Do, 14.06.2018 - 08:34 — Inge Schuster
Die sogenannte Zweite Wiener Medizinische Schule - vom 19. Jahrhundert bis 1938 - erlangte hohes internationales Ansehen. Zu ihren hervorragendsten Forschern gehörte zweifellos der heute vor 150 Jahren geborene Immunologe Karl Landsteiner. Als er 1900 die Blutgruppen (das ABO-System) und später den Rhesusfaktor entdeckte, legte er damit den Grundstein für gefahrlose Bluttransfusionen, die seitdem jährlich das Leben von Millionen und Abermillionen Menschen retten.
Karl Landsteiner (Abbildung 1), geboren am 14. Juni 1868, stammte aus einer angesehenen, liberalen jüdischen Wiener Familie - sein Vater war der erste Chefredakteur der 1848 gegründeten Tageszeitung Die Presse. Landsteiner studierte Medizin an der Universität Wien und promovierte dort 1891. Er war ein begeisterter Experimentator und vor allem an der (Bio)Chemie interessiert, die medizinischen Phänomenen zugrundeliegt. So schloss er seinem Studium eine mehrere Jahre dauernde Ausbildung in den damals bedeutendsten chemischen Labors an. Er lernte in München bei Eugen Bamberger, der sich vor allem mit Mechanismen organischer Reaktionen befasste, in Zürich bei Arthur Hantzsch, der u.a. über heterozyklische Stickstoffverbindungen arbeitete und schließlich bei Emil Fischer in Würzburg, dem "Vater der klassischen organischen Chemie" und späteren Nobelpreisträger (Nobelpreis 1902).
Abbildung 1. Karl Landsteiner (14.6. 1868 - 26. 6.1943) um 1920 (Bild Wikipedia, gemeinfrei)
An der Universität Wien
Zurückgekehrt an die Wiener Universität war Landsteiner vorerst Assistent am Hygiene Institut und befasste sich mit serologischen Fragstellungen, wechselte aber 1898 an die Lehrkanzel für pathologische Anatomie, wo unter Leitung von Anton Weichselbaum vor allem mikrobiologische Fragen im Vordergrund standen. Landsteiner arbeitete dort bis 1908 als Prosektor, konnte sich aber auch ein Labor einrichten, in dem er sich mit immunologischen Fragestellungen befasste. Er entschlüsselte wesentliche Fakten u.a. zur Syphilis und ihrer Serodiagnostik, zur Natur von Antikörpern und Antigenen (von ihm stammt auch der Begriff Haptene für partielle Antigene, die einen Träger brauchen, um eine Immunreaktion auszulösen), zu Ursache und Immunologie der Poliomyelitis, u.a.m.
Entdeckung der Blutgruppen
Die bahnbrechendste Entdeckung betraf zweifellos die Aufklärung der Ursachen der Blutagglutination, d.i. des Zusammenklumpens der roten Blutkörperchen (Erythrocyten) und der Freisetzung von Hämoglobin, wenn Bluttransfusionen von einem ungeeigneten Spender erfolgten. In einer 1900 publizierten Arbeit hatte Landsteiner beobachtet, dass die Globulin-Fraktion aus Rinderserum viel stärker agglutinierend auf die Erythrozyten eines Meerschweinchens wirkte als die Globulin-abgereicherte Fraktion. In einer berühmten Fußnote erwähnte er erstmals die unterschiedlich agglutinierende Wirkung von Sera gesunder Menschen auf Erythrozyten anderer Individuen. Abbildung 2.
Abbildung 2. Karl Landsteiner: Zur Kenntnis der antifermentativen, lytischen und agglutinierenden Wirkungen des Blutserums und der Lymphe. Centralblatt fur Bakteriologie, Parasitenkunde und Infektionskrankheiten, vol. 27, pp. 357-362 1900.
1901 erklärte er dann in der Publikation „Agglutinationserscheinungen normalen menschlichen Blutes“ die individuellen Unterschiede mit der Existenz von Blutgruppen, die er A, B und C nannte (1902 wurde die Gruppe AB gefunden) - daraus wurde dann später das international gültige AB0-System. Landsteiner hatte Blut von sich und 5 Mitarbeitern genommen und wechselweise die unterschiedlichen Erythrozytenproben mit den einzelnen Sera versetzt und auf Agglutinierung untersucht (Abbildung 3, oben). Die einzelnen Gruppen unterschieden sich durch ein Set von Molekülen (Glykoproteinen /Glykolipiden) - Antigenen - an der Oberfläche der Erythrozyten, die mit Agglutininen (Antikörpern) im Serum eines anderen Individuums reagieren oder nicht reagieren konnten. Landsteiner beschreibt:
„In einer Anzahl von Fällen (Gruppe A) reagiert das Serum auf die Körperchen einer anderen Gruppe (B), nicht aber auf die der Gruppe A, während wieder die Körperchen A vom Serum B in gleicher Weise beeinflusst werden. In der dritten Gruppe (C) agglutinirt das Serum die Körperchen von A und B, während die Körperchen C durch die Sera von A und B nicht beeinflusst werden. Man kann der üblichen Ausdrucksweise zufolge sagen, dass in diesen Fällen zumindestens zwei verschiedene Arten von Agglutininen vorhanden sind, die einen in A, die anderen in B, beide zusammen in C. die Körperchen sind für die Agglutinine, die sich im selben Serum befinden, naturgemäss als unempfindlich anzusehen".
