Der Zustand der österreichischen Chemie im Vormärz

Do, 08.03.2018 - 09:54 — Robert W. Rosner Robert W. RosnerIcon Wissenschaftsgeschichte

Vor 170 Jahren beendete die bürgerliche Revolution den Vormärz, eine von Zensur geprägte Zeit der Restauration, die im Rückzug ins Privatleben und in der kulturellen Blütezeit des Biedermeier ihren Niederschlag fand. Die Chemie hatte damals, wie eigentlich von jeher, in Österreich einen nur sehr niedrigen Stellenwert. Über lange Zeit Anhängsel der Medizin, wurde die Chemie von inkompetenten Vertretern dieses Fachs repräsentiert und ein Versuch im Vormärz den damals bereits berühmten Chemiker Justus Liebig nach Wien zu holen, schlug fehl. Der Chemiker und Wissenschaftshistoriker Robert Rosner gibt einen Einblick in diese Epoche.

»Der Grundsatz der Nützlichkeit, der nach Zwecken fragt, ist der offene Feind ·der Wissenschaft, die nach Gründen sucht«. Justus Liebig

Am Anfang des 19. Jahrhunderts

wurde die Chemie als Hilfswissenschaft der Medizin betrachtet und an der Universität ausschließlich an der medizinAC ischen Fakultät unterrichtet, wobei es einen gemeinsamen Lehrstuhl für Chemie und Botanik gab und eine einsemestrige Pflichtvorlesung in Chemie. Jeder, der ein Doktorat anstrebte, musste ein vollständiges Medizinstudium absolvieren und Professoren der Medizin nahmen die Prüfungen ab.

Unter dem Eindruck der raschen Entwicklung von Chemie und chemischer Industrie entstanden dann auch im Habsburgerreich neue Einrichtungen.

Abbildung 1. Freiherr Andreas Joseph von Stifft (1760 - 1836), Leibarzt des Kaisers und sehr einflussreicher konservativer Politiker, aber auch naturwissenschaftlicher Reformator und über viele Jahre Rektor der Universität Wien. Eine Büste Stiffts steht im Arkadenhof der Wiener Universität. (Bild: Lithographie von Andreas Staub (1806 - 1839; gemeinfrei).

Andreas von Stifft (Abbildung 1) - Leibarzt des Kaisers und damit einer seiner engsten Vertrauten und ein sehr einflussreicher konservativer Politiker - hatte die Bedeutung der Chemie für die Medizin und das Gewerbe erkannt. In einem Vortrag vor dem Kaiser sagte er:

"Die Chemie hat in der neuesten Zeit größere Fortschritte als irgend eine andere Wissenschaft gemacht und solche Erweiterungen erlangt, dass es unmöglich ist einen entsprechenden Unterricht in nur einem Semester zu erteilen. Es muss bei dem Vortrag der Chemie, die auf alle Kunst- und Gewerbezweige so einen Einfluss hat und daher auch von Menschen aller Klassen besucht wird, dafür gesorgt werden, damit nicht nur der ärztlichen Bildung sondern auch den Bedürfnissen der übrigen Zuhörer nach Möglichkeit genüge geleistet werde."

Tatsächlich wurden dann der Chemieunterricht und der Unterricht an den medizinischen Universitäten erweitert und auch an den kleinen chirurgischen Schulen und an der Artillerieschule eingeführt. An den neu gegründeten Polytechnischen Instituten in Wien, Graz und Prag wurden Lehrkanzeln für Chemie eingerichtet. Das Wiener Polytechnische Institut wurde großzügig ausgestattet; allerdings hieß es im Programm:

"Es soll nicht die Pflege der Wissenschaft an und für sich zum Gegenstand haben, sondern die Methode kann nur eine solche sein, bei welcher der wissenschaftliche Unterricht nur als das notwendige Mittel zur sicheren Ausübung der hier gehörigen Geschäfte des bürgerlichen Lebens erscheint."

Geistige Strömungen wurden damals aus Furcht vor revolutionären Ideen unterdrückt. Forschung - sofern diese überhaupt stattfand - blieb ausschließlich auf die Lösung praktischer Probleme beschränkt und fand keinen Anschluss an die rasche Entwicklung der organischen Chemie in Frankreich und Deutschland. Wie der Naturforscher Karl von Reichenbach berichtete, soll Kaiser Franz I. ja gesagt haben "Wir brauchen keine Gelehrten".

Ein Artikel von Justus Liebig

Nach dem Tod von Kaiser Franz I (1835) begann sich die Situation langsam zu bessern. Auslösende Momente dazu waren ein Artikel von Justus Liebig (Abbildung 2), einem der führenden Chemiker dieser Zeit und Bemühungen des Finanzministers, Graf Kolowrat, junge Wissenschafter zu fördern.

