Do,21.03.2024 — Redaktion
Ein bestürzender Report ist vergangene Woche erschienen (M.Wagner et al., 2024): Wissenschafter aus Norwegen und der Schweiz haben einen umfassenden Überblick über mehr als 16 000 Chemikalien gegeben, die zur Produktion von Kunststoffen verwendet werden, in diesen potentiell enthalten sind und von diesen freigesetzt werden können. Von mehr als 9000 dieser Substanzen fehlen Angaben wo und wie sie eingesetzt werden, bei mehr als 10 000 Substanzen gibt es keine Informationen zum Gefährdungsrisiko. Über 4 200 Kunststoffchemikalien werden als bedenklich betrachtet, da sie persistent sind und/oder sich in der Biosphäre anreichern und/oder toxisch sind, davon unterliegen 3 600 weltweit keinen Regulierungen. Eine Schlussfolgerung der Forscher: bedenkliche Chemikalien können in allen Kunststoffarten vorkommen.Um zu besserer Chemikaliensicherheit und Nachhaltigkeit zu gelangen, empfehlen sie ein Bündel an Maßnahmen zur politischen Umsetzung.
Die wichtigsten Aussagen der Forscher werden im folgenden Artikel ungefiltert aufgezeigt: in Form der "Executive Summary" des Reports, die hier in deutscher Übersetzung und ergänzt mit einigen Abbildungen aus dem Report vorliegt.
Das Ausmaß der Chemikalien bei Kunststoffen
Chemikalien sind ein essentielles Merkmal aller Materialien und Produkte aus Kunststoff und der Schlüssel, um deren Vorzüge zu erzielen. Allerdings werfen Kunststoffchemikalien erhebliche Bedenken zu Umwelt und Gesundheit auf. Die Vielfalt der Kunststoffchemikalien und ihre problematischen Eigenschaften machen eine umfassende Analyse zum Schutz der menschlichen Gesundheit und der Umwelt während des gesamten Lebenszyklus von Kunststoffen erforderlich. Der PlastChem-Bericht "State-of-the-science on plastic chemicals" gibt einen sorgfältigen und umfassenden Überblick über den aktuellen wissenschaftlichen Kenntnisstand der chemischen Dimension von Kunststoffen, einschließlich der Gefahren, Funktionen, Verwendungen, Produktionsmengen und des rechtlichen Status von Kunststoffchemikalien [1].
Warum spielen Kunststoffchemikalien eine Rolle?
Abbildung 1. Anzahl der Chemikalien von denen die Verwendung bei der Kunststoffproduktion, das Vorhandenseins in den Kunststoffen und die Freisetzung aus Kunststoffen nachgewiesen ist. Chemikalien mit unschlüssigen Ergebnissen sind ebenfalls angeführt. Bei den Informationen über Verwendung, Vorhandensein und Freisetzung gibt es erhebliche Überschneidungen, so dass hier für jede Chemikalie der höchste Beweisgrad angegeben wird. (Quelle: Figure 7 in M. Wagner et al., 2024,[1]. von Redn. deutsch übersetzt. Lizenz cc-by-sa-nc-4.0.) |
Die weltweite Kunststoffindustrie verwendet eine Vielzahl von Chemikalien, von denen viele nachweislich die Umwelt verschmutzen und schädliche Auswirkungen auf Wildtiere, Menschen und Ökosysteme haben. Viele andere Kunststoffchemikalien sind noch unzureichend untersucht (Abbildung 1).
Die bekannten nachteiligen Auswirkungen in Verbindung mit Datenlücken und bruchstückhaften wissenschaftlichen Erkenntnissen stellen ein gewaltiges Hindernis für die Bewältigung der Risiken dar, die durch die Belastung mit Chemikalien während des gesamten Lebenszyklus von Kunststoffen entstehen. Darüber hinaus verhindert dies auch den Übergang zu einer schadstofffreien Zukunft, indem es Innovationen im Hinblick auf sicherere und nachhaltigere Materialien und Produkte behindert.
Was ist über Kunststoffchemikalien bekannt?
