Do, 06.02.2025 — Ricki Lewis
Vor 5 Jahren befürchtete man, dass die Genom-Sequenzierung bei Neugeborenen deren Privatsphäre gefährden könnte, wenn die genetischen Informationen dann beim Heranwachsen nicht angemessen geschützt würden. Dass die DNA-Analyse bei Neugeborenen einen vielleicht unerwarteten Nutzen kann berichtet die Genetikerin Ricki Lewis an Hand der Erkrankungen Marfan Syndrom und Alström Syndrom: Die Mutationen eines Neugeborenen können plötzlich eine neue Deutung von Symptomen bei Eltern, Geschwistern und anderen Naheverwandten bieten. Dieser Ansatz ercheint besonders wertvoll bei extrem seltenen genetischen Erkrankungen, die ein Arzt, der nicht gleichzeitig Genetiker ist, möglicherweise nicht erkennt.*
Screening von Neugeborenen auf Stoffwechselprodukte, nicht auf DNA
Das Screening von Neugeborenen auf andere verdächtige Moleküle als die DNA gibt es schon seit Jahrzehnten. Kurz nach der Geburt wird aus der Ferse entnommenes Blut auf verschiedene Moleküle (Metaboliten) untersucht, die als Biomarker für bestimmte Krankheiten dienen.
Das US-amerikanische Recommended Uniform Screening Panel (RUSP) https://www.hrsa.gov/advisory-committees/heritable-disorders/rusp testet so auf 61 Erkrankungen. Die Liste variiert je nach Bundesstaat, wobei Illinois zum Beispiel auf 57 Krankheiten tested, Kalifornien auf 80. Sonderprogramme haben das RUSP im Laufe der Jahre erweitert.
Das Ziel des Neugeborenen-Screenings ist es, Krankheiten so früh zu erkennen, dass Symptome verhindert oder behandelt werden können. Allerdings sind manche Leute der Ansicht, dass das Neugeborenen-Screening "Patienten im Wartezustand" schafft, was bei frischgebackenen Eltern Ängste auslöst.
Genomsequenzierung bei Neugeborenen |
Das Neugeborenen-Screening kann zwar genetische Krankheiten aufdecken, analysiert aber nicht die DNA selbst. Es stellt nur zu hohe oder zu niedrige Werte bestimmter Aminosäuren und Acylcarnitine fest, die auf einen gestörten Eiweiß- bzw. Fettstoffwechsel hinweisen. Die dazu angewandte Technik ist die Tandem-Massenspektrometrie.
Die Sequenzierung von DNA zur Klassifizierung von Genvarianten ist etwas anderes. Gene sind die Anweisungen einer Zelle zur Verknüpfung präziser Sequenzen von Aminosäuren zu Proteinen.
Neugeborenen-Screening auf DNA: GUARDIAN und BabySeq
Zwei Programme haben kürzlich Ergebnisse zur Bedeutung der DNA-Sequenzierung eines Neugeborenen veröffentlicht.
Die GUARDIAN-Studie (Genomic Uniform-screening Against Rare Disease in All Newborns - https://guardian-study.org/ des New York-Presbyterian Hospital untersuchte 4 000 Kinder, die zwischen September 2022 und Juli 2023 in sechs Krankenhäusern in New York City geboren wurden. Dabei wurden Gene sequenziert, die für 156 früh auftretende genetische Erkrankungen und 99 mit Krampfanfällen einhergehende neurologische Entwicklungsstörungen verantwortlich sind. Die gewählten Erkrankungen sind behandelbar, insbesondere wenn sie frühzeitig erkannt werden. Die Ergebnisse wurden kürzlich im Fachjournal JAMA veröffentlicht [1].
Das Projekt BabySeq (https://www.genomes2people.org/research/babyseq/news-media/),das 2018 begann, ist breiter angelegt. Es hat Exome (den proteincodierenden Teil eines Genoms) oder ganze Genome sequenziert und 954 Gene identifiziert, bei denen Mutationen drei Kriterien erfüllen:
- die assoziierte Erkrankung beginnt in der Kindheit
- wenn eine Mutation vorhanden ist, sind auch die Symptome vorhanden (hohe Penetranz)
- die Erkrankung ist bis zu einem gewissen Grad therapiebar
BabySeq suchte auchaus der Liste der sekundären Befunde des American College of Medical Genetics and Genomics (ACMG - https://www.ncbi.nlm.nih.gov/clinvar/docs/acmg/) nach einigen therapiebaren Erkrankungen, die nur im Erwachsenenalter auftreten, wie z. B. familiäre Krebssyndrome.
