Fr, 14.03.2013 - 04:20 — Gottfried Schatz
Das Licht, das von der Sonne zur Erde gelangt, verwandelt sich zum grössten Teil in Wärme und verlässt früher oder später unseren Globus wieder. Dennoch ist die Sonnenenergie zum lebenspendenden Strom geworden, an dem – über die Nahrungskette - alle teilhaben.
Edvard Munch: Die Sonne (1910 –13)
«Die Sonne ging auf bei Paderborn, / Mit sehr verdrossner Gebärde. / Sie treibt in der Tat ein verdriesslich Geschäft – / Beleuchten die dumme Erde!» – Mit diesen Worten aus «Deutschland. Ein Wintermärchen» gibt Heinrich Heine unserer Erde übergrosse Bedeutung, obwohl er in seinem bitteren Versepos sonst nur wenig für sie übrig hat. Die Sonne gönnt uns nur ein Zehnmilliardstel ihres Lichts – und mehr als die Hälfte davon wird dann noch von unserer Lufthülle verschluckt oder in den Weltraum zurückgestrahlt.
Jeder Quadratmeter Erdoberfläche empfängt im Durchschnitt pro Jahr nur etwa 1700 Kilokalorien Energie in Form von sichtbarem Licht, das sich zum grössten Teil in Wärme verwandelt und früher oder später als infrarote Strahlen die Erde auch wieder verlässt.
Einfangen der Sonnenenergie
Dennoch schafften es einzellige Lebewesen bereits vor fast vier Milliarden Jahren, einen kleinen Teil dieser Lichtenergie einzufangen und davon zu leben. Bald lernten andere Lebewesen, sich von diesen Lichtessern – und damit indirekt von der Sonne – zu ernähren. Sonnenenergie wurde zum lebenspendenden Strom, dessen unzählige Verästelungen die Vielfalt des Lebens auf unserem Planeten speisen. Diesem Strom entziehen sich nur urtümliche Einzeller, die tief unter der Erdoberfläche oder im Umfeld vulkanischer Erdspalten leben und geochemische Prozesse als Energiequelle verwenden.
Energie ist die Fähigkeit, Arbeit zu leisten. Sie lässt sich weder erzeugen noch vernichten, sondern nur von einer Form in eine andere umwandeln: von Licht in Wärme, von Bewegung in elektrischen Strom – und von diesem in fast alle anderen Energieformen. Die Kilokalorie ist als Energiemass zwar offiziell veraltet, in der breiten Öffentlichkeit aber immer noch gebräuchlich. Eine Kilokalorie kann einen Liter Wasser um ein Grad Celsius erwärmen – und uns etwa dreizehn Meter weit laufen oder eine Minute lang leben lassen. Unter der falschen Bezeichnung «Kalorie» tyrannisiert sie das Leben unzähliger Menschen, die ihrem Körper Energie vorenthalten, um einem bizarren Schlankheitsideal zu frönen.
Sosehr wir Menschen das wärmende Licht der Sonne auch geniessen – es kann uns nicht direkt nähren. Jeder hungernde Tropenbewohner ist ein moderner Tantalos. Nur Pflanzen und Licht-verwertende Einzeller können mit dem Zauberstab des Lichts Kohlendioxid und Wasser in organische «Biomasse» verwandeln. Diese liefert Pflanzenfressern Brennstoff für die Feuer der Zellatmung und damit Lebensenergie.
Versickern der Sonnenenergie in der Nahrungskette
Die Pflanzenfresser kommt ein solches Schmarotzertum allerdings teuer zu stehen: Sie können nur etwa ein Zehntel der in Pflanzen gespeicherten Lichtenergie in ihre eigene Biomasse hinüberretten, weil sie Energie verbrauchen, um sich zu bewegen und die Temperatur sowie die chemische Zusammensetzung ihres Körpers konstant zu halten. Ein Kilogramm Pflanzenfutter liefert deshalb oft weniger als hundert Gramm Fleisch. Noch grösser ist der Energieverlust aber für Raubtiere, weil sie ihre Beute meist mit grossem Energieaufwand über weite Entfernungen jagen.
