Ist Migration eine demographische Notwendigkeit für Europa?

Do, 06.06.2019 — IIASA

IIASAIcon Politik & GesellschaftIm Jahr 2060 wird ein Drittel der Bevölkerung in der EU mindestens 65 Jahre alt sein. Ein gemeinsam von der Europäischen Kommission und dem International Institute of Applied Systems Analysis (IIASA) herausgegebener exemplarischer Bericht [1] zeigt, dass ein derartiger Anstieg unvermeidlich ist, auch unter Berücksichtigung von höherer Fertilität oder Migration. Allerdings sind eine Steigerung der Erwerbsbeteiligung (insbesondere von Frauen) und eine verbesserte Ausbildung sowohl von Einheimischen als auch von Migranten in der Lage die mit der Alterung verbundenen Probleme lösen. Der Report wurde in einer Auftaktveranstaltung am 4. Juni 2019 in Brüssel vorgestellt [2].*

Um Entscheidungen über unsere Zukunft zu treffen, ist es wesentlich zu wissen wie viele Menschen dann leben werden und wo sie leben und arbeiten werden.

Entscheidungsträger gehen häufig davon aus, dass entweder eine höhere Geburtenrate oder eine verstärkte Migration in der Lage sein werden, Lösungen für die demografischen Herausforderungen der EU zu erbringen. „Eine zunehmend älter werdende Zusammensetzung der Bevölkerung ist zwar unvermeidlich, dies muss aber kein gravierendes Problem sein, wenn die Menschen in Zukunft eine bessere Ausbildung erhalten und sich mehr am Erwerbsleben beteiligen als heute“, sagt Wolfgang Lutz, Direktor des IIASA-Weltbevölkerungsprogramms und leitender Wissenschaftler des Kompetenzzentrums für Bevölkerung und Migration (CEPAM).

Das CEPAM wurde von der Europäischen Kommission und dem IIASA als Antwort auf die Migrationsströme des Jahres 2015 gegründet, welche mit ihren dramatischen Szenen weltweit Aufmerksamkeit erregten. Wenn damals auch aus aktuellem Anlass entstanden, so sollte die Aufgabe des CEPAM darin bestehen, den Fokus auf ausgedehntere Zeiträume zu legen und Analysen zu den allmählichen, aber langfristig resultierenden demografischen Veränderungen innerhalb der EU und in der ganzen Welt zu erstellen.

Bevölkerungsentwicklung,…

Wie CEPAM-Untersuchungen nun ergeben haben, sind selbst Szenarien mit einem unrealistisch hohen Anstieg der Geburtenrate (+ 50%) oder einer doppelt so hohen Einwanderungsrate (ca. 20 Millionen Menschen in jeweils 5 Jahren) nicht in der Lage, die Altersstruktur der europäischen Bevölkerung grundlegend zu verändern. Abbildung 1.

Abbildung 1. Der Anteil der 65+ Bevölkerung in der EU wird 2060 auf rund 32 % ansteigen (links) und selbst eine Verdopplung der Migration oder eine stark steigende Geburtenrate werden darauf nur wenig Einfluss haben (rechts). Abbildung aus dem Report [1]: Ausschnitt aus Key Messages, p.12.

„Ungeachtet der deutlichen Dynamik in Richtung einer älter werdenden Bevölkerung, ist es wichtig, dass man auch die im Mittel steigende Zahl von Lebensjahren in Aktivität und Gesundheit berücksichtigt, die höhere Produktivität und den möglichen Verlust von Arbeitsplätzen aufgrund des technologischen Fortschritts - all dies hat tiefgreifende Auswirkungen auf das künftige Potential an Arbeitskräften. ” erklärt Lutz.

Solche Veränderungen stellen den konventionellen Ansatz in Frage, der nur die Altersstruktur der Bevölkerung in Betracht zieht.

Modellierungen unterschiedlicher Szenarien…

Mit Hilfe modernster demografischer Modelle konnte CEPAM unterschiedliche Szenarien hinsichtlich des Ausmaßes von Migration und des Bildungsniveaus der Migranten durchspielen, basierend auf kanadischen, japanischen und anderen Ansätzen. Einer der wesentlichsten, aus dieser Untersuchung resultierenden Zusammenhänge, zeigt, dass Migration die Gesamtbevölkerung zwar erheblich vergrößern kann, aber - wie im Falle der Altersstruktur - einen viel geringeren Einfluss auf das Verhältnis von Nichtarbeitenden zu Arbeitnehmern hat.

Dagegen kann eine in der EU erwartete, wachsende Erwerbsbeteiligung von Frauen den potenziellen Anstieg von sozial Abhängigen ausgleichen. Abbildung 2.

Abbildung 2. Mit der Zunahme der älteren Bevölkerung muss ein kleiner werdender, aber besser ausgebildeter Anteil Beschäftigter die Nicht-Erwerbstätigen erhalten. Eine gesteigerte Erwerbsbeteiligung von Frauen (wie bereits heute in Schweden) kann die Relation sozial Abhängiger zu Arbeitenden verbessern. Abbildung aus dem Report [1]: Ausschnitt aus Key Messages, p.12.

