Die lange Sicht — Wie Unwissen unsere Energiezukunft bedroht

Do, 19.04.2012- 00:00 — Gottfried Schatz

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Elektrizität ist für unsere Technologie die vielseitigste Energieform. Um sie nachhaltig in ausreichender Menge bereitzustellen, braucht es den Mut zur langfristigen Forschung.

Im Jahre 1850 zeigte der englische Physiker Michael Faraday dem Schatzkanzler seines Landes, wie die Bewegung eines Magneten durch eine Drahtspule elektrischen Strom erzeugt. Auf die skeptische Frage des Staatsmannes, wozu dies gut sei, antwortete Faraday: «Eines Tages, Sir, werden Sie es besteuern können . » Obwohl Faraday die zukünftige Bedeutung dieser neuartigen Energieform voraussah, ahnte er wohl nicht, dass ihre Produktion einmal hitzige politische Debatten auslösen und die Gesellschaft vieler Staaten in unversöhnliche Lager spalten sollte.

Drohende Unordnung

Energie ist die Fähigkeit, Arbeit zu leisten. Ohne sie verliert jedes dynamische System seine Ordnung – sei dies ein Kinderzimmer, eine lebende Zelle oder ein moderner Staat. Energie ist deshalb ein Grundpfeiler von Zivilisation und Kultur. Sie lässt sich weder erzeugen noch vernichten, sondern nur von einer Form in eine andere umwandeln. Der gebräuchliche Ausdruck «Energiegewinnung» bedeutet also in Wahrheit Energieumwandlung. Etwa achtzig Prozent der weltweit erzeugten Elektrizität entstammen der Verbrennung von fossilen Ressourcen. Erdöl und Erdgas werden zwar in einigen Jahrzehnten erschöpft sein, doch die bekannten Kohle- und Ölschieferlager würden noch für einige Jahrhunderte reichen. Dennoch wäre es töricht, wie bisher weiterzufahren: Der weltweite Elektrizitätsbedarf dürfte sich bis zum Jahre 2050 mindestens verdoppeln und würde damit eine gewaltige Zerstörung der Umwelt heraufbeschwören. Vor allem gilt dies für das Verbrennungsprodukt Kohlendioxid, das sich in der Atmosphäre anreichert und als «Treibhausgas» wirkt. Der Erdboden verwandelt Sonnenlicht in langwellige Wärmestrahlen, die in den Weltraum zurückstrahlen würden – wenn unsere Atmosphäre kein Kohlendioxid enthielte. Dieses verschluckt sie jedoch und erwärmt so die Atmosphäre. Die meisten Klimaforscher sind sich heute einig, dass Kohlendioxid, welches bei der Verbrennung von Fossilbrennstoffen frei wird, die gegenwärtige Klimaerwärmung bewirkt.

Welche Kraft soll in Zukunft die Magnete und Drahtspulen unserer Dynamos gegeneinander bewegen, um uns mit elektrischem Strom zu versorgen? Sicher nicht die aus der Verbrennung fossiler Ressourcen gewonnene, die unseren Planeten mit Kohlendioxid und Erdölkriegen belastet. Wohl auch nicht die herkömmliche Kernspaltung, selbst wenn wir mittelfristig auf sie noch nicht verzichten können. Wasserenergie ist zumindest in der Schweiz bereits weitgehend ausgeschöpft, Strom aus Sonnenkollektoren noch viel zu teuer, und Windturbinen sind in kleinen und gebirgigen Ländern nur beschränkt einsetzbar. Wollen wir die Verwüstung unserer Welt verhindern, müssen wir unseren Stromhunger mit neuartigen Technologien stillen, die weder begrenzte Ressourcen vernichten noch die Atmosphäre mit Kohlendioxid verschmutzen.

Jede Technologie der Energieumwandlung – und sei sie noch so «grün» – belastet die Umwelt, und mittelfristig kann keine von ihnen für sich allein den weltweiten Strombedarf decken. Doch welche Technologie-Mischung wollen wir verwenden? Die Debatte zu diesem Thema ist längst zu einem Religionskrieg verkommen und konzentriert sich fast ausschliesslich auf bereits bekannte Technologien wie Windräder, Wasserkraft, Sonnenkollektoren – und «Bioenergie». Die klassische Form der «Bioenergie» erzeugt aus Kohlendioxid, Wasser und Sonnenlicht pflanzliche «Biomasse» und verwandelt diese in «Biogas» oder Treibstoffe wie Alkohol oder «Biodiesel». Das land- und sonnenreiche Brasilien hat bewiesen, dass dies mit schnell wachsendem Zuckerrohr kostengünstig möglich ist, wenn der Zucker mit Hefe zu Alkohol vergoren wird. Brasilien verwendet dafür ein Zehntel seiner Anbaufläche und hat erreicht, dass sein «Bioalkohol» ohne staatliche Subvention mit Benzin wetteifern kann und so die Abhängigkeit des Landes von ausländischem Erdöl drastisch senkt.

Unterentwickelte «Bioenergie»

In den kühleren USA ist das wichtigste Ausgangsprodukt für Bioalkohol die in Maiskörnern gespeicherte Stärke. In ihr liegt Traubenzucker in Form leicht vergärbarer Ketten vor. Europa setzt vorwiegend auf Biodiesel aus ölhaltigen Kulturpflanzen. Solche Biotreibstoffe werden als umweltfreundliche Lösung angepriesen, da sie aus erneuerbaren Rohstoffen stammen und bei ihrer Verbrennung gleich viel Kohlendioxid freisetzen, wie es die Pflanzen der Atmosphäre ursprünglich entnommen hatten.