Ökologische Pyramide: Versickern der Sonnenenergie über die Nahrungskette (dargestellt am Beispiel Silver Springs Florida): Von den rund 1,7 Mio. kcal Sonnenenergie, die jährlich pro m² auf die Erde fallen, „fangen“ Pflanzen etwas mehr als 1 % ein und verwandeln davon weniger als die Hälfte (8900 kcal) in verwertbare Biomasse. Die in Form der Biomasse gespeicherte Energie reduziert sich besonders stark beim Übergang von Pflanzenfressern zu Carnivoren und weiter zu Carnivoren, die von anderen Carnivoren leben – der Großteil der aufgenommenen Energie wird hier für Bewegung und Aufrecherhaltung des Stoffwechsels verbraucht (blau). (Daten aus: http://en.wikipedia.org/wiki/File:EcologicalPyramids.jpg und http://users.rcn.com/jkimball.ma.ultranet/BiologyPages/F/FoodChains.html, abgerufen 12.März 2013)
Das «Versickern» von Sonnenenergie in dieser Nahrungskette ist dramatisch. In der freien Natur speichern Pflanzen im Verlauf ihres Lebens nur etwa ein halbes Prozent des eingestrahlten Sonnenlichts als Biomasse, Pflanzenfresser einige hundertstel Prozent und Raubtiere wiederum zehnmal weniger. Deshalb kennen wir zwar grosse Herden von Rentieren oder Antilopen, nicht aber solche von Tigern oder Leoparden. Noch schlimmer stünde es um Tiere, die sich von anderen Raubtieren ernährten. Ein Raubtier, das vorwiegend Leoparden frässe, müsste sich in der Warteschlange für Sonnenenergie so weit hinten anstellen, dass es sich niemals ausreichend vermehren könnte. Kein Wunder also, dass der Leopard keinen natürlichen Feind hat. Diese unerbittlichen Regeln der Nahrungskette gelten auch für uns Menschen. Jeder von uns muss jährlich etwa 700 000 Kilokalorien chemische Energie in Form von verwertbarer Nahrung zu sich nehmen, um langfristig ein gesundes und normales Leben zu führen. Als Vegetarier könnten sich die Bewohner der Stadt Zürich mit weniger als hundert Quadratkilometern Anbaufläche ernähren, doch bei einer reinen Fleischdiät wäre die erforderliche Fläche – und damit auch der Preis für Nahrung – etwa fünf- bis zehnmal grösser.
Kulturen, Gene
Das Streben nach Sonnenenergie hat auch die Entwicklung menschlicher Kulturen geprägt. Als Jäger und Sammler mussten unsere nomadischen Vorfahren weite Flächen durchstreifen, um sich ihren Anteil an Sonnenenergie zu sichern. Erst Landwirtschaft und intensive Viehzucht ermöglichten es ihnen, mit kleineren Flächen auszukommen, sesshaft zu werden, Städte zu gründen und eine hohe Kultur zu entwickeln. Um auf immer kleinerem Raum immer mehr Nahrung zu erzeugen, setzen wir heute gewaltige Mengen von Wasser, künstlichem Dünger, Pestiziden und Erdöl ein. Um eine Kilokalorie Nahrung zu schaffen, müssen wir oft eine Kilokalorie Erdöl verbrennen. Unsere industrielle Nahrungsproduktion ist zur grotesken Maschine geworden, die Erdöl in Nahrung verwandelt.
Bei der Suche nach Sonnenenergie helfen uns auch unsere Gene. Ein Beispiel dafür liefern zwei eng verwandte Ariaal-Sippen in Kenya, von denen eine als nomadische Viehzüchter in den Bergen und die andere als sesshafte Ackerbauern im Tiefland lebt. Eine seltene Genvariante (Genvariante des Dopaminrezeptors DRD4 (Anm. der Redaktion)), die besonders häufig in Menschen mit Aggressivität, Konzentrationsschwäche, Impulsivität und Hyperaktivität vorkommt, findet sich bei den nomadischen Ariaals vorwiegend in gut genährten und muskulösen, bei den sesshaften hingegen vorwiegend in unterernährten und muskelschwachen Männern. Dies deutet darauf hin, dass diese Genvariante für Nomaden von Vorteil, für sesshafte Bauern dagegen von Nachteil ist. Impulsivität, Angriffsbereitschaft und die Fähigkeit, schnell zu reagieren, könnten Nomaden helfen, Herden zu verteidigen, neue Weidegründe zu entdecken oder als Kinder auch unter unsteten Lebensbedingungen zu lernen – und sich so eine ausreichende Ernährung zu sichern. In einer Dorfgemeinschaft wären solche Eigenschaften hingegen eher hinderlich.
Unabhängig von der Sonnenenergie - Kernfusion?
Wir Menschen haben uns in der Warteschlange für Sonnenenergie schon früh nach vorne gedrängt: mit der Zähmung des Feuers erschlossen wir uns die Sonnenenergie, welche Licht-verwertende Lebewesen über Jahre oder gar Jahrmillionen gespeichert hatten. Und mit Wind- und Wasserrädern, Sonnenkraftwerken und Solarzellen umgingen wir diese Warteschlange ganz. Doch erst die Kernspaltung erschloss uns eine breit anwendbare Energiequelle, die kein Erbe unserer Sonne ist. Vielleicht wird es uns dereinst gelingen, durch die gebändigte Verschmelzung von Atomkernen in Fusionsreaktoren künstliche Sonnen zu schaffen. Diese würden uns Menschen zwar Wärme und elektrische Energie, dem Leben auf unserer «dummen Erde» jedoch nicht genügend Licht schenken. Den lebenspendenden Strom des natürlichen Sonnenlichts könnten sie nie ersetzen.
Zum Thema:
- Ecological pyramids (4:03 min)
- Ökosystem Erde
- Artikel zur Verwertung der Sonnenenergie im Science-Blog:
- Der Natur abgeschaut: die Farbstoffzelle
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