde in dem berühmten ‚Letter‘ an die Zeitschrift Nature (1953; 177:737) geradezu in typisch Englischem Understatemenz dargestellt: „It has not escaped our notice that the specific pairing we have postulated immediately suggests a possible copying mechanism for the genetic material.“ (2)

Das Experiment des Sol Spiegelman (3)

Mit dem Verstehen des Replikationsvorgangs konnte dieser seit den 1960-er Jahren des vergangenen Jahrhunderts auch in in vitro Systemen „im Reagenzglas“ nachvollzogen werden. Sol Spiegelmans „dream experiment“ bestand aus der seriellen Verdünnung einer Ausgangslösung, die nur eine sich in Gegenwart eines geeigneten Enzyms – einer Replikase – replizierende virale Ribonukleinsäure (RNA des Bakteriophagen Qbeta, isoliert aus infizierten Escherichia coli Bakterienzellen) und die dazu notwendigen niedermolekularen Nukleotide enthielt. Nach entsprechender (z.B. 10-facher) Vermehrung der Ribonukleinsäure wurde ein Anteil (z.B. 1/10) auf ein nächstes Reagenzglas übertragen (das ausreichend niedermolekulare Bausteine und Replikase enthielt), nach der wiederholten Vermehrung wieder ein Anteil auf das folgende Reagenzglas. Nach 15 derartigen Transfer-Schritten war im letzten Reagenzglas praktisch keines der ursprünglichen Nukleinsäuremoleküle mehr vorhanden, die neu entstandenen Moleküle waren auch nicht mehr infektiös, vermehrten sich aber rascher als die ursprüngliche Phagen-RNA.

Über die hohe Multiplikationsrate der ursprünglichen Moleküle hinaus, konnte Spiegelman in diesem in vitro Experiment erstmals Evolution an einzelnen Molekülen beobachten, die auf fehlerhafter Kopierung des Templates durch das Enzym und daraus resultierend auf Mutationen des Erbmaterials zurückzuführen war. Abhängig von den Versuchsbedingungen konnten sich dann die Kopien durchsetzen, welche an die jeweiligen Bedingungen besser angepaßt waren. Beispielsweise verkürzte sich das ursprünglich einige tausend Nukleotide lange Molekül auf ein paar Hundert Nukleotide, da unter anderem die für den Infektionsvorgang in Zellen kodierende Information im Reagenzglas obsolet war, ebenso wie die Versorgung mit den nötigen Bausteinen. Wenn Spiegelman einen Inhibitor der Replikation einsetzte, so führte der entstehende Selektionsdruck zu Formen, die sich nicht nur trotzdem vermehrten, sondern dies auch noch viel effizienter vermochten. Damit nahmen Extrapolationen des Darwinschen Prinzips auf präzelluläres Leben ihren Ausgang – der Vorstellung einer Welt von Biomolekülen, die im Sinne Darwins ihre Reproduktion optimieren können (4).

Das Quasispecies-Modell (5)

Für die Evolution neuer Spezies spielt die Balance von Mutation und Selektion eine entscheidende Rolle. Ist die Fehlerrate, mit welcher die Replikation erfolgt, gering, so besteht der Großteil der Nachkommen einer Spezies aus exakten Kopien, d.h. einem einzigen definierten Genotyp. Bei höheren Fehlerraten – wie insbesondere bei Viren aber generell bei allen natürlichen Organismen – weisen viele der Nachkommen eine oder mehrere Mutationen auf, es entsteht eine „Wolke“ ähnlicher Spezies, eine sogenannte Quasispezies. Deren „Nachkommen“ sind ebenfalls keine exakten Kopien und können sich durch Vor- und-Rückmutation immer wieder ineinander umwandeln. Die momentane Selektion der sich am raschesten vermehrenden Form einer Generation kann somit in der nächsten Generation wieder annulliert werden. Über einem scharf definierten Grenzwert der Fehlerrate bricht dann die „Vererbung“ völlig zusammen, man spricht von einer Fehlerkatastrophe, und es kann sich keine stationäre Population mehr ausbilden.

Die Möglichkeit mit der Erhöhung der Fehlerrate einen Zusammenbruch weiterer Replikation auszulösen, ist vor allem von Virologen aktiv aufgenommen worden, verspricht diese Strategie doch einen Paradigmenwechsel im Kampf gegen virale Infektionen. Das Arzneimittel Ribavirin, ein synthetisches Nucleosid-Analog wird in die RNA von RNA-Viren eingebaut und wirkt dort als starkes Mutagen. Die erfolgreiche Anwendung gegen eine weite Palette viraler Infektionen, u.a. gegen Hepatitis-C-Virus, Respiratory-Syncytial-Virus, Influenza-Viren und vor allem gegen verschiedene haemorrhagisches Fieber erzeugende RNA-Viren dürfte zumindest zum großen Teil auf die Erhöhung der Mutationsrate zurückzuführen sein.

