Die Zukunft der evolutionären Medizin

Do 20.04.2023  — Redaktion

Redaktion

Icon Medizin Evolutionäre Medizin - d. h. die Anwendung von Erkenntnissen aus Evolution und Ökologie auf die Biomedizin - birgt ein enormes bislang ungenutztes Potenzial für Innovationen in der biomedizinischen Forschung, der klinischen Versorgung und der öffentlichen Gesundheit. Evolutionsprozesse sind die treibende Kraft hinter vielen Gefährdungen unserer Gesundheit; diese reichen von der Resistenz gegen Antibiotika und Tumortherapeutika über Pandemien bis hin zu "anthropozänbedingten" Krankheiten wie Adipositas, Typ 2 Diabetes, Allergien, etc. . Ein neuer in Frontiers in Science veröffentlichter Artikel zeigt, wie die Anwendung evolutionärer Prinzipien auf die Medizin neue Wege zur Vorbeugung und Behandlung von Krankheiten eröffnen kann.*

Mit evolutionären Prinzipien die Biomedizin und das Gesundheitswesen verändern

Die evolutionäre Medizin verfügt über ein enormes - und noch nicht verwirklichtes - Potenzial zur Verbesserung von Gesundheit und Wohlbefinden der Menschen, indem sie neue biomedizinische Therapien und wirksame Maßnahmen im Bereich der öffentlichen Gesundheit ermöglicht. In einer neuen Veröffentlichung im Fachjournal Frontiers in Science [1] skizziert ein breit aufgestelltes internationales Team aus den US, dem UK und Neuseeland eine Forschungsagenda für die künftige evolutionäre Medizin, wobei der Fokus auf folgenden Anwendungen liegt:

  • Tierarten zu finden, die von Natur aus resistent gegen menschliche Krankheiten sind, und diese Mechanismen in neue klinische Behandlungen umzusetzen
  • Arzneimittelresistenzen bei Infektionskrankheiten und Krebs zu überwinden
  • die Gesundheitspolitik darüber zu instruieren, wie Krankheiten wirksam bekämpft werden können, die aus der Diskrepanz zwischen den Ökologien, in denen wir uns entwickelt haben, und der heutigen Welt resultieren
  • das Management von Pandemien zu verbessern
  • menschlichen Widerstand gegen gesundheitsfördernde Verhaltensweisen zu überwinden.

Abbildung 1. Evolutionäre Medizin basierend auf den Prinzipien der Evolution und der Ökologie. (Bild von Redn. leicht modifiziert. Quelle: B. Natterson-Horowitz et al.,2023, [1]; Lizenz cc-by)

Was ist evolutionäre Medizin?

Die evolutionäre Medizin wendet die Erkenntnisse aus Ökologie und Evolution an, um biomedizinische Forschung, Maßnahmen des öffentlichen Gesundheitswesens und klinische Versorgung zu instruieren, zu steuern und zu verbessern. Abbildung 1.

Mit der Anwendung einer evolutionären Perspektive könnten viele kritische gesundheitliche Herausforderungen bewältigt werden. Dazu zählen die Krise der Antibiotikaresistenz, die Chemotherapieresistenz bei Krebserkrankungen, moderne Gesundheitsprobleme wie Fettleibigkeit, Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen - und sogar die Resistenz von Menschen gegenüber Gesundheitsratschlägen. Dieser Ansatz wird auch für die Identifizierung neu auftretender Krankheitserreger und die Bewältigung künftiger Epidemien und Pandemien von entscheidender Bedeutung sein.

Wie kann die evolutionäre Vielfalt biomedizinische Therapien inspirieren?

Die traditionelle biomedizinische Forschung nutzt die Ähnlichkeiten zwischen Menschen und anderen Tieren, um Krankheitsmechanismen aufzudecken und Therapien zu entwickeln. Aber die Evolutionsmedizin lässt sich auch von unseren Unterschieden inspirieren. So erkranken Elefanten beispielsweise nur selten an Krebs, während Nacktmulle von Natur aus resistent gegen altersbedingte Krankheiten sind und daher ungewöhnlich lange und gesund leben. In der riesigen Vielfalt des Lebens auf der Erde gibt es wahrscheinlich noch unzählige andere Mechanismen zur Krankheitsresistenz. Wir müssen diese systematisch aufspüren, ihre physiologischen Grundlagen aufdecken und diese Erkenntnisse in neue klinische Behandlungen umsetzen. Abbildung 2.