…und Migration innerhalb Europas

Der neue Bericht befasst sich auch mit der Bevölkerungsdynamik innerhalb der EU, einschließlich der Abwanderung in den Westen. In einigen südlichen und östlichen Mitgliedstaaten war bereits ein deutlicher Bevölkerungsrückgang zu verzeichnen. Wenn sich dieser Trend fortsetzt, schrumpfen dort die Bevölkerungszahlen bis 2060 um mindestens 30%. Abbildung 3.

Derartige Veränderungen lassen Bedenken aufkommen, dass aus solchen Ländern Fachkräfte abwandern, dass Begabungen verloren gehen.

Dies gilt nicht nur in der EU, sondern ist in vielen Ländern der Welt von Bedeutung.

Abbildung 3. Bevölkerungswandel, wenn die interne EU-Bewegung gestoppt wird oder weitergeht (2015-2060). Beispiele: Vereinigtes Königreich, Österreich, Deutschland, Litauen, Lettland und Rumänien. Abbildung aus dem Report [1]: Ausschnitt aus Key Messages, p.12.

Die globale Perspektive

Global betrachtet zeigt der Bericht, wie stark die Zukunft des Bevölkerungswachstums davon abhängt, wie es mit der Bildung in Afrika - der mit Abstand am schnellsten wachsenden Region der Welt - weitergeht. Bildung ist eine wichtige Voraussetzung, um Frauen in die Lage zu versetzen, dass sie bewusste Entscheidungen über ihre Geburtenhäufigkeit treffen.

Die Geburtenraten in Afrika gehen langsam zurück, bleiben aber im Vergleich zu allen anderen Kontinenten sehr hoch (durchschnittlich 4,7 Kinder pro Frau). Wenn die Trends in der Bildung in gleicher Weise wie in den letzten Jahren weitergehen, wird im Jahr 2060 die Weltbevölkerung 9,6 Milliarden Menschen erreichen. Wenn die Bildung aber stehen bleibt, gefolgt von einem ähnlich verzögerten Rückgang der Geburtenrate, könnte die Weltbevölkerung dann auf rund 11 Milliarden anwachsen. Je nachdem wie rasch das Bevölkerungswachstum erfolgt, kann es den Ausbau von Infrastruktur überflügeln und zu einem Afrika führen, in dem die Bevölkerung schlechter ausgebildet ist als heute. Abbildung 4.

Abbildung 4. Szenarien der Bevölkerungsentwicklung 2015 - 2060 in Afrika: a) rasche, weitreichende Bildung für aller Mädchen, b) bisherige Bildungstrends setzen sich fort, c) Bildung "bleibt stehen". Abbildung aus dem Report [1]: Ausschnitt aus Key Messages, p.12.

"Die Hoffnung besteht, dass Afrika einen sich selbst verstärkenden Kreislauf mit niedrigerer Sterblichkeit, geringerer Fruchtbarkeit und - durch Bildung bedingt - stärkerer Entwicklung einschlägt", fügt Lutz hinzu. "Dies ist genau das Rezept, das wir brauchen, wenn wir Nachhaltigkeit und internationale Entwicklung ernst nehmen."

Fazit

Mit diesem Bericht wurde versucht, die Migrationspolitik von kurzfristigen Überlegungen wegzuleiten, um langfristig ein realistisches und wissenschaftlich fundiertes Planen zu erreichen.
Migrationspolitik und verwandte Gebiete erfordern demografische Grundlagen und kompetentes Handeln. Zu diesem Zweck schließt der Bericht mit der Identifizierung bestehender blinder Flecken, die sich durch eine Verbesserung der demografischen Daten und der Forschungskapazität auf europäischer Ebene minimieren lassen. Insbesondere sollte der Fokus auf multidimensionalen Analysen liegen und Afrika und andere Nachbarregionen, stärker berücksichtigt werden.


[1] Lutz W, et al. (2019): "Demographic Scenarios for the EU - Migration, Population and Education" Report, http://pure.iiasa.ac.at/id/eprint/15942/

[2]  Demographic Scenarios for the EU - Migration, Population and Education. (Video) https://webcast.ec.europa.eu/demographic-scenarios-for-the-eu-migration-population-and-education.


* Der von der Redaktion möglichst wortgetreu aus dem Englischen übersetzte Artikel ist am 4.Juni 2019 auf der IIASA Webseite unter dem Titel: " Is there a demographic need for migration in Europe?" erschienen ( (http://www.iiasa.ac.at/web/home/about/news/190604-demography-and-migration.html). IIASA hat freundlicherweise der Veröffentlichung von Inhalten seiner Website und Presseaussendungen in unserem Blog zugestimmt. Der Text wurde von der Redaktion durch passende Abbildungen aus dem zugrundeliegenden Report [1] ergänzt.


Weiterführende Links

Artikel im ScienceBlog