Pathologie: Von der alten Leichenschau zum modernen klinischen Fach

Fr, 25.08.2011- 04:20 — Helmut Denk

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„Der Pathologe weiß alles, kann alles, kommt aber immer zu spät“: diese abschätzige Bemerkung, die sich auf die alte Bezeichnung des Faches „Pathologische Anatomie“ (Beschäftigung mit Leichen im Rahmen der Obduktion) bezieht, ist sogar in Ärztekreisen noch verbreitet.

Vielfach wird von medizinischen Laien noch immer die Tätigkeit des Pathologen ausschließlich mit der Leiche assoziiert (Fernsehkrimis, in denen skurrile Typen als Pathologen bezeichnet werden, obwohl es sich tatsächlich um Gerichtsmediziner handelt, leisten dabei Vorschub). Und auf die zentrale Rolle der Pathologie in der modernen medizinischen Grundlagenforschung und in der klinischen Medizin wird vergessen.

Im klinischen Bereich kann der Pathologe/die Pathologin (zahlreiche Frauen sind in diesem Beruf tätig!) heute ohne Übertreibung als „Lotse“ der Therapie gelten. Dabei soll die ursprüngliche Haupttätigkeit der Pathologen als Obduzenten von Leichen auch heute nicht minder bewertet werden. Carl Freiherr v. Rokitanksy: Pathologie als Klinisches FachDurch diese Tätigkeit und die damit verbundene Erfassung krankhafter Organveränderungen wurde vor ca. 250 Jahren erst die Basis für das Verständnis von Krankheitsmanifestationen (Krankheitssymptomatik) und einer rationalen Therapie, und damit für die moderne Medizin, gelegt. Der österreichischen Pathologie, im 19. Jahrhundert prominent vertreten durch Carl von Rokitansky (1804-1878; Präsident der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, 1869- 1878; Mitbegründer der Zweiten Wiener Medizinischen Schule) kam dabei eine zentrale Rolle zu (Zitat siehe Kasten)

Der Begriff „Pathologie“ bedeutet Krankheitslehre und Krankheitsforschung. Das Fach bereitet somit die Grundlage für das Verständnis des Wesens, der Erscheinungsformen, der Ursachen (Ätiologie) und der Entwicklung (Pathogenese) von Krankheiten. Im klinischen Bereich lassen sich auf Basis dieser Kenntnisse wichtige diagnostische und prognostische Hinweise, Krankheitsmanifestationen sowie therapeutische Prinzipien ableiten (Klinische Pathologie). Die Pathologie ist somit nicht nur ein zentrales Fach in der biomedizinischen Forschung sondern auch in der Klinik und in der Lehre. Sie sieht sich dabei in einer Mittlerrolle zwischen der naturwissenschaftlichen Grundlagenforschung und dem Krankenbett.

Das Fach besteht aus zwei interagierenden Bereichen: der biomedizinischen Grundlagenforschung und der klinisch-diagnostischen Anwendung (einschließlich klinisch-angewandter Forschung).

Die klinisch-diagnostische Pathologie beruht auf der mikroskopischen Untersuchung von Gewebeproben aus verschiedenen Organen, die durch Operation oder Biopsie (Gewebeentnahme mit Hilfe von Messer, Nadel oder Zange) gewonnen werden (Pathohistologie), von Zellen (gewonnen durch Aspiration mit Hilfe von Nadeln unter Kontrolle bildgebender Verfahren, z.B.Röntgen, Ultraschall, durch Abstrich von Organoberflächen oder Isolierung aus Körperflüssigkeiten; Zytodiagnostik) nach entsprechender Aufbereitung (Fixierung, Anfertigung von sehr dünnen Gewebeschnitten oder Zellausstrichen, Färbung). Durch die lichtmikroskopische Untersuchung lassen sich krankhafte Veränderungen (z.B. Entzündung, Tumoren, Erreger, Gewebsfehlbildungen, etc.) erfassen (Abbildung 1). Sehr bösartiges Magenkarzinom vom „Siegelringzelltyp“Abbildung 1. Pathohistologie: Sehr bösartiges Magenkarzinom vom „Siegelringzelltyp“. Die Tumorzellen (im linken Bild blau, im rechten Bild braun gefärbt) zeigen ein aggressiv-infiltrierendes Wachstum.