Abbildung 2. Die Identifizierung von Tierarten und ihrer besonderen Physiologie, welche die Anfälligkeit für Krankheiten einschränkt, kann die biomedizinische Innovation beschleunigen. Ein systematischer Ansatz ist erforderlich, um eine umfassende phylogenetische Karte der Anfälligkeit und Resistenz gegenüber Krankheiten zu erstellen.(Bild von Redn. leicht modifiziert. Quelle: B. Natterson-Horowitz et al.,2023, [1]; Lizenz cc-by)

Wie können evolutionäre Prinzipien neue Krebsbehandlungen inspirieren?

Viele Krebstherapien zielen darauf ab, Tumore mit hochdosierten Krebsmedikamenten zu eliminieren. Wenn die Behandlung dann nicht mehr wirksam ist, wird sie durch eine andere und möglicherweise durch noch weitere Behandlungen ersetzt. Auch wenn dies erfolgreich sein kann, gibt es zwei entscheidende Nachteile: die Entwicklung von Arzneimittelresistenzen in Krebszellen und die Toxizität für normale Zellen. Die evolutionäre Medizin kann diese Hürden überwinden, indem sie Behandlungen entwickelt, welche die Entwicklung der Krebszellen berücksichtigen. Beispielsweise:

  • Die Extinktionstherapie sieht eine hohe Dosis eines Medikaments vor, um den Tumor zu verkleinern, gefolgt von einem anderen Medikament, um die verbleibenden Krebszellen abzutöten, bevor sie eine Chemotherapieresistenz entwickeln.
  • Die adaptive Therapie zielt darauf ab, die Tumorgröße stabil zu halten, während die Krebszellen für die medikamentöse Behandlung empfindlich bleiben. Dieser Ansatz ist vielversprechend für eine langfristige Kontrolle fortgeschrittener Krebserkrankungen.

Wie kann die Evolutionsmedizin dazu beitragen, die Krise der antimikrobiellen Resistenz zu bewältigen?

Die Resistenz von Bakterien und anderen infektiösen Mikroorganismen gegen antimikrobielle Mittel ist eine große globale Gesundheitsbedrohung. Zu den konventionellen Lösungen gehört die Entwicklung neuer antimikrobieller Mittel, was jedoch kostspielig ist und nur eine vorübergehende Lösung darstellt. Alternative Ansätze umfassen:

Abbildung 3. Die Anti-Antibiotika-Strategie zur Verhinderung von Resistenzentwicklung und Weiterverbreitung bei kommensalen opportunistischen Krankheitserregern.(Bild von Redn. leicht modifiziert. Quelle: B. Natterson-Horowitz et al.,2023, [1]; Lizenz cc-by)
  • Medikamentenkombinationen, Zeitpläne und Dosierungen, die verhindern, dass Mikroben Resistenz entwickeln
  • Eingriffe in den Evolutionsprozess selbst, z. B. durch Störung der Mechanismen, mit denen Bakterien ihre DNA austauschen und dadurch Resistenzen verbreiten (ein Prozess, der als horizontaler Gentransfer bezeichnet wird)
  • orale "Anti-Antibiotika", die verhindern könnten, dass intravenös verabreichte Antikörper bei Darmbakterien Resistenzen auslösen (Abbildung 3)
  • Einsatz von Viren, die Bakterien infizieren, sogenannte Phagen, um antibiotikaresistente Varianten abzutöten und/oder evolutionäre Kompromisse zu erzwingen, die die Empfänglichkeit für Antibiotika wiederherstellen.

Wie kann die evolutionäre Medizin in Maßnahmen des öffentlichen Gesundheitswesens einfließen?