Abbildung 2. Justus von Liebig (1803 - 1873) um 1846. (Ausschnitt aus einem Gemälde von Wilhelm Trautschold um 1846. Das Bild ist gemeinfrei; https://en.wikipedia.org/wiki/Justus_von_Liebig#/media/File:Justus_von_Liebig_by_Trautschold.jpg)

"Der Zustand der Chemie in Österreich" - unter diesem Titel hatte der deutsche Chemiker Justus Liebig (1803 - 1873) im Jahr 1838 einen Artikel veröffentlicht [1], der mit den Worten beginnt:

"Man wird es gewiss als eine der auffallendsten Erscheinungen unserer Zeit betrachten müssen, dass ein großes reiches Land, in welchem die Industrie und alle Wissenschaften, die mit ihr zusammenhängen, von einer erleuchteten Regierung gepflegt und gestützt werden, dass dieses Land an allen Fortschritten, welche die Chemie, die wahre Mutter aller Industrie, seit 20 Jahren und länger gemacht hat, nicht den allergeringsten Anteil nahm; es hat keinen Mann hervorgebracht, welcher sie mit einer einzigen Tatsache bereicherte, die nützlich gewesen wäre für unsere Forschungen oder für unsere Anwendungen. Diese Erscheinung scheint um so unbegreiflicher, insofern man sieht, dass gediegene Mathematiker und treffliche Physiker, dass ausgezeichnete Naturforscher jeder Art, nur keine Chemiker sich dort gebildet haben. "

Liebig war damals schon weithin berühmt

- im Alter von 21 Jahren bereits Professor für Chemie an der Universität Gießen, spielte er eine prominente Rolle in der Entwicklung der organischen Chemie. Liebig hatte die analytischen Methoden wesentlich vereinfacht und verbessert und auch ein neues Studiensystem eingeführt, bei dem die Studenten praktische Erfahrungen sammelten. (Abbildung 3). Der österreichische Chemiker Anton von Schrötter beschreibt die Bedeutung dieser Einrichtung in seiner 1873 gehaltenen Denkrede [2]:

"Das kleine Gießen wurde bald das Mekka Aller, die sich der Chemie widmen wollten, und Viele, die bereits eine Stellung in diesem Fach innehatten, pilgerten dahin, um vom Meister zu lernen, Das neue, an einem gut gelegenen Orte erbaute Laboratorium wurde bald ein Tempel der Wissenschaft, in welchem das Experiment an Stelle des Glaubens trat."

Abbildung 3. Das Mekka der Chemie - Laboratorium von Justus Liebig um 1840. Illustration von Wilhelm Trautschold (1815 - 1877). Das Bild ist gemeinfrei.

"Es sind die Lehrer der Chemie schuld,

welche keine Chemiker sind." so lautete Liebigs Erklärung, warum es in Österreich keine guten Chemiker gäbe [1]. Zu diesen schlechten Lehrern zählte er vor allem Paul Meissner und Adolf Pleischl. Diese beiden Chemieprofessoren waren von Freiherr von Stifft protegiert worden. Abbildung 4

Abbildung 4. Paul Meissner und Adolf Pleischl haben nach Ansicht von Justus Liebig unserem Land sehr geschadet. Lithographien: links von Josef Kriehuber 1845 ; rechts von August Prinzhofer 1846 (beide Bilder sind gemeinfrei).

Über Meissner schreibt Liebig [1]:

"…an dem wichtigsten und einflussreichsten Institute sehen wir einen Mann, von dem man mit Wahrheit sagen kann, dass er seinem Land unendlich geschadet hat... Er zeigt uns nicht den Stand der Wissenschaft, was sie leistet und geleistet hat...alle herrlichen Entdeckungen verkrüppeln in seiner Darstellung. Man nehme einen jungen Mann, der sich unter Meissner gebildet hat ..Von der eigentlichen Chemie hat er nichts erfahren, denn die Zeit wurde verschwendet um ihm Meissner'sche Meinungen beizubringen."

Wer war Paul Meissner?

