Wie das Gehirn von Abfallstoffen gereinigt wird

Do 14. 11.2024— Christian Wolf

Christian Wolf

Icon Gehirn

Das Gehirn ist rund um die Uhr aktiv. Dabei fällt viel Müll an. Um diesen zu beseitigen, haben unsere grauen Zellen eine eigene Putzkolonne, die wir noch gar nicht so lange kennen: Das sogenannte glymphatische System nutzt die Hirnflüssigkeit, die durch Kanäle und Zellzwischenräume im Gehirn fließt, um Stoffwechselprodukte und Toxine aufzunehmen und abzutransportieren. Schlaf fördert möglicherweise die Effizienz des Reinigungssystems: Zellzwischenräume im Gehirn vergrößern sich während des Schlafs, was eine bessere Abfallentsorgung ermöglicht. Einige Forschungsergebnisse stellen diese Rolle des Schlafs allerdings in Frage.*

Die Putzkolonne im Gehirn

Das Gehirn gleicht ein wenig einem modernen Firmengebäude. Die Hirnregionen sind dabei die einzelnen Abteilungen. In jedem gut funktionierenden Bürokomplex braucht es ein effizientes Reinigungssystem, um alles sauber zu halten. Auch das Gehirn hat eine eigene Reinigungscrew, die dafür sorgt, dass der Laden reibungslos läuft.

Im restlichen Körper entfernt das Lymphsystem überschüssige Flüssigkeit, Abfallstoffe, Zelltrümmer, Krankheitserreger und andere unerwünschte Substanzen aus den Geweben. Doch wie wird das Gehirn seinen Müll los? Diese Frage ist nicht ganz unwichtig, da das Gehirn einen besonders aktiven Stoffwechsel hat. Entsprechend fällt auch einiges an Abfallprodukten an.

Der Fluss des Liquors

Bis vor kurzem glaubten Forscher, das Gehirn habe kein eigenes Lymphsystem, das die Reinigung übernimmt. Über ein Jahrhundert lang nahm man an, der Fluss des Liquors, der Hirnflüssigkeit, übernehme diese Funktion. Die Hirnflüssigkeit umgibt Gehirn und Rückenmark, schützt sie vor Stößen und transportiert Nährstoffe zu den Nervenzellen – und Substanzen von diesen weg. Abbildung 1 (von Redn. eigefügt).

Abbildung 1. Die Hirnflüssigkeit (Liquor) wird in den Hirnkammern (Ventrikeln) gebildet, fließt in den Raum zwischen der mittleren Hirnhaut (Arachnoidea) und der inneren Hirnhaut (Pia mater). Von hier aus umspült der Liquor das Gehirn und absteigend als Rückenmarksflüssigkeit das Rückenmark. (Bild: Advanced Anatomy 2nd. Ed. Copyright © 2018 by PHED 301 Students.Lizenz:cc-by-nc-nd.)

Zwar verspottet man Menschen, die nicht ganz so helle sind, gerne als Hohlköpfe. Doch tatsächlich sind wir im Grunde alle Hohlköpfe, denn tief in seinem Inneren ist das Gehirn tatsächlich hohl. Das liegt am Ventrikelsystem, einem Netzwerk miteinander verbundener Hohlräume, in denen sich die Hirnflüssigkeit befindet. Diese Ventrikel produzieren den Liquor und verteilen ihn.

Forscher gingen nun davon aus, dass sich von Nervenzellen und Gliazellen produzierte Abfallstoffe und Stoffwechselprodukte in der Hirnflüssigkeit sammeln und mit dieser in einer Art passivem Transport entfernt werden. Der Haken an dieser These: Dieser Vorgang wäre viel zu langsam, um eine effektive Müllabfuhr zu bilden. Es muss demnach anders laufen.

Das feinkörnige Bild

Erst 2012 entdeckten Forscher um die dänische Neurowissenschaftlerin Maiken Nedergaard vom University of Rochester Medical Center, dass das Gehirn ein eigenes Abfallentsorgungssystem besitzt – ähnlich dem Lymphsystem im restlichen Körper. Sie nannten es das "glymphatische System". Der Name setzt sich aus „Glia“ und „lymphatisch“ zusammen, da Gliazellen darin eine wichtige Rolle spielen. Das glymphatische System ist ein fließendes Durchlaufsystem zum Abtransport von überflüssigen und schädlichen Stoffen, bei dem auch der Liquor eine wichtige Rolle spielt. Abbildung 2 (von Redn. eigefügt).