Der Hyperzyklus (4, 5)

Nukleinsäuren, deren spezifische Nukleotidsequenzen in Form der Gene – in ihrer Gesamtheit bei einem Organismus als Genotyp oder Genom bezeichnet – weiter vererbt werden, kodieren für Proteine und andere regulatorische Moleküle, die den Phänotyp ausmachen und das Weiterbestehen in der jeweiligen Umgebung möglichst effizient gestatten sollen. Wie kann die Integration einzelner Gene ohne einen Organismus erfolgen?

Der HyperzyklusAbbildung 2. Der Hyperzyklus (Beschreibung siehe Text)

 

Dazu wurde 1971 von Manfred Eigen erstmals eine kinetische Theorie der Reproduktion von Nukleinsäuren formuliert, ein sogenannter Hyperzyklus, wie er stark vereinfacht in Abbildung 2 dargestellt ist (4). Dieser Hyperzyklus weist eine zyklische Folge von Rückkopplungen auf, in welcher Nukleinsäuren (I1 – I5) die Bildung von Enzymen (E1- E5) durch Übersetzung (Translation) katalysieren, welche wiederum die Replikation der Nukleinsäuren katalysieren.

Derartige Hyperzyklen umgehen die oberhalb genannte Fehlerkatastrophe, denn für die Fehlerakkumulation ist nur die Länge der einzelnen freien Gene entscheidend aber nicht das gesamte kodierende Genom (I1+I2+I3+I4+I5). Dieses Modell wurde unter anderem für die frühe Phase der Evolution in einer „RNA-Welt“ postuliert. Hier soll es als Beispiel für die Grenzen des Darwinschen Prinzips genannt werden. Natürliche Selektion würde unter den freien Genen das sich am schnellsten vermehrende auswählen und die anderen Gene würden verschwinden. Da jedoch alle Enzyme (E1, E2, …) für die Vermehrung gebraucht würden, müsste das System aussterben. Die dynamische Kopplung in Abbildung 2 führt aber zu einem anderen Resultat: Das Darwinsche Prinzip wird nicht realisiert, es tritt keine Selektion ein und der Hyperzyklus wächst als ein organisches Ganzes.

Grenzen der Universalität des Darwinschen Prinzips

Das Modell des Hyperzyklus wurde als ein Beispiel genannt, in dem Selektion durch funktionelle Kopplung andernfalls konkurrierender Partner aufgehoben wird. Gibt es derartige Beispiele in der Natur? Der Biologe kennt eine Vielzahl von Symbiosen und diese stellen eine Form von Hyperzyklen auf der Ebene von Organismen dar. In tierischen und menschlichen Gesellschaften finden wir eine wahre Fülle von Beispielen anscheinenden und scheinbaren altruistischen Verhaltens, bei welchen einzelne Individuen auf kurzfristige Erlöse verzichten, um langfristig größere Vorteile gewinnen zu können. Auch dies ist im Darwinschen Prinzip nicht vorgesehen, denn natürliche Selektion operiert hic et nunc und ist blind und taub für langfristige Entwicklungen.

Die Entstehung und Entwicklung des Lebens kennt eine Fülle von Phasen, die so genannten ‚major transitions‘, in welchen die Selektion durch verschiedene Mechanismen außer Kraft gesetzt wurde. Diese Übergänge führen von einer Komplexitätsebene auf die nächst höhere. Nur ein Beispiel sei explizit genannt: der Übergang von den Einzellern zum Vielzellerorganismus. Auf der Ebene der Einzeller ist das Darwinschen Prinzip wirksam und ebenso auf der Ebene der Vielzeller, wo die einzelne Zelle nicht mehr nach Belieben wachsen kann wohl aber der Gesamtorganismus, der in der Population der Selektion unterworfen ist. Eine ‚Erinnerung‘ an ihre historische Freiheit ist den Körperzellen aber noch geblieben und sie entkommen im Fall von Tumoren auch mintunter der Kontrolle zum Schaden des Gesamtorganismus.

Fazit

Das Darwinsche Prinzip hat einen überaus großen Grad der Universalität, aber immer gilt es nicht, wie nichts auf dieser Welt.


Literatur

(1) C. Darwin (1859). The origin of species by means of natural selection or the preservation of favoured races in the struggle for life. J. Mussay, London.

(2) JD Watson, FH Crick (1953) Molecular Structure of Nucleic Acids: A Structure for Deoxyribose Nucleic Acid

(3) S. Spiegelman (1971) An approach to the exoperimental analysis of precellular evolution. Quart.Rev.Biophys. 4:213-253

(4) M. Eigen (1971) Selforganization of matter and the evolution of macromolecules. Naturwissenschaften 58:465-523

(5) M. Eigen, P. Schuster (1979).The Hypercycle - A Principle of Natural Self-Organization. Springer-Verlag, Berlin 1979.

 


Weiterführende Links

Howard Hughes Medical Institute (“plays a powerful role in advancing biomedical research and science education in the United States”): Vorlesungen von Spitzenwissenschaftern, Videos, Animationen zu einem breiten Spektrum an Naturwissenschaften und Medizin; speziell zu Evolution und =24143">DNA.

The DNA Learning Center: (“the world's first science center devoted entirely to genetics education and is an operating unit of Cold Spring Harbor Laboratory, an important center for molecular genetics research”):

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