Abbildung 2. Anzahl der Kunststoffchemikalien nach ihrem jährlichen Produktionsvolumen. Die Zahlen sind kumuliert, d. h. die Anzahl der Chemikalien mit ≥10 Tonnen umfasst alle Chemikalien mit einem höheren Produktionsvolumen. (Quelle: Figure 5 in M. Wagner et al., 2024,[1].Lizenz cc-by-sa-nc-4.0.) |
Der Bericht über den Stand der Wissenschaft fasst die Erkenntnisse über mehr als 16 000 Chemikalien zusammen, die potentiell in Kunststoffmaterialien und -produkten verwendet werden oder enthalten sind. Nur 6 % dieser Chemikalien unterliegen derzeit internationalen Regulierungen, obwohl eine weitaus größere Zahl in großen Mengen hergestellt wird und ein hohes Expositionspotenzial aufweist. Abbildung 2 gibt einen Überblick über Zahl und Produktionsvolumina von Kunststoffchemikalien.
Mehr als 4200 Kunststoffchemikalien sind bedenklich, weil sie persistieren, in der Biosphäre akkumulieren, mobil und/oder toxisch (PBMT) sind. Was unter diesen Gefährdungskriterien zu verstehen ist, zeigt Abbildung 3.
Abbildung 3. Abbildung 3. Die 4 Gefährdungskriterien Persistenz, Bioakkumulation, Mobiliät und Toxizität - PBMT. (Quelle: Executive Summary in M. Wagner et al., 2024,[1]; von Redn. deutsch übersetzt.Lizenz cc-by-nc-sa-4.0.), |
Über 1300 der bedenklichen Chemikalien sind zur Verwendung in Kunststoffen auf dem Markt, und 29 - 66 % der verwendeten oder in gut untersuchten Kunststoffarten gefundenen Chemikalien sind bedenklich.
Dies bedeutet, dass bedenkliche Chemikalien in allen Kunststoffarten vorkommen können.
Der Bericht zeigt auch eklatante Datenlücken auf: Bei mehr als einem Viertel der bekannten Kunststoffchemikalien fehlen grundlegende Informationen über ihre Identität, und bei mehr als der Hälfte sind die Informationen über ihre Funktionen und Anwendungen in der Öffentlichkeit unklar oder fehlen ganz (siehe Abbildung 1). Darüber hinaus sind die Daten zum Produktionsvolumen nicht weltweit repräsentativ und auf bestimmte Länder beschränkt.
Abbildung 4. Übersicht über Kunststoffchemikalien, die als gefährlich, weniger gefährlich und ungefährlich eingestuft sind und von denen keine Gefährdungsdaten vorliegen. Die rechte Seite zeigt, welche Gefahrenkriterien (PBMT: siehe Abb.3) und Eigenschaften die betreffenden Chemikalien erfüllen. Abkürzungen: STOT: spezifische Organ-Toxizität; CMR: carcinogen, mutagen, reproduktionsschädigend; EDC: endokriner Disruptor; POP: persistierende organische Pollution; PBT: persistent, bioakkumulierend, toxisch; PMT: persistent, mobil, toxisch; vPvB: sehr persistent, sehr bioakkumulierend; vPvM: sehr persistent, sehr mobil. (Quelle: Figure 11 in M. Wagner et al., 2024,[1]. von Redn. modifiziert und deutsch übersetzt. Lizenz cc-by-nc-sa-4.0.) |
Besonders wichtig ist, dass für mehr als 10 000 Chemikalien keine Informationen über die Gefahren vorliegen, obwohl diese Informationen für eine ordnungsgemäße Bewertung und Handhabung dieser Chemikalien unerlässlich sind (Abbildung 4). Dies unterstreicht den Bedarf an transparenteren Informationen über die Identität, die Gefahren, die Funktionen, die Produktionsmengen und das Vorkommen von Kunststoffchemikalien in Kunststoffen.
Auf welche Kunststoffchemikalien kommt es besonders an?