A Das glymphatische System - Zufluss, Austausch Liquor(CSF) - Interstitielle Flüssigkeit( ISF) und Abfluss: Der Zufluss von Liquor in das Gehirn erfolgt über die para-arteriellen Bahnen und wird dann mit der ISF ausgetauscht. Der gemischte Liquor und der ISF mit den interstitiellen Stoffwechselabfällen fließen in die paravenösen Bahnen und von dort in das Lymphgefäßsystem. AQP4: Wasserkanäle . (Bild: Quan Jiang, MRI and glymphatic system. https://doi.org/10.1136/svn-2018-000197 cc-by-nc )

Im Rahmen der Abfallentsorgung fließt der Liquor durch verschiedene Räume im Gehirn. Dazu gehören winzige Kanäle, die parallel zu den Blutgefäßen verlaufen. Sie befinden sich zwischen den Blutgefäßen und dem umgebenden Gewebe.

Anschließend tritt die Hirnflüssigkeit in das Hirngewebe ein. Hier kommen die Gliazellen, genauer Astrozyten, ins Spiel. Diese Hirnzellen besitzen wasserleitende Kanäle in ihren Endfüßchen. Durch diese Kanäle wird der Liquor in die Zellzwischenräume des Gehirngewebes verteilt, also in den Bereich, der nicht von Blutgefäßen, Nervenfasern oder Zellen eingenommen wird.

Das Entscheidende ist nun: Während die Hirnflüssigkeit durch das Hirngewebe fließt, nimmt sie Abfälle auf, die durch den Zellstoffwechsel entstehen. Wie schon die Originalstudien von Maiken Nedergaard und ihren Kollegen 2012 deutlich machten, gehört dazu Beta-Amyloid. Dieses Eiweiß genießt einen schlechten Ruf. Denn die Ansammlung und Ablagerung des Proteins wird mit der Entstehung der Alzheimer-Erkrankung in Verbindung gebracht. Schließlich wird der Liquor samt Abfallstoffen entlang der Venen wieder abtransportiert. Klappt der Abtransport von Stoffen wie Beta-Amyloid nicht gut, könnte das möglicherweise dieEntstehung von neurodegenerativen Erkrankungen wie Alzheimer begünstigen.

Warum wir schlafen

Quasi nebenbei hat Maiken Nedergaard mit ihrer Forschung zum glymphatischen System auch einen möglichen Grund dafür gefunden, warum wir überhaupt schlafen. Wie wichtig guter Schlaf ist, fällt uns in der Regel dann auf, wenn er uns fehlt. War die Nacht mal wieder viel zu kurz, schlägt das nicht nur auf die Stimmung. Meist sind wir dann geistig nicht voll auf der Höhe. Den genauen Grund dafür kennt die Wissenschaft nicht.

Einer der Funktionen von Schlaf könnte darin liegen, dass das Gehirn währenddessen den eigenen Haushalt auf Vordermann bringt. Wie Maiken Nedergard 2013 in einer Studie an Mäusen belegen konnte, wird offenbar im Zuge des Schlummerns am meisten Müll abtransportiert. Der Zwischenraum zwischen den Zellen im Gehirngewebe nahm während des Schlafs durch Schrumpfung der Zellkörper um bis zu 60 Prozent zu.

Verantwortlich dafür ist unter anderem Noradrenalin, ein Botenstoff, der das Wachheitsniveau reguliert. Er scheint gleichzeitig die Größe des Zellzwischenraums zu steuern. Noradrenalin-vermittelte Signale verändern offenbar das Zellvolumen und verkleinern dadurch den Raum zwischen den Hirnzellen. Hemmten Nedergaard und ihre Kollegen diese Signale medikamentös, vergrößerte sich der Zwischenraum zwischen den Zellen. Das führte zu einer effizienteren Beseitigung von Abfallprodukten ähnlich wie im Schlaf.