In der Ankündigung von BabySeq in Pediatrics (https://pmc.ncbi.nlm.nih.gov/articles/PMC6038274/) heißt es:
"Die größte Chance, dss sich die Genomsequenzierung ein Leben lang auswirkt, hat die Zeit unmittelbar nach der Geburt. Neugeborenenperiode. Das BabySeq-Projekt ist eine randomisierte Studie, die die medizinischen, verhaltensbezogenen und wirtschaftlichen Auswirkungen erforscht, wenn die Genomsequenzierung in die Fürsorge gesunder und kranker Neugeborener eingebaut wird."
Im Rahmen des BabySeq-Projekts wurden Kinder fünf Jahre lang beobachtet. Die ersten Ergebnisse sind in der Juli-Ausgabe 2023 des American Journal of Human Genetics veröffentlicht [2].
An dem Projekt haben 127 gesunde Säuglinge und 32 kranke Säuglinge aus Intensivstationen zweier Bostoner Krankenhäuser teilgenommen. Außerdem wurde nach einigen relevanten Erkrankungen im Erwachsenenalter gesucht, die in der Liste der sekundären Befunde des American College of Medical Genetics and Genomics (ACMG) aufgeführt sind.
Bei 17 der Kinder wiesen die Genome relevante krankheitsverursachende Mutationen auf.
Von 14 gesunden Säuglingen entwickelten vier ein vergrößertes und geschwächtes Herz - dilatative Kardiomyopathie - aufgrund von Mutationen im TTN-Gen, das für ein Muskelprotein (Titin) kodiert. Durch häufige EKGs und Echokardiogramme können die ersten Symptome erkannt werden, die dann medikamentös oder physikalisch behandelbar sind. Betroffene Kinder sollten bestimmte Stimulanzien meiden, bestimmte Sportarten wählen und eine für das Herz gesunde Ernährung einhalten.
Ein anderes Kind hatte eine feststellbare und heilbare verengte Aorta, und ein weiteres litt an Vitaminmangel (Biotin), der mit Nahrungsergänzungsmitteln behandelbar war. Zwei Neugeborene wiesen BRCA2-Mutationen auf, was drei Verwandte zu einer Operation veranlasste, um damit assoziierte Krebserkrankungen zu verhindern. Ein weiteres Kind kann dank der Früherkennung einen Hörverlust im Teenageralter vermeiden.
Bei Babys, die wegen einer Erkrankung auf der Intensivstation lagen, wurde eine durch die DNA aufgezeigte, weitere Erkrankung festgestellt. Ein Kind, das wegen eines Herzfehlers ins Krankenhaus eingeliefert wurde, hatte auch einen Glucose-6-Phosphat-Dehydrognenase-Mangel, der beim Verzehr bestimmter Lebensmittel eine hämolytische Anämie verursacht. Und ein Säugling, der wegen Atembeschwerden ins Krankenhaus eingeliefert wurde, hatte das Lynch-Syndrom geerbt, das im Erwachsenenalter Darm-, Gebärmutter-, Magen- und Eierstockkrebs verursacht.
Einige der Kinder wiesen Mutationen auf, die sich später auf den Stoffwechsel bestimmter Krebs- und entzündungshemmender Medikamente auswirken sollten.
Ein unerwarteter Nutzen der Neugeborenen-Sequenzierung der DNA: Erklärung der Krankheiten von Verwandten
Als die BabySeq-Studie im Jahr 2018 begann, wurde kritisiert, dass Eltern mit Namen von beängstigenden Krankheiten belastet werden, die sich - wenn überhaupt - möglicherweise erst nach Jahren manifestieren. Nach den fünf Jahren der Studie zeigte sich welchen Wert die Erkennung behandelbarer Krankheiten noch vor ihrem Ausbruch hat: Die Mutationen eines Neugeborenen können plötzlich eine neue Deutung von Symptomen bei Eltern und Geschwistern, Tanten und Onkeln, Großeltern und Cousins bieten. Dieser Ansatz ist besonders wertvoll bei extrem seltenen genetischen Erkrankungen, die ein Arzt, der nicht gleichzeitig Genetiker ist, möglicherweise nicht erkennt.
