Do, 13.12.2018 - 13:00 — Ricki Lewis
Der letzte Vertreter der Pinta-Riesenschildkröten - Lonesome George - starb 2012 im Alter von 100 Jahren . Kürzlich wurde der Vergleich seines Genoms mit dem anderer Spezies veröffentlicht: dieser zeigt Gen-Varianten, die u.a. Selektionsvorteile für Langlebigkeit, Abwehr von Infektionen, Resistenz gegenüber Krebserkrankungen bieten und damit neue Wege für die medizinische Forschung eröffnen [1]. Die Genetikerin Ricki Lewis, die zu Riesenschildkröten eine besondere Beziehung hat, berichtet über diese bahnbrechenden Befunde.*
Eine lange Beziehung zu Schildkröten
Für Schildkröten hege ich eine besondere Vorliebe.
Vor vielen Jahren kaufte ich anlässlich einer Reptilienschau eine Sulcata-Schildkröte. Was ich nicht wusste als ich damals die winzige Speedy in einer McDonalds Burger-Box nachhause brachte war, dass sie über 100 Jahre alt werden konnte.
Speedy wuchs und das sehr schnell. Nachts vergnügte sie sich damit die Möbel herum zu schubsen. Das Reinigen ihrer wöchentlichen Ausscheidungen kostete mich einige Stunden, Speedy selbst verabscheute die Badewanne. Sie liebte es den Sommer im Freien zu verbringen - als eine Art Reptilien-Rasenmäher, im Winter fiel sie dagegen in Depression und hockte wie eine deplatzierte Aktenkiste in einem Winkel meines Büros.
Ich verzweifelte. Das Googeln führte dann zu Artikeln, welche verächtlich über Idioten im Nordosten herzogen, die sich mit Leguanen und Riesenschildkröten anfreunden und dann mit deren unabwendbarem Wachstum konfrontiert sind.
Ich musste meine geliebte Speedy umsiedeln.
Ich las die ausführlichen Anleitungen im Internet und platzierte Speedy in die erforderlichen zwei Plastikwannen mit viel Platz und dem Etikett "Ich bin keine Schlange". Dann ging es zur Post. Ich hatte sicher gestellt, dass Airborne Express sie versenden würde, wohingegen FedX und DHL kein lebendes Reptil anrühren würden. Aber ich kam fünf Minuten zu spät, und der Airborne-Angestellte war bereits gegangen.
Es war dies Montag, der 10. September 2001.
Wäre Speedy pünktlich abgereist, wäre sie zweifellos irgendwo auf einem Rollfeld umgekommen, das die USA nach den Terroranschlägen schlossen. Der Besitzer des Postversands erzählt bis heute die Geschichte seiner interessantesten Postsendung, der Schildkröte Speedy.
Ich behielt Speedy für einen weiteren Monat und schickte sie dann ab. Ich erfuhr bald, dass der Airborne-Mann in Kalifornien - nachdem er festgestellt hatte, dass Speedy keine Schlange war - sie herausgenommen hatte und auf dem Platz neben ihm sitzen ließ. Speedy landete auf einer Schildkrötenfarm in Apple Valley, Kalifornien, zusammen mit anderen großen, übersiedelten Yankee-Reptilien. Speedy hatte bald einen Freund, einen wohlhabenden Sulcata, der mit einem Privatjet von Sonoma eingeflogen worden war. Wir haben jedoch den Kontakt verloren.
Das genomische Vermächtnis der Riesenschildköte Lonesome George
Ein am 3. Dezember 2018 in dem Journal Nature Ecology & Evolution erschienener Artikel [1] erregte mein Interesse.