Im Serum eines Individuums fehlt also jenes Agglutinin, das gegen die eigene Blutgruppe gerichtet ist (Landsteiner‘sche Regel). Eine schematische Darstellung des AB0-Systems ist in Abbildung 3 unten aufgezeigt.
Abbildung 3. Landsteiner's Entdeckung der Blutgruppen. Oben: die Versuchsanordnung in der Publikation: K. Landsteiner (1901) „Agglutinationserscheinungen normalen menschlichenBlutes“ (Quelle: https://bit.ly/2sAePQ7, frei zugänglich). Unten: Das AB0-System: Serum der Gruppe A enthält Antikörper gegen Antigene der Gruppe B und umgekehrt. Gruppe AB weist beide Antigentypen auf und das Serum enthält keine Antikörper - AB-Individuen können demnach Blut von allen Gruppen empfangen. Gruppe 0 hat keine Antigene auf den Erythrozyten, kann daher allen anderen Typen gespendet werden. (Bild modifiziert nachWikipedia, gemeinfrei).
In der Folge habilitierte sich Landsteiner und wurde 1911 zum a.o. Professor der pathologischen Anatomie ernannt (allerdings ohne Besoldung). Ab 1908 leitete er bis zum Zusammenbruch der k.u.k Monarchie die Prosektur am Wiener Wilheminenspital.
Landsteiner verlässt Österreich
Um seine Familie vor den tristen wirtschaftlichen Nachkriegsverhältnissen zu bewahren, nahm Landsteiner dann eine Stelle als Prosektor in einem kleinen Spital in Den Haag an. Schließlich erhielt er im Jahr 1923 ein Angebot des Rockefeller Institute for Medical Research in New York auf Lebensdauer dort seine Forschungen fortsetzen zu können. Es wurde eine sehr aktive und fruchtbare Zeit. Landsteiner entdeckte weitere erbliche Blutfaktoren und schließlich 1940 gemeinsam mit seinem Mitarbeiter Alexander S. Wiener, ein Hauptantigen, den sogenannten Rhesusfaktor (benannt nach dem Versuchstier, dem Rhesusaffen).
Landsteiner war bis zu seinem Tod aktiv; im Alter von 75 Jahren erlitt er im Labor – wie es heißt: mit der Pipette in der Hand – einen tödlichen Herzanfall.
Landsteiners Entdeckungen hatten die Basis für ungefährliche Bluttransfusionen geschaffen und damit die Chirurgie und die Behandlung von Verletzten revolutioniert. Mit den von ihm entwickelten Verfahren zur Typisierung der Blutgruppen wurde 1907 die erste Transfusion (am Mount Sinai Hospital in New York) durchgeführt und hat dann im Ersten Weltkrieg zahllose Leben gerettet. Für seine Verdienste wurde Landsteiner 1930 mit dem Nobelpreis für Physiologie oder Medizin ausgezeichnet. Unzählige Ehrungen erfolgten weltweit. In Österreich allerdings erst lange nach seinem Ableben.
Transdisziplinärer Wissenschafter
Landsteiner war Mediziner, Immunologe und ebenso Naturwissenschafter. Die Chemie, die bereits in seiner Jugend eine wesentliche Rolle spielte, ist auch in seinen späteren Arbeiten essentiell. Fragen nach der chemischen Struktur, nach der Spezifität von Wechselwirkungen, nach dem Mechanismus (bio)chemischer Reaktionen bestimmen seine Abhandlungen. Als Beispiel sei hier sein 1933 erschienenes Buch "Die Spezifität der serologischen Reaktionen" angeführt, das als ein Klassiker der immunologischen Literatur gilt. Das Inhaltsverzeichnis zeigt klar die chemische"Grundnote". Abbildung 4.
Abbildung 4. Karl Landsteiner (1933): Die Spezifität serologischer Reaktionen. Springer Verl.Berlin. Digitalisiert 2017 durch das Internet Archiv, unterstützt durch Wellcome Library. https://ia800805.us.archive.org/28/items/b29808790/b29808790.pdf (open access)
Es ist ein auch für Laien durchaus lesenswertes Buch. Eine Leseprobe aus den "Einleitenden Bemerkungen" (p, 4 - p.6) soll dies veranschaulichen.