Genetiker bezeichnen mehrere, scheinbar nicht zusammenhängende Symptome, die von einer Mutation in einem einzigen Gen herrühren, als Pleiotropie. Ein Beispiel sind das seltene Marfan-Syndrom und das noch seltenere Alström-Syndrom.
Marfan-Syndrom
Einige Symptome des Marfan-Syndroms sind offenkundig, wenn man sie zusammen betrachtet: lange Arme, Beine, Finger und Zehen, ein schmales, langes Gesicht, ein eingesunkener oder hervorstehender Brustkorb aufgrund einer kollabierten Lunge sowie Plattfüße, Skoliose und sehr flexible Gelenke. Ein Patient mit nur einem oder zwei dieser Merkmale könnte allerdings unbemerkt bleiben. Und einige Marfan-Symptome treten erst im Erwachsenenalter auf, z. B. Kurzsichtigkeit, Katarakte und verrutschte Linsen.
Die Diagnose des Marfan-Syndroms wird in der Regel nach kardialen Ereignissen gestellt, z. B. undichten Herzklappen oder einer aufgespaltenen Aorta, die sich ausbeulen und reißen kann (ein Aneurysma). Wenn die Schwächung frühzeitig erkannt wird, kann ein synthetisches Transplantat den Abschnitt der Arterienwand ersetzen und das Leben des Betroffenen retten. Manchmal macht sich das Marfan-Syndrom aber auch als Notfall bemerkbar.
So erging es auch dem Dramatiker Jonathan Larson, der das Stück Rent über die Anfänge von AIDS schrieb. Er starb 1996 plötzlich, einen Tag vor der Premiere von Rent am Broadway, an den Folgen einer Aortendissektion, die später als Folge des Marfan-Syndroms erkannt wurde. Nach Angaben der Marfan Foundation "wies er viele der äußeren Anzeichen auf, war aber nie diagnostiziert worden. Zwei Notaufnahmen von Krankenhäusern in New York City erkannten nicht die Anzeichen einer Aortendissektion und auch nicht, dass Jonathan viele Merkmale des Marfan-Syndroms aufwies, was ihn einem hohen Risiko für eine Aortendissektion aussetzte."
Andere berühmte Persönlichkeiten, die das Marfan-Syndrom hatten, sind Abraham Lincoln, Julius Cäsar, König Tut und der olympische Schwimmer Michael Phelps.
Eine dominante Mutation im Gen FBN1 verursacht das Marfan-Syndrom. Das Gen kodiert das Protein Fibrillin-1, das die elastischen Fasern des Bindegewebes bildet und Blutgefäße, Knochen und Knorpel beeinflusst. In etwa 75 Prozent der Fälle wird die Krankheit von einem Elternteil vererbt, in den anderen Fällen entsteht sie durch eine neue Mutation. Die Untersuchung der Eltern eines Patienten kann Aufschluss darüber geben, ob die Mutation neu ist oder vererbt wurde, was wiederum Auswirkungen auf andere Familienmitglieder hat.
Eine Genomsequenzierung kann das Marfan-Syndrom auch dann aufdecken, wenn ein Neugeborenes nicht die verräterischen langen Gliedmaßen und den eingesunkenen oder vorstehenden Brustkorb aufweist oder wenn sein Arzt die Anzeichen nicht erkennt. So könnte eine genetische Diagnose sofort erklären, warum eine Tante an einem Aortenaneurysma gestorben ist, ein Geschwisterkind mit verrutschten Linsen und einem langen Gesicht, ein Großelternteil, der wegen seiner Plattfüße nicht zum Militär gehen konnte, und ein Cousin, der dank seiner großen Flexibilität ein begnadeter Tänzer ist.