Diese Technologie ist jedoch keineswegs so «grün», wie man sie oft schildert. Pflanzen wollen nicht Energie horten, sondern möglichst robust sein und selbst unter extremen Bedingungen überleben. Sie speichern deshalb meist nur weniger als ein Prozent des einfallenden Sonnenlichts als Biomasse. Zuckerrohr ist einer der effizientesten Lichtverwerter, die wir kennen, und dennoch liefert eine Zuckerrohrplantage selbst unter besten Bedingungen jährlich weniger als einen Liter Alkohol pro Quadratmeter. In kühleren und weniger besonnten Regionen wie der Schweiz wäre die Ausbeute noch viel geringer. Der intensive Anbau von Kulturpflanzen erfordert zudem gewaltige Wassermengen, verseucht das Grundwasser mit Pestiziden und verstärkt die Bodenerosion, welche langfristig die Umwelt ebenso bedroht wie eine Klimaerwärmung. Und schliesslich setzen die unerlässlichen Düngerstoffe stickstoffhaltige Treibhausgase frei, die den Gewinn einer Kohlendioxid-Einsparung weitgehend zunichtemachen.

Diese Nachteile mögen für die Deckung unseres Nahrungsbedarfs vertretbar sein, machen jedoch Biotreibstoff aus pflanzlicher Nahrung zu einem ökologisch und ethisch verwerflichen Produkt. Viel besser wäre es, Baumstämme, Halme oder Kleinholz zu Alkohol zu vergären. Diese Pflanzenteile enthalten Zucker jedoch in Form von Zellulose, die vor der Vergärung erst unter grossem Zeit- und Energieaufwand zerlegt werden muss. Genetisch veränderte Kulturpflanzen, die nach der Fruchtreife die Zellulose ihrer Halme selber abbauen, könnten dieses Problem lösen, wären im heutigen Europa aber politisch untragbar.

Obwohl «Bioenergie» derzeit nur einen bescheidenen Beitrag zur weltweiten Elektrizitätsversorgung leistet, müssen wir sie mit hoher Dringlichkeit weiterentwickeln. Grösste Hoffnungsträger sind derzeit ein- oder vielzellige Algen, die Sonnenlicht viel wirksamer als herkömmliche Kulturpflanzen verwerten, viel schneller als diese wachsen und den Boden kaum belasten, weil sie sich in grossen Teichen oder Bioreaktoren züchten lassen. Ihre Biomasse könnte nach Vergärung oder Vergasung zukünftig unsere Dynamos antreiben und uns so nachhaltig mit elektrischer Energie versorgen. Um jedoch diese und andere Zukunftsträume zu erfüllen, braucht es langfristige Grundlagenforschung.

Unser Unwissen über Umwandlung, Speicherung und Transport von Energie ist nämlich viel grösser, als man allgemein annimmt. Um elektrischen Strom ohne grosse Verluste zu übertragen, in Licht zu verwandeln oder direkt aus Sonnenlicht zu gewinnen, müssen wir mehr darüber wissen, wie feste Materie mit Elektrizität und Licht zusammenspielt. Um grosse Mengen elektrischer Energie zu speichern, müssen wir besser verstehen, wie Sauerstoff und andere Elemente mit Elektroden reagieren. Um mithilfe von Sonnenlicht Wasserstoffgas aus Wasser auf rein chemischem Wege herzustellen, fehlen uns wirksame Katalysatoren – und um diese gezielt zu entwickeln, müssen wir mehr darüber wissen, wie Katalysatoren grundsätzlich wirken. Um gar die gewaltigen Energiemengen aus verschmelzenden Atomkernen zu zähmen, müssen wir noch eine Unzahl von Problemen lösen, deren wir uns zum Teil wohl noch gar nicht bewusst sind. Und schliesslich werden wir die weltweite Energieversorgung nur dann in den Griff bekommen, wenn wir die fast unvorstellbare Komplexität grossflächiger Stromnetze mit neuartigen mathematischen Ansätzen verstehen und steuern können.

Notwendige Grundlagenforschung

In unserer kurzfristig denkenden Zeit braucht es Weisheit und Mut, um die lange Sicht zu wagen und der Grundlagenforschung das Wort zu sprechen. Wer sie vernachlässigt und nur eng fokussierte «angewandte» Forschung betreibt, wird bald nichts mehr anzuwenden haben. Allzu oft erliegen wir der Versuchung, die Mängel des bereits Verfügbaren mit staatlichen Subventionen zu übertünchen. Sie aber schotten Technologien ebenso vom Wettbewerb ab, wie Importzölle dies für Inlandsprodukte tun. Auf kurze Sicht mögen Subventionen und Importzölle nützlich sein – langfristig verhindern sie unweigerlich die Geburt des Neuen. Wissen ist ein Kind der Vergangenheit; in einer stetig sich wandelnden Welt sichert es weder die Gegenwart noch die Zukunft. Dies vermag nur innovative Forschung, die in allem Gegenwärtigen die Hypothese der Zukunft sucht. Die Erdölkriege der letzten Jahrzehnte haben es gezeigt: Energieforschung ist auch Friedensforschung. Ich vermute, Michael Faraday hätte dem zugestimmt.


Weiterführende Links

ZeitNews.de Dokumentation - Folge 2: Algen und was sie alles können (Video; 5'10")