Der naheliegende Vorteil von größeren Zellzwischenräumen während des Schlafs: Durch mehr Platz zwischen den Zellen kann die Hirnflüssigkeit besser zirkulieren und die Abfallstoffe effizienter abtransportieren. Tatsächlich wurde Beta-Amyloid in der Untersuchung von Nedergaard aus den Gehirnen schlafender Mäuse doppelt so schnell beseitigt wie bei wachen Mäusen. Ein weiterer Vorteil: Der Schlaf ermöglicht es dem glymphatischen System, intensiver zu arbeiten. Denn die Energie, die im Gehirn sonst für kognitive und andere Leistungen draufgeht, steht dann für die Reinigung des Gehirns zur Verfügung. In einer Untersuchung von 2019 kam Nedergaard zu dem Ergebnis, dass vor allem im Tiefschlaf die Abfallentsorgung auf Hochtouren läuft: „Schlaf ist entscheidend für die Funktion des Abfallbeseitigungssystems des Gehirns“, sagt sie in einer Pressemitteilung. „Und diese Studie zeigt, je tiefer der Schlaf ist, desto besser."

Müllabfuhr: Im Schlaf wirklich effektiver?

Allerdings stellte kürzlich eine Studie infrage, ob Schlaf wirklich dazu dient, die Abfallentsorgung zu unterstützen. Nick Franks, Professor für Biophysik und Anästhesie am Imperial College London, und seine Kollegen kamen genau zu dem gegenteiligen Ergebnis: Stoffe im Gehirn von Mäusen wurden während des Schlafs nicht etwa stärker beseitigt – der Abtransport war sogar deutlich vermindert. "Die Idee, Schlaf könne das Gehirn von Stoffwechselprodukten befreien, war verlockend", sagt Nick Franks. Aber die Daten, die dies untermauern sollten, seien meist indirekt gewesen. "Man hat gemessen, wie schnell bestimmte Nachweismoleküle in das Gehirn gelangten. Und hat dies als Ersatz für das, was hinausging, angesehen.“ Seine eigenen Daten seien direkter. Tatsächlich hatten die Wissenschaftler um Franks Markermoleküle ins Gehirn injiziert und gemessen, wie schnell sie wieder austraten. Schlaf und Narkosemittel hemmten die Ausscheidung. "Daher ist es unwahrscheinlich, dass die Ausscheidung von Stoffwechselprodukten der Hauptgrund dafür ist, dass wir schlafen müssen."

Ob im Schlaf wirklich der Großputz stattfindet, ist also nicht ganz klar. Dafür häufen sich die Belege, dass das Gehirn tatsächlich über eine eigene Putzkolonne verfügt. Ähnlich wie ein modernes, gut funktionierendes Firmengebäude.


-Zum Weiterlesen

  • Hablitz , L.M. et al.: Increased glymphatic influx is correlated with high EEG delta power and low heart rate in mice under anesthesia. In: Sci Adv 2019 Feb 27;5(2):eaav5447. 
  • Miao , A. et al.: Brain clearance is reduced during sleep and anesthesia. In: Nat Neurosci 2024 Jun;27(6):1046-1050.

 * Der Artikel von Christian Wolf ist unter dem Titel " Die Putzkolonne im Gehirn" auf der Webseite www.dasGehirn.info am 1.Mai 2024 erschienen (https://www.dasgehirn.info/die-putzkolonne-im-gehirn). Der Artikel steht unter einer cc-by-nc-sa Lizenz. Der Text wurde mit Ausnahme des Titels von der Redaktion unverändert übernommen; zur Visualisierung wurden 2 Abbildungen eingefügt.

dasGehirn ist eine exzellente deutsche Plattform mit dem Ziel "das Gehirn, seine Funktionen und seine Bedeutung für unser Fühlen, Denken und Handeln darzustellen – umfassend, verständlich, attraktiv und anschaulich in Wort, Bild und Ton." (Es ist ein Projekt der Gemeinnützigen Hertie-Stiftung und der Neurowissenschaftlichen Gesellschaft e.V. in Zusammenarbeit mit dem Zentrum für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe).


 Artikel zum Thema im ScienceBlog:

Redaktion, 19.10.2017: Ein neues Kapitel in der Hirnforschung: das menschliche Gehirn kann Abfallprodukte über ein Lymphsystem entsorgen.

Inge Schuster, 12.02.2024: Zur Drainage des Gehirngewebes über ein Netzwerk von Lymphgefäßen im Nasen-Rachenraum.