Alström-Syndrom
Die Inzidenz (Häufigkeit in der Bevölkerung) des Marfan-Syndroms liegt bei 1 zu 5.000 (https://medlineplus.gov/genetics/condition/marfan-syndrome/#:~:text=At%20least%2025%20percent%20of,mutation%20in%20the%20FBN1%20gene), was für eine Störung an nur einem Gen recht hoch ist. Im Gegensatz dazu betrifft das Alström-Syndrom zwischen 1:10.000 und weniger als 1:1.000.000 Menschen ((https://rarediseases.org/rare-diseases/alstrom-syndrome/). Bisher sind nur 1200 Fälle bekannt. Die Sequenzierung des Genoms von Neugeborenen kann das aber ändern.
Die Liste der Symptome des Alström-Syndroms ist so lang und die Zusammenstellung der Symptome bei den Patienten so unterschiedlich, dass es verständlich ist, wenn Ärzte die zugrunde liegende genetische Ursache möglicherweise nicht erkennen. Und wie beim Marfan-Syndrom treten einige Alström-Symptome erst im Erwachsenenalter auf.
Das Alström-Syndrom beeinträchtigt das Seh- und Hörvermögen, verursacht Fettleibigkeit im Kindesalter, Insulinresistenz und Diabetes mellitus, dilatative Kardiomyopathie, degenerierende Nieren und kann Leber, Lunge und Blase sowie die Hormonsekretion betreffen. Die Intelligenz bleibt in der Regel erhalten, aber die Kinder können kleinwüchsig sein und Entwicklungsverzögerungen aufweisen.
Die vielfältigen Symptome entstehen durch eine Mutation in einem Gen, ALMS1. Es kodiert für ein Protein, das für aus der Zelle austretende schwanzartige Flimmerhärchen die Basis bildet. Die atypischen Flimmerhärchen verursachen Krankheiten, die als "Ciliopathien" bezeichnet werden, was für "kranke Flimmerhärchen" steht. Da die Flimmerhärchen die Bewegung von Substanzen in und zwischen den Zellen steuern und die Zellteilung kontrollieren, treten bei einer Beeinträchtigung viele Symptome auf.
Im Gegensatz zum dominanten Erbgang des Marfan-Syndroms, bei dem ein betroffener Elternteil die Krankheit weitergibt, ist das Alström-Syndrom rezessiv; zwei Trägereltern sind nicht betroffen, geben aber ihre Mutationen weiter. Wenn also bei der Sequenzierung des Genoms eines Neugeborenen ein Kind mit zwei Kopien einer ALMS1-Mutation identifiziert wird, dann sind die Eltern vermutlich beide Träger. Geschwister haben ein 25-prozentiges Risiko, die Krankheit zu erben.
Fazit
Um die potenziellen Auswirkungen der DNA-Sequenzierung bei Neugeborenen zu beurteilen, braucht es noch einige Zeit. Ich denke jedoch, dass die potenzielle Preisgabe der Privatsphäre bei der Identifizierung von Mutationen, insbesondere von relevanten Mutationen, verspricht die Gesundheit vieler anderer Personen zu verbessern
[1] Alban Ziegler et al., Expanded Newborn Screening Using Genome Sequencing for Early Actionable Conditions. JAMA. 2025;333(3):232-240. doi:10.1001/jama.2024.19662
[2] Robert C. Green et al., Actionability of unanticipated monogenic disease risks in newborn genomic screening: Findings from the BabySeq Project. The American Journal of Human Genetics 110, 1–12, July 6, 2023. DOI: 10.1016/j.ajhg.2023.05.007
* Der Artikel ist erstmals am 14. November2024 in PLOS Blogs - DNA Science Blog unter dem Titel "A Genetic Crystal Ball: When Newborn Genome Sequencing Findings Explain Illnesses in Relatives" https://dnascience.plos.org/2024/11/14/a-genetic-crystal-ball-when-newborn-genome-sequencing-findings-explain-illnesses-in-relatives/ erschienen und steht unter einer cc-by Lizenz. Die Autorin hat sich freundlicherweise mit der Übersetzung ihrer Artikel durch ScienceBlog.at einverstanden erklärt, welche so genau wie möglich der englischen Fassung folgt.
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