Paul Traugott Meissner (1778 - 1864) war Pharmazeut und chemischer Autodidakt. Auf Empfehlung von Andreas von Stifft, erhielt Meissner bald nach der Gründung des Polytechnischen Instituts im Jahr 1815 eine Stelle als Professor für Spezielle Technische Chemie und später für Allgemeine Chemie. Das Polytechnische Institut war der Vorläufer der Wiener Technischen Universität, der Meissner'sche Lehrstuhl war der Lehre praktischer Gegenstände wie z.B. Gärungslehre, Seifensiederei, Färberei etc. gewidmet

Meissner war bei seinen Studenten beliebt und verlangte von diesen, dass sie sich streng an seine Ideen hielten. Er war ein äußerst fleißiger Mann, verfasste u.a. ein zehnbändiges Handbuch der Allgemeinen und Technischen Chemie, Bücher über Dichtemessungen, über Zentralheizungen, über pharmazeutische Apparate und über Operationen und nahm zu medizinischen Problemen Stellung. In vielen Fällen vertrat er aber Auffassungen, die in krassem Widerspruch zu den damals bereits bekannten Tatsachen standen. So veröffentlichte er in einem dreibändigen Werk, "Neues System der Chemie", seine Vorstellungen von der stofflichen Natur der "Imponderabilien" d.h von der Wärme, dem Licht, der Elektrizität und dem Magnetismus. Der Wärmestoff - Aräon - war demnach ein gewichtsloses Element, das in allen anderen Stoffen in chemischen Verbindungen und auch den Elementen vorhanden war und von der Menge Aräon in einem Stoff sollte dessen Aggregatzustand abhängen:

"So sind alle thermischen Erscheinungen, also das Schmelzen, das Verdampfen, das Kondensieren oder Kristallisieren, die Wärmeleitung, Mischungswärme etc. ein Ergebnis von Zunahme, Abnahmen, Verdichtung oder Entweichen von Aräon. Magnetismus ist ein Sauerstoff aräoid, ebenso die Elektrizität aber mit einem höheren Aräongehalt und auch das Licht ein Sauerstoffaräoid mit einem noch viel höheren Gehalt an Aräon."

Ein anderes Beispiel war seine Vorstellung von der Salzsäure: von ihm mit dem alten Ausdruck Muriumsäure bezeichnet, setzte sich diese aus 41.63 % Murium und 58.37 % Sauerstoff zusammen und das elementare Chlor wäre eine sechsfach oxidierte Muriumsäure.

Es ist klar, daß Liebig einen Chemiker, der derartige Theorien vertrat als keinen ernst zu nehmenden Wissenschaftler betrachtete. Meissner reagierte erst 1844 auf die - wie er sagte -"unerhörten und unaufhörlich sich wiederholenden Misshandlungen seiner Ehre" mit einer 165 Seiten langen Schmähschriift "Justus Liebig, Dr. der Medicin und Philosophie analysirt von P.T. Meißner" [3]. Abbildung 5.

Abbildung 5. Meissner wehrt sich in einer 165 Seiten langen Schmähschrift:"weil Liebig nicht jene Geistesgaben und wissenschaftlichen Einsichten besitzt, die ihn auf irgendeine Weise zum kompetenten Beurtheiler der wissenschaftlichen Leistungen Anderer befähigen und berechtigen könnten". Meissners Argumente, mit denen er Liebig zu widerlegen versuchte, stehen in krassem Widerspruch zu den damals bereits bekannten Tatsachen und bestätigen damit Liebigs Meinung über den traurigen Zustand der österreichischen Chemie (Quelle: Justus Liebig, Dr. der Medicin und Philosophie analysirt von P.T. Meißner; [3].)

Aber auch über andere österreichische Chemieprofessoren, wie beispielsweise Adolf Pleischl (Abbildung 4), der zu der Zeit noch in Prag unterrichtete aber bereits eine Berufung nach Wien hatte, oder über Franz Hlubek, den Professor für Landwirtschaft am Joanneum in Graz, hatte Liebig keine schmeichelhafte Meinung (Hlubek nahm an, dass der Kohlenstoff der Pflanzen aus dem Boden aufgenommen würde).

Adolf Pleischl,

war ebenfalls ein Protegé des Freiherrn von Stifft. Er hatte sich viel mit Wasseranalysen und Lebensmitteluntersuchungen beschäftigt und besonders Untersuchungen über die Beschaffenheit des Brotmehls gemacht. Seine Geisteshaltung zu Fragen der organischen Chemie zeigt sich in seiner Antwort auf Liebig: Da wies er darauf hin, dass er gezeigt hatte wie man aus schlechtem, verdorbenen Mehl ein gutes Brot machen kann und sagte, dass er damit dem Menschengeschlechte einen bleibenderen Wert gegeben habe, als so manche Abhandlung über eine -al, -yl,-am,-in,-oder -on Verbindung. In Verteidigung von Meissner wies Pleischl auf dessen Leistung bei der Einrichtung einer Zentralheizung in der Hofburg hin und sagte dass dort die ergrauten und treuen Diener und Ratgeber des Staates in Bequemlichkeit herumwandeln können und dass das viel bedeutender sei, als wenn er in irgend einem fetten Öle 1 % mehr oder weniger Wasserstoff gefunden hätte.