In der modernen Medizin genügt aber die bloße Feststellung eines krankhaften Prozesses nicht mehr. Vielmehr ist dessen möglichst exakte Klassifikation mit Aussagen zur Ätiologie und zum voraussehbaren Verhalten (z.B. Grad der Bösartigkeit bei Tumoren; Intensität eines entzündliche Prozesses und der damit verbundenen Gewebeschädigung) als Basis für die Abschätzung der Prognose und die Planung der Therapie notwendig. So gewährt beispielsweise bereits die Lichtmikroskopie Einblicke in das biologische Verhalten von Tumoren: z.B. Hinweise auf die Vermehrung der Tumorzellen (Zellteilungen, Mitosen) Atypiegrad der Tumorzellen („grading“), aggressives und zerstörerisches Wachstum, Stadium der Tumorausbreitung („staging“), Einbruch in Blut- oder Lymphgefässe als Voraussetzung für die Ausbildung von Tochtergeschwülsten (Metastasen) in anderen Organen. Abbildung 2.

Aggressives Tumorwachstum - Karzinom der BrustdrüseAbbildung 2: Aggressives Tumorwachstum - Karzinom der Brustdrüse: Das linke Bild zeigt ein lichtmikroskopisches Bild in kleiner Vergrößerung (beachte das sternförmige, aggressive Wachstum), das rechte das stärker vergrößerte lichtmikroskopische Bild des Karzinoms.

Erweitert wird die Aussagekraft der klassischen Lichtmikroskopie durch neuere Untersuchungsmethoden wie Immunhistochemie zum Nachweis von Proteinen (tumorassoziierte Eiweißkörper, Hormone, etc.) oder Erregern sowie Methoden aus dem Bereich der Molekularbiologie (einschließlich Elektronenmikroskopie, Hybridisierungstechniken, Molekulargenetik). Damit gewinnt die Molekularpathologie auch im klinisch-diagnostischen Bereich immer mehr an Bedeutung. Abbildung 3.

Karzinomatöse Umwandlung des Oberflächenepithels des Gebärmutterhalses — Assoziation mit Tumorzellen — KarzinomfokusAbbildung 3: Karzinomatöse Umwandlung des Oberflächenepithels des Gebärmutterhalses (oberes Bild). Eine molekularpathologische Untersuchung auf Viruskomponenten (Nukleinsäuren von humanen Papillomviren) zeigt deren Assoziation mit Tumorzellen (blau im mittleren Bild). Im unteren Bild findet sich ein kleiner Karzinomfokus, der in das umliegende entzündlich veränderte Gewebe vordringt.

Die Obduktion (Untersuchung von Leichen) hat zwar heute aufgrund der Fortschritte der klinischen Diagnostik etwas an diagnostischer Bedeutung verloren, ist aber nach wie vor ein wichtiges Instrument der Lehre, der Qualitätssicherung, der Überprüfung und Weiterentwicklung klinisch-diagnostischer Methoden, der Erfassung von Therapieeffekten und der Epidemiologie von Krankheiten und deren Vorstufen und damit auch der Krankheitsprävention.

Molekularpathologie bedient sich der Erkenntnisse und Methoden der modernen Molekularbiologie (einschließlich Biochemie, Genetik, Zellbiologie, Biophysik) bei Einsatz an pathologischem Humanmaterial. Wesentlich sind auch die Untersuchungen an Krankheitsmodellen in vivo und in vitro (z.B. Zellkultur, Tierversuch, genetisch modifizierte Organismen). Dies beruht auf der Überlegung, dass die „Krankheit“ einer „Karikatur des Normalen“ entspricht und das Verständnis für krankhafte Veränderungen, deren Entwicklung und eventuelle therapeutische Beeinflussung Kenntnisse der Normalsituation voraussetzt. Wichtige molekularpathologische Fragestellungen ergeben sich im Bereich von Infektions-, Stoffwechsel- und Tumorerkrankungen. Abbildung 4.

Nachweis einer Hepatitis-B-Virus InfektionAbbildung 4 . Nachweis einer Hepatitis-B-Virus Infektion. Immunhistochemische Darstellung von Komponenten des Hepatitis-B-Virus in der Leber zum Nachweis einer Virusinfektion. Im linken Bild ist das Hepatitis-B-Core-Antigen (braun), im rechten das Hepatitis-B-Oberflächen-Antigen (rot) dargestellt.

Aus dem Gesagten geht hervor, dass in der Pathologie Grundlagenforschung und klinische Pathologie im Sinne einer Translation an das Krankenbett eng verknüpft sind. Moderne Medizin ist ohne die Beiträge der Pathologie undenkbar.

Conclusio:

Wie in allen Bereichen der Medizin weiß auch der Pathologe nicht alles, kann nicht alles, kommt aber ebenso wenig immer zu spät.