Es handelt sich dabei um eine von Forschern der Yale University, der University of Oviedo in Spanien, der Galapagos Conservancy und des Galapagos National Park Service stammende Untersuchung. Diese besagt: „Genome von Riesenschildkröten bieten Erkenntnisse zu Langlebigkeit und altersbedingten Erkrankungen“. Zentrale Figur der Untersuchung war Lonesome George, der berühmteste Bewohner der Galapagos-Inseln. Die Forscher verglichen das Genom von George mit dem der Aldabra-Riesenschildkröte (Aldabrachelys gigantea) des Indischen Ozeans und auch mit einigen Genen anderer Spezies, inklusive unserer eigenen.
Das Projekt hat insgesamt recht lang gedauert. 2010 fing Adalgisa Caccone (Yale University) mit den Sequenzierungen an und Carlos Lopez-Otin (Universität Oviedo) leitete die Datenanalyse, um nach Genvarianten zu suchen, die mit Langlebigkeit in Zusammenhang stehen.
Als Lonesome George 2012 starb, war er das letzte lebende Mitglied der Chelonoidis abingdonii. Er lebte auf der Insel Pinta und wog nach seinem Tod im Alter von etwa einem Jahrhundert 195 Pfund. Abbildung 1.
Abbildung 1. "Lonesome George", der letzte Vertreter der Pinta Riesenschildkröten (Chelonoidis abingdonii) wurde etwa 100 Jahre alt und starb 2012. Sein Genom eröffnet u.a. neue Wege für die Alternsforschung (Bild: Wikipedia, putneymark - originally posted to Flickr; cc-by-sa Lizenz)
Unter Berücksichtigung bekannter Mutationsraten zeigt der Vergleich spezifischer DNA-Sequenzen, dass der letzte gemeinsame Vorfahren der beiden Schildkrötenarten vor 40 Millionen Jahren lebte. Beide Arten trennten sich von der zum Menschen führenden Linie vor mehr als 300 Millionen Jahren. Die Ankunft von Menschen auf den Galapagos-Inseln beschleunigte den Rückgang der Populationen der Lonesome George-Nachkommen - die Matrosen an Bord der durch Darwin berühmt gewordenen Beagle sollen mindestens 30 Tiere verzehrt haben.
Evolution durch Positive Selektion
Die aktuelle Untersuchung [1] verwendet leider den Begriff "Evolutionsstrategien", gerade so als würden die Tiere darüber nachdenken, was genau zu tun ist oder nicht, um einen weiteren Tag fort zu existieren. Dies ist nicht die Art und Weise wie Evolution durch natürliche Auslese funktioniert. Um es korrekter auszudrücken: jene Individuen, die das Glück hatten, vernünftige, zur Fortpflanzung gut geeignete Genvarianten geerbt zu haben, hinterließen mehr Nachwuchs und ließen somit diese Gene fortbestehen.
Heute untersuchen Forscher die Evolution auf der Basis vorteilhafter, in den Genen verankerter Veränderungen. Insbesondere suchen sie nach Anzeichen einer „positiven Selektion“ - d.i. nach Aminosäuresequenzen in Proteinen, welche von Genen codiert werden, die sich von denen verwandter Spezies unterscheiden und mit einem Vorteil (einer Anpassung) verbunden sind.
Das Beispiel für eine positive Auswahl, das ich in meinem Lehrbuch für Humangenetik verwende, ist die Höhenanpassung der Eingeborenen des tibetischen Hochlands, die mehr als zwei Meilen über dem Meeresspiegel leben. Diese Hochländer haben eine Version eines Gens namens EPAS1 (Hypoxie-induzierbarer Faktor 2) sowie Varianten in zwei anderen Genen, mit denen sie in der dünnen Luft gedeihen können. Zu den Arten von adaptiven genetischen Veränderungen gehören
- das Ersetzen von Aminosäuren in den entsprechenden Proteinen,
- das Entfernen von Teilen von Genen und
- - einfacher - das Duplizieren von Schlüsselgenen. Das Kopieren von funktionierenden Genen ist ein dauerndes Thema in der Evolution.
Was zeigt uns das Genom von Lonesome George?