Der Bericht skizziert einen systematischen Ansatz zur Identifizierung und Prioritätensetzung von besorgniserregenden Chemikalien, wobei ein gefahren- und gruppenbasierter Rahmen verwendet wird, der auf vier entscheidenden Gefährdungskriterien (PBMT; Abbildung 3) basiert. Diese Methode ermöglicht eine effiziente Identifizierung von Chemikalien, die weitere politische Maßnahmen erfordern. Ein solcher Ansatz löst auch die großen Herausforderungen, die mit der Risikobewertung von mehr als 16.000 Kunststoffchemikalien verbunden sind, einschließlich des immensen Ressourcenbedarfs, der Investitionen und der technischen Herausforderungen zur Ermittlung zuverlässiger Expositionsdaten (d. h. der Konzentration von Kunststoffchemikalien in der Umwelt, in der Tierwelt und beim Menschen).
Unter Anwendung eines strengen und umfassenden gefahren- und gruppenbasierten Ansatzes werden in dem Bericht 15 prioritäre Substanzgruppen bedenklicher Kunststoffchemikalien identifiziert (Abbildung 5) und über 4200 bedenkliche Chemikalien, von denen ca. 3600 derzeit weltweit nicht reguliert sind. Außerdem werden zusätzliche Strategien zur weiteren Priorisierung von Kunststoffchemikalien für politische Maßnahmen vorgestellt und Ansätze zur Identifizierung bedenklicher Polymere aufgezeigt
Abbildung 5. Prioritäre 15 Substanzgruppen von Kunststoffchemikalien, die Anlass zu Besorgnis sind. (Quelle: Executive Summary in M. Wagner et al., 2024,[1]; Lizenz cc-by-nc-sa-4.0.), |
Wie kann diese Evidenz in politische Maßnahmen umgesetzt werden?
Empfehlung 1: Umfassende und effiziente Regulierung von Kunststoffchemikalien
Die große Zahl und die vielfältigen bekannten Gefahren erfordern neue Ansätze, um Kunststoffchemikalien umfassend und effizient zu regeln. Dies kann durch die Umsetzung eines gefahren- und gruppenbasierten Ansatzes zur Ermittlung bedenklicher Kunststoffchemikalien erreicht werden. Eine solche Strategie ist von entscheidender Bedeutung, um die Grenzen der derzeitigen Bewertungssysteme zu überwinden und die Innovation hin zu sichereren Kunststoffchemikalien zu fördern.
Dementsprechend sollten die politischen Entscheidungsträger die PBMT-Kriterien übernehmen und den 15 Gruppen und 3600 bedenklichen Chemikalien Vorrang bei der Regulierung einräumen, da sie derzeit auf globaler Ebene nicht reguliert sind.
Empfehlung 2: Transparenz bei Kunststoffchemikalien fordern
Mehr Transparenz bei der chemischen Zusammensetzung von Kunststoffen ist unerlässlich, um Datenlücken zu schließen, ein umfassendes Management von Kunststoffchemikalien zu fördern und Rechenschaftspflicht über die gesamte Wertschöpfungskette von Kunststoffen zu schaffen. Eine einheitliche Berichterstattung, die Offenlegung der chemischen Zusammensetzung von Kunststoffmaterialien und -produkten sowie ein "Keine Daten, kein Markt"-Ansatz werden empfohlen, um sicherzustellen, dass wesentliche Informationen über Kunststoffchemikalien öffentlich zugänglich werden. Dies dient dem doppelten Zweck, Sicherheitsbewertungen und Entwicklung von sichereren Kunststoffen zu erleichtern.
Empfehlung 3: Vereinfachung von Kunststoffen in Richtung Sicherheit und Nachhaltigkeit
Die vielen auf dem Markt befindlichen Kunststoffchemikalien erfüllen oft ähnliche und manchmal unwesentliche Funktionen. Diese Komplexität und Redundanz stellen ein großes Hindernis für Governance und Kreislaufwirtschaft dar. Das Konzept der chemischen Vereinfachung bietet die Möglichkeit, die Auswirkungen von Kunststoffen zu verringern, indem ein innovationsfreundlicher und evidenzbasierter Weg in die Zukunft eingeschlagen wird. Die Vereinfachung kann durch die Förderung von Maßnahmen erreicht werden, die die Verwendung von weniger und sichereren Chemikalien begünstigen, sowie durch die Annahme von Konzepten für die erforderliche Verwendung und die sichere Gestaltung, um Innovationen zu lenken.
