So, 11.05.2025 — Ricki Lewis
Der englische Schriftsteller Rudyard Kipling hat die Gute-Nacht-Geschichten, die er seiner Tochter erzählte, 1902 unter dem Titel "Just so stories" herausgebracht. Die phantasievollen Geschichten erklärten "just so" (genau so), d.i. in Worten, an die seine Tochter gewöhnt war, wie Tiere ihre charakteristischen Merkmale, wie Flecken, Rüssel, Höcker, etc erhalten hatten - alles mit dem Ziel besser überleben zu können. Von einer derartigen zielgerichteten Strategie ist auch in einem aktuellen Bericht zu lesen: Einige Pflanzen haben Aasgeruch entwickelt, um Insekten anzulocken und von diesen bestäubt zu werden. Die Genetikerin Ricki Lewis wendet sich gegen eine derartige Interpretation und erklärt, warum die Evolution von Merkmalen nicht zielgerichtet erfolgt.*
Nicht alle Blumen verströmen Gerüche, die auf den Menschen anziehend wirken. Drei Arten blühender Pflanzen - Asarum simile, Eurya japonica und Symplocarpus renifolius - riechen wie verwesendes Fleisch oder Exkremente. Ursache ist das Enzym Disulfidsynthase. Dieses Enzym ist auch in den Mundgeruch beim Menschen involviert, der an den Klassiker der amerikanischen Rockband Lynyrd Skynyrd denken lässt "Ooh, that smell The smell of death surrounds you.".
Ein neuer Bericht von Yudai Okuyama und Mitarbeitern an der Universität Tokio in der Fachzeitschrift Science zeigt, wie eine anfängliche Veränderung des Enzyms vor langer Zeit den Blumenduft in einer Weise veränderte, dass sich eine Nische für neue Bestäuber eröffnete [1].
Von Kipling bis Darwin
Stinkende Blumen bieten ein weiteres Beispiel für die „Just-So“-Stories ("Genau-so"-Geschichten), die der englische Journalist, Romancier und Dichter Rudyard Kipling 1902 veröffentlichte.
Abbildung 1. Titelblatt von Rudyard Kiplings "Just so Stories". Erste Ausgabe 1902. Die Gutenacht-Geschichten wurden genau so, d.i. in Worten an die Kiplings Tochter gewöhnt war, erzählt und veranschaulichen, wie die Tiere ihre besonderen Merkmale erhalten haben. ,http://www.biblio.com/just-so-stories-by-kipling-rudyard/work/732, (Bild und Text von Redn eingefügt.Lizenz:gemeinfrei.) |
Kiplings phantasievolle Erklärungen der Natur haben dazu beigetragen, dass ich mich als kleines Kind für Naturwissenschaften begeisterte. Er erklärte bekanntlich „wie der Leopard zu seinen Flecken gekommen ist“, „wie das Kamel seinen Höcker bekommen hat“ und „wie das Nashorn seine Haut bekommen hat“. [2; von Redn. eingefügt.]
Heute ermöglichen die Entdeckungen in der Genetik den Blick zurück in die Vergangenheit, um herauszufinden, wie Merkmale entstanden und erhalten geblieben sind. Ich habe in meinem DNA -Science-Blog (Anm. Redn.: https://dnascience.plos.org/) über mehrere genetische „Just-so“-Geschichten berichtet: Wie das Schuppentier seine Schuppen bekam [3] , wie die Giraffe ihre Flecken bekam, wie der Tabby seine Streifen bekam und wie der Mensch seinen Schwanz verlor.
Kiplings Geschichten inspirierten mich dazu, wie Darwin darüber nachzudenken, wie charakteristische Merkmale entstanden sind. Ein neues Merkmal entsteht nicht durch eine gezielte Handlung des Leoparden, des Kamels, des Nashorns, der Katze oder der blühenden Pflanze. Stattdessen begünstigt die natürliche Auslese ein vorteilhaftes vererbtes Merkmal, vielleicht aufgrund einer neuen Mutation, die zu einer größeren Verbreitung führt.
Aber warum sind bestimmte Merkmale vorteilhaft? Hier kommt die Fantasie ins Spiel.
- Die Flecken eines Leoparden und die Streifen eines Tabby? Tarnung.
- Die gepanzerte lange Nase eines Schuppentiers? Schirmt ab und schützt auch vor Hautinfektionen.
- Die verschwindenden Schwänze unserer entfernten Vorfahren? Die Fähigkeit, aufrecht zu stehen und schließlich zu gehen.
Organische Chemie erklärt den Geruch
Der unverwechselbare Geruch nach fauligem Fleisch einer Asarum-Blüte entsteht durch organische Reaktionen - unter organisch versteht man ursprünglich kohlenstoffhaltige Verbindungen, nicht den übernommenen populären Begriff.
Abbildung 2. Disulfidsynthasen sind in Tier und Pflanzen konservierte Enzyme; bestimmten Blumen verleihen sie den Geruch von Aas und Dung, der neue Bestäuber anlockt. Der Gestank wird durch Dimethyldisulfid und Dimethyltrisulfid verursacht. © 2025 National Museum of Nature and Science, gezeichnet von Yoh Izumori. |
Für den Blütengeruch ist das Molekül Dimethyldisulfid (DMDS) verantwortlich Es bildet sich spontan während des Stoffwechsels, wenn sich ein kleineres Molekül, Methanthiol (Methan plus Schwefel, der Stoff, aus dem die Fürze sind), zu Dubletten verbindet (dimerisiert).Abbildung 2.
Die Forscher haben außerdem ein überaktives Gen in den Blumen identifiziert. Das Gen kodiert für ein Protein, das das Element Selen bindet. Dieses Protein entgiftet beim Menschen Methanthiol (aus dem ersten Schritt) und setzt dabei Wasserstoffperoxid, Schwefelwasserstoff und Formaldehyd frei. Menschen, die Mutationen in diesem Gen haben, sind durch die Eigenschaft charakterisiert, dass sie nach Kohlgeruch stinken.
In Pflanzen ist die Biochemie jedoch anders. Anstatt das Trio von Verbindungen wie der Mensch auszustoßen, geben Asarum-Blüten das (für uns) extrem übel riechende DMDS ab. Vor langer, langer Zeit mutierte ein entfernter gemeinsamer Vorfahre der drei modernen stinkenden Arten auf eine Weise, die den Stoffwechsel so veränderte, dass DMDS freigesetzt wurde. Wenn bestimmte Bestäuber es anziehend fanden, hatten diese Pflanzen einen Fortpflanzungsvorteil und konnten sich so halten.
Der neue Geruch entstand durch einen in der Evolution üblichen Mechanismus - Genduplikation. So wie man beim Kauf eines neuen Laptops einen alten als Reserve