Auswirkungen von Liebigs Kritik

Liebig war in seinen Polemiken immer sehr aggressiv. Aber da war doch die Frage ob es nicht doch einen wahren Kern bei dieser Darstellung der Zustände der Chemie in Österreich gäbe - diese Auffassung wurde auch von einigen österreichischen Naturwissenschaftlern geteilt.

So kam es zu Bemühungen, Liebig für Wien zu gewinnen. Daran waren der Finanzminister Graf Franz A. Kolowrat und der Physiker Andreas von Ettinghausen beteiligt. Adolf Kohut (1848 -1917), der Biograph Justus Liebigs schreibt [4]:

"Der Artikel über Österreich bewirkte, dass Liebig unter äußerst günstigen Bedingungen einen Ruf als Ordinarius der Chemie in Wien erhielt. Dieser Einladung der österreichischen Regierung folgend reiste er behufs mündlicher Besprechung nach der österreichischen Kaiserstadt und zwar mit seinem Intimus Wöhler (Friedrich Wöhler war ein bekannter Chemiker, Professor in Göttingen; Anm. Redn.) ...doch lehnte er den so ehrenvollen Antrag ab, obschon Wöhler diesen Schritt bedauerte und es sehr beklagte, dass Liebig die großen Mittel verschmähte, die ihm zur glorreichen Förderung der Wissenschaften geboten wurden. Mit ihm würde ja eine neue Epoche der Chemie beginnen."

Liebig lehnte also ab nach Wien zu kommen. Seine Kritik hatte aber noch weitere Auswirkungen und im Jahre 1845 wurde Meissner nahe gelegt in die Frühpension zu gehen als Vorwand, wurde die oben genannte Schmähschrift [3] genannt, die er an der Zensur vorbei veröffentlicht hatte) .

Graf Franz A. Kolowrat, Präsident der Böhmischen Gesellschaft der Wissenschaften und ab 1836 Finanzminister, hat dann eine wichtige Weichenstellung für die Entwicklung der österreichischen Chemie geleistet: der junge Chemiker Josef Redtenbacher erhielt 1840 die Möglichkeit auf 18 Monate zu Liebig nach Gießen zu fahren, dann den Lehrstuhl für Chemie in Prag zu übernehmen und 1849 die Lehrkanzel für Chemie in Wien einzurichten, nachdem Pleischl nach 1848 in die Frühpension geschickt wurde.

Mit Redtenbacher begann erstmals eine systematische Beschäftigung mit der organischen Chemie in Österreich, einer Disziplin, die in den folgenden 100 Jahren das meiste Interesse erweckte und wirtschaftlich große Bedeutung erlangte.

Allerdings: gegenüber den Entwicklungen in Deutschland, England und Frankreich hatte Österreich den Anschluss an eine moderne Chemie erst mit einer Verspätung von 20-30 Jahren gefunden.


[1] Justus Liebig: Der Zustand der Chemie in Oestreich. Ann. Pharmacie, 25 (1838) 339 - 34  http://bit.ly/2Fn2rGd 

[2] Anton von Schrötter: Justus von Liebig Eine Denkredegehalten bei der feierlichen Sitzung der k. Akademie der Wissenschaften am 30. Mai 1873. http://reader.digitale-sammlungen.de/de/fs1/object/display/bsb11157686_0...

[3] Meissner, P. T: Justus Liebig, Dr. der Medicin und Philosophie, analysirt von P. T. Meissner Autor / Hrsg.: Meissner, P. T. (Frankfurt a. M., 1844, Sauerländer Verlag). http://reader.digitale-sammlungen.de/de/fs1/object/display/bsb10073402_0... 

[4] Adolf Kohut (1847 - 1917): Justus von Liebig : sein Leben und Wirken auf Grund der besten und zuverlässigsten Quellen geschildert (1904). https://ia800607.us.archive.org/27/items/b2898304x/b2898304x.pdf


Weiterführende Links:

Robert W. Rosner: Chemie in Österreich 1740-1914 Lehre, Forschung, Industrie (2004) 359 S. Böhlau Verlag (Leseproben: http://bit.ly/2Ai05FX)

Justus Liebig's und Friedrich Wöhler's Briefwechsel in den Jahren 1829-1873 https://archive.org/details/ausjustusliebig00whgoog (frei zugänglich)

Historische Stätten der Chemie: Justus von Liebig , GDCH (Gießen, 2003): https://www.gdch.de/fileadmin/downloads/GDCh/historische_staetten/liebig... (frei zugänglich)

Inge Schuster, 22.06.2017: Der naturwissenschaftliche Unterricht an unseren Schulen. http://scienceblog.at/der-naturwissenschaftliche-unterricht-unseren-schulen.