Viele menschliche Krankheiten sind das Ergebnis eines Missverhältnisses zwischen den Ökosystemen, in denen wir uns entwickelt haben, und unserer modernen Umwelt. Abbildung 4. Ein Beispiel für diese Diskrepanz ist unsere Fähigkeit, Energie als Fett zu speichern. Dies war in der Vergangenheit ein Vorteil, als die Nahrung knapp war, führt aber in Gesellschaften, in denen es heute reichlich Nahrung gibt, zu einem Anstieg von Adipositas, Typ-2-Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Weitere Probleme können entstehen, wenn unser Körper als Reaktion auf unser ökologisches und soziales Umfeld seine Prioritäten zwischen den drei wichtigsten evolutionären Zielen (Wachstum, Fortpflanzung und allgemeine Überlebensfähigkeit) verschiebt. Männliche Fruchtbarkeitsprobleme könnten ein Beispiel dafür sein.

Abbildung 4. Gesundheitspolitische Massnahmen auf Basis der evolutionären Medizin. (Bild von Redn. leicht modifiziert. Quelle: B. Natterson-Horowitz et al.,2023, [1]; Lizenz cc-by)

Eine evolutionäre Perspektive kann diese Probleme angehen, indem die ökologischen Bedingungen mit den Bedürfnissen der menschlichen Biologie in Einklang gebracht werden. Im Falle einer evolutionären Fehlanpassung könnte dies bedeuten, dass der Schwerpunkt von der individuellen Verantwortung, die sich auf Ernährung und Bewegung konzentriert, auf Maßnahmen des öffentlichen Gesundheitswesens wie Lebensmittelsteuern und Beschränkungen in der Vermarktung von Lebensmitteln an Kinder verlagert wird.

Welche Rolle spielt die evolutionäre Medizin bei der Bekämpfung von COVID-19 und künftigen Pandemien?

Evolutionäre Prinzipien sind für die Vorhersage von Krankheitsausbrüchen, die Beherrschung der Infektionen und die Modellierung von Zukunftsszenarien unerlässlich. Die COVID-19-Pandemie ist ein perfektes Beispiel dafür. Modelle, die auf Darwins Erkenntnissen über Anpassung und natürliche Selektion beruhen,haben die Eigenschaften der erfolgreichen SARS-CoV-2-Varianten korrekt voraus gesagt. Diese Erkenntnisse ermöglichten auch die schnelle Identifizierung und das Aufspüren neuer Varianten sowie der Orte, an denen das Virus übertragen worden war.

Wie kann die evolutionäre Medizin gesunde Verhaltensweisen fördern?

Die Evolutionsmedizin kann helfen zu erklären, warum wir ungesunde Entscheidungen treffen, wie z.B. übermäßiges Essen, Rauchen, einen sitzenden Lebensstil und die Ablehnung von Impfungen. So können beispielsweise Begebenheiten im Leben eines Menschen den Ausschlag für solche Verhaltensweisen geben, während Entscheidungen, die oft als "problematisch" bezeichnet werden, im Rahmen einer eigenen, oft unbewussten Kosten-Nutzen-Rechnung des Einzelnen durchaus Sinn machen können.

Betrachtet man das Verhalten der Menschen durch diese evolutionäre Brille, so ließen sich wirksamere Maßnahmen im Bereich der öffentlichen Gesundheit entwickeln. Politische Maßnahmen, die sich auf die Verbesserung der Lebensperspektiven der Menschen konzentrieren - indem sie allen Menschen Zugang zu Bildung und Arbeitsplätzen verschaffen und gleichzeitig Ernährungsunsicherheit, Diskriminierung und Kriminalität beseitigen - würden insbesondere dazu beitragen, gesunde Verhaltensweisen in der gesamten Gesellschaft zu fördern.


 [1] Natterson-Horowitz B et al., The future of evolutionary medicine: sparking innovation in biomedicine and public health. Front Sci (2023) 1:997136. doi: 10.3389/fsci.2023.997136. (Lizenz: cc-by)


 *Zur Veröffentlichung von Natterson-Horowitz B et al., [1] gibt es auch eine Zusammenfassung für Nicht-Wissenschafter (Lay summary 1doi: 10.3389/fsci.2023.997136). Diese wurde von der Redn. möglichst wortgetreu übersetzt und durch 2 Abbildungen aus dem Originalartikel ergänzt.


 The future of evolutionary medicine. Video 0:40 min. https://www.youtube.com/watch?v=iuhWfoHaINs&t=4s