In der eben erschienenen Studie wurden 43 Gene in der Spezies des Lonesome George gefunden, die Hinweise auf eine „Riesenschildkröten-spezifische positive Selektion“ zeigen. Sie haben den Tieren ermöglicht ein Jahrhundert und länger zu leben, Infektionen und Verletzungen zu vermeiden oder leicht bekämpfen zu können und nie Krebs zu bekommen.
"Lonsome George erteilt uns immer noch Lektionen", sagte Algisia Caccone in einer Pressemitteilung.
Es ist nicht überraschend, dass die Schildkröte zahlreiche Gene für die schuppigen Keratinproteine besaß, die seine Hülle bildeten, und keine Gene für Zähne hatte. (Ich habe noch nie eine Schildkröte mit Zähnen gesehen.)
Zusätzliche Kopien für Gene des Immunsystems…
Im Vergleich zu Säugetieren ist im Genom des Lonesome George eine Fülle von 861 Genen vervielfältigt, welche für die Immunantwort sorgen. George hatte ein Dutzend Kopien des Gens für Perforin, dessen Proteinprodukt die Zellen von Krankheitserregern zerstört, und zusätzliche Granzyme, Enzyme, die Krankheitserreger abtöten. Andere Gene des Immunsystems, die in Lonesome Georges Genom überrepräsentiert sind, sind solche die spezifisch Viren, Bakterien, Pilze und Parasiten vernichten. Auch die Gene des Major Histocompatibility Complex (für die Immunerkennung codierende Gene; MHC) sind doppelt vorhanden.
…Varianten für metabolische Regulierung, DNA-Reparatur und Sauerstoff-Bindung…
Die Gene, die den Blutzucker und die Reparatur der DNA regulieren, unterscheiden sich von denen anderer Spezies. Lonesome George und seine Brüder besaßen die acht Arten von Globin-Molekülen - Sauerstoff bindenden und transportierenden Molekülen -, die allen Wirbeltieren gemeinsam sind, jedoch hatten sie Varianten, die sie vor sauerstoffarmen Bedingungen schützten. Es war dies eine Eigenschaft, die wahrscheinlich von ihren Wasserschildkröten Vorfahren weitergegeben wurde.
…Varianten für die Resistenz gegenüber Krebs…
Bei einem Screening gegen eine große Zahl bekannter Krebsgene zeigte das Genom von Lonesome George 5 Erweiterungen in Genen, die für Tumorsuppressorproteine kodieren; ihre Identität lässt auf eine Rolle in der Immunüberwachung schließen - ein Immunsystem, das Krebs aktiv bekämpfte. Die immunologische Ausstattung könnte dazu beitragen, das Paradoxon von Peto zu erklären, dass nämlich Krebs bei größeren Tierarten eine geringere Häufigkeit hat. Abbildung 2 unten (rote Punkte).
Abbildung 2. Genomische Basis für Langlebigkeit und Fehlen von Krebserkrankungen in Riesenschildkröten. Relevante Genvarianten; Punkte zeigen deren Anwesenheit in den verschiedenen Spezies. (Bild: Ausschnitt aus Fig.2. in [1] von der Redaktion eingefügt . cc-by-Lizenz.)
…Varianten, die gegen Proteinaggregation schützen…
Lonesome Georges Genom enthielt auch eine Enzymvariante, die auf einen möglichen Schutz gegen die Art von Proteinaggregation hinweist, welche der Parkinson-Krankheit und der Alzheimer-Krankheit zugrunde liegt. Es sind Varianten des Gens TDO2 (Tryptophan 2,3, Dioxygenase), die mit der Regulation der Alpha-Synuclein-Aggregation in Würmern zusammenhängen. Die Genvariante in Lonesome George hemmt das Tryptophan abbauende Enzym - dies bietet einen Schutz vor Proteinaggregation.
…Varianten, die in Zusammenhang mit Langlebigkeit stehen…
Besonders interessant war für mich die Untersuchung von Genen, die mit der Langlebigkeit anderer Arten in Zusammenhang stehen. "Wir hatten zuvor neun Merkmale der Alterung beschrieben. Nachdem wir auf Basis dieser Klassifizierung 500 Gene untersucht hatten, fanden wir interessante Varianten, die möglicherweise sechs dieser Merkmale bei Riesenschildkröten betreffen und damit neue Wege für die Alternsforschung eröffnen", sagte Dr. Lopez-Otin . Abbildung 2.
Lonesome George besaß ein halbes Dutzend alterungssassoziierte Gene mit einzigartigen Varianten, welche die Intaktheit des Genoms, die Reparatur der DNA-Reparatur (Basenexzision) und eine Resistenz gegen doppelsträngige DNA-Brüche fördern (was bedeutet, dass CRISPR wahrscheinlich nicht bei einer Riesenschildkröte funktionieren würde). Lonesome George gelang es auch, seine Chromosomenenden, seine Telomere, lang zu halten und die Uhr der biologischen Zellteilung zu verlangsamen. Außerdem weisen einzigartige Genvarianten auf eine überlegene Zell-Zell-Kommunikation, ein robustes Zytoskelett und auf Mitochondrien hin, die besonders gut zur Entgiftung geeignet sind.
Lonesome George hatte Varianten von Alterungsgenen mit dem Nacktmull gemeinsam, dem am längsten lebenden Nagetier (es kann bis zu 28 Jahre alt werden; Anm. Red,). Abbildung 3.
Abbildung 3. Der Nacktmull , das am längsten lebende Nagetier (Bild: Wikipedia, Roman Klementschitz, Wien cc-by-sa)
Darüber hinaus zeigt sein Genom eine positive Selektion in zwei Genen, welche für Biomarker einer Langlebigkeit des Menschen in Gesundheit kodieren (Alpha 2-HS Glycoprotein - AHSG - und Fibroblast Growth Factor 19 - FGF19 -, ein gastrointestinales Hormon).
Fazit der Forscher
"Lonesome George - der letzte Vertreter von C. abingdonii und ein wohlbekanntes Symbol für die Notlage bedrohter Arten - hat ein Vermächtnis hinterlassen, das die in seinem Genom niedergelegte Geschichte einschließt, deren Entzifferung gerade erst begonnen hat."
Speedy wäre stolz.
[1] Víctor Quesada et al., Giant tortoise genomes provide insights into longevity and age-related disease. Nature Ecology & Evolution 2018. https://doi.org/10.1038/s41559-018-0733-x open access; cc-by-Lizenz.
*Der Artikel ist erstmals am 6. Dezember 2018 in PLOS Blogs - DNA Science Blog unter dem Titel "Genome of Galapagos Gentle Giant Lonesome George Leaves Clues to Longevity"" erschienen (https://blogs.plos.org/dnascience/2018/12/06/genome-of-galapagos-gentle-giant-lonesome-george-leaves-clues-to-longevity/) und steht unter einer cc-by Lizenz. Die Autorin hat sich freundlicherweise mit der Übersetzung ihrer Artikel durch ScienceBlog.at einverstanden erklärt, welche so genau wie möglich den englischen Fassungen folgen. Von der Redaktion eingefügt wurde Abbildung 2, das einen Ausschnitt aus der Originalarbeit [1] zeigt.
Weiterführende Links
Riesenschildkröte "Lonesome George" gestorben. 2012, Video 0:20 min.
Preserving Lonesome George. American Museum of Natural History 2014. Video 4:34 min.
The Biggest Tortoise In the World | Big Pacific.2017. Video 6:03 min. Standard YouTube Lizenz
Nacktmull - ein Nager mit "Superkräften" | [w] wie wissen. ARD 26.03-2018. Video 6:11 min.
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