Empfehlung 4: Aufbau von Kapazitäten zur Entwicklung sichererer und nachhaltigerer Kunststoffe
Um Kunststoffchemikalien wirksam zu handhaben und Innovationen in Richtung sicherer und nachhaltiger Kunststoffe zu fördern, sollten im öffentlichen und privaten Sektor technische, institutionelle und kommunikative Kapazitäten aufgebaut werden. Dazu gehört die Förderung des globalen Wissensaustauschs, die Schaffung eines gleichberechtigten Zugangs zu technischen Fähigkeiten und die Verbesserung der institutionellen Ressourcen für ein effektives Management von Kunststoffchemikalien. Durch die Einrichtung einer Plattform für den Wissensaustausch, die internationale Zusammenarbeit und die Zuteilung von Ressourcen regt der Bericht zu kollektiven Anstrengungen an, um gemeinsame Lösungen zu entwickeln und sicherzustellen, dass Wissen, Technologie und Infrastruktur auf offene, faire und gerechte Weise verfügbar sind.
Abbildung 6. Kunststoffchemikalien: Stand der Wissenschaft und empfohlene Maßnahmen zur politischen Umsetzung. (Quelle: Executive Summary in M. Wagner et al., 2024,[1]; Lizenz cc-by-nc-sa-4.0.), |
Abbildung 6. fasst den derzeitigen wissenschaftlichen Stand über Kunststoffchemikalien und die empfohlenen Maßnahmen zur politischen Umsetzung zusammen.
Welche positiven Auswirkungen hat es sich mit Kunststoffchemikalien zu befassen?
Eine umfassende Auseinandersetzung mit besorgniserregenden Kunststoffchemikalien und -polymeren wird erheblichen Nutzen für Umwelt und menschliche Gesundheit mit sich bringen, Innovationen zu sichereren Kunststoffchemikalien, -materialien und -produkten fördern und den Übergang zu einer untoxischen Kreislaufwirtschaft unterstützen. Die vorgeschlagenen Konzepte für Kunststoffchemikalien und Polymere sollen den Stand der Wissenschaft mit den politischen und rechtlichen Rahmenbedingungen in Einklang bringen und so eine fundierte Entscheidungsfindung und verantwortungsvolle Innovationen in allen Sektoren erleichtern.
Da kein Land in der Lage ist, das grenzüberschreitende Problem der Kunststoffchemikalien und -polymere allein anzugehen, ist dem Stand der Wissenschaft entsprechend eine kollektive globale Reaktion am besten geeignet, um die Auswirkungen auf Umwelt und Gesundheit zu mindern. Eine evidenzbasierte Politik, die der Chemikaliensicherheit und Nachhaltigkeit Vorrang einräumt, wird einen Weg zu einer sicheren und nachhaltigen Zukunft bieten.
Der PlastChem-Bericht:
Martin Wagner, Laura Monclús, Hans Peter H. Arp, Ksenia J. Groh, Mari E. Løseth, Jane Muncke, Zhanyun Wang, Raoul Wolf, Lisa Zimmermann (14.03.2024) State of the science on plastic chemicals - Identifying and addressing chemicals and polymers of concern. http://dx.doi.org/10.5281/zenodo.10701706. Lizenz: cc-by-sa-4.0.
Der Bericht
- wird von einer öffentlich zugänglichen, umfassenden Zusammenstellung von Informationen über bekannte Kunststoffchemikalien begleitet, der PlastChem-Datenbank: plastchem_db_v1.0.xlsx
- wurde am 14. März 2024 im Rahmen einer Online-Veranstaltung des Geneva Environment Network vorgestellt: Launch and Panel Discussion: State of the Science on Plastic Chemicals. Video 1:30:25 (mit Transkript) https://www.youtube.com/watch?v=zM-xbq_QyG8
- ist im Vorfeld der April-Sitzung des Fourth Intergovernmental Negotiating Committee on Plastic Pollution (INC-4, in Ottawa, Ontario) erschienen, eines Ausschusses des Umweltprogramms der Vereinten Nationen, der bis Ende des Jahres ein globales Plastikabkommen mit 175 Ländern ausarbeiten soll.
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