Leseprobe
"Die morphologischen Eigentümlichkeiten der Tier- und Pflanzenarten sind der Hauptgegenstand der beschreibenden Naturwissenschaften sowie der Schlüssel ihrer Systematik. Erst die letzten Dezennien brachten die Erkenntnis, dass, wie im Reiche der Krystalle, auch bei den Lebewesen Unterschiede des chemischen Baues den Unterschieden der Gestaltung parallel laufen. Dieses Resultat wurde auf einem Umwege gefunden, nicht als das Ergebnis einer daraufhin gerichteten Untersuchung.
Den Anstoß gab die bekanntlich zuerst von Jenner bei Blattern praktisch verwendete Erfahrung, dass das Überstehen einer Infektionskrankheit öfters eine Immunität hinterlässt, die sich auf die betreffende Erkrankung beschränkt. Das Suchen nach der Ursache der merkwürdigen Erscheinung führte zur Auffindung eigenartiger Stoffe im Blutserum, der sogenannten Antikörper, die zum Teil als Schutzstoffe fungieren und außer infolge von Infektionen auch nach Injektion gewisser von Bakterien, höheren Pflanzen und Tieren stammender hochmolekularer Gifte (Toxine) und abgetöteter Bakterien gebildet werden. Eine neue Ara serologischer Forschung begann mit der in erster Linie Bordet zu verdankenden Entdeckung, dass die Immunisierung gegen Mikrobien und Toxine nur ein besonderer Fall einer allgemeinen Gesetzmäßigkeit ist, und derselbe Mechanismus zur Wirkung kommt, wenn Tieren organische Materialien, die keine ausgesprochen schädliche Wirkung haben, wie artfremde Eiweißkörper oder Zellen, injiziert werden. Es entstehen auch dann Antikörper, welche die Zellen zusammenballen (Agglutinine) oder zerstören (Lysine) und die Eiweißkörper fällen (Präcipitine). Allen diesen Antikörpern ist die Eigenschaft der Spezifizität gemeinsam, d. i. einer Wirkung, die sich auf die für die Immunisierung benützten oder ihnen ähnliche Substanzen beschränkt, z. B. auf bestimmte Bakterien oder Blutkörperchen einer Spezies und der nahe verwandten Arten.
So war durch die Entdeckung der Präcipitine eine allgemeine Methode gefunden, Proteine zu differenzieren, die mit den zur Verfügung stehenden chemischen Verfahren nur schwierig oder nicht zu unterscheiden waren, und es zeigte sich, dass jede Art von Tieren und Pflanzen besondere und für die Spezies charakteristische Eiweißkörper besitzt.
Die Spezifizität der Antikörper, deren Wirkungsbereich, wie man jetzt weiß, weit über die Klasse der Proteine hinausreicht und auch einfach gebaute chemische Substanzen umfasst, ist die Grundlage der Erfolge der Serologie und neben der Frage der Antikörperbildung in theoretischer Beziehung ihr hauptsächlichstes Problem. Zum vollen Verständnis der spezifischen Serumreaktionen reichen die gegenwärtigen chemischen Theorien nicht aus, und man war bisher nicht im Stande, die serologischen Spezifizitätserscheinungen in Modellversuchen mit bekannten Substanzen nachzuahmen. Es handelt sich hier um ein besonderes Gebiet der Chemie, in das wahrscheinlich viele wichtige biochemische Reaktionen einzureihen sind. Als solche sind in erster Linie die Fermentwirkungen sowie die pharmakologischen und chemotherapeutischen Effekte zu nennen. Auf auslösende Vorgänge verwandter Art weist vielleicht die feine Differenzierung der durch chemische Reize angeregten Geschmacks- und Geruchsempfindungen hin.
Die Bezeichnung "Spezifizität" wird häufig benützt um auszudrücken, dass ein bestimmtes Immunserum nur auf eine, unter einer Anzahl biologisch ähnlicher Substanzen einwirkt, z. B. Tetanusantitoxin auf kein anderes als das von Tetanusbacillen produzierte Toxin. In Wirklichkeit ist, wie schon angedeutet, die Elektivität in der Regel nicht absolut, wenn Stoffe verwandter Herkunft mit einem Immunserum geprüft werden. Man spricht dann von Spezifizität in dem Sinne, dass die Reaktion mit einer der geprüften Substanzen, nämlich der zur Immunisierung verwendeten, dem sogenannten homologen Antigen, stärker ist als mit allen anderen. Auch diese Begriffsbestimmung ist aber zu enge, da sie eine Reihe von Erscheinungen nicht umfasst, die mit den Serumreaktionen in allen wesentlichen Punkten übereinstimmen."
Weiterführende Links
Blutgruppen - Karl Landsteiner - Meilensteine der Naturwissenschaft und Technik (Video 14:42 min. Standard YouTube Lizenz)
Biographie Karl Landsteiner Nobelpreis (1930)
Karl Landsteiner: On individual differences in human blood, Nobel Lecture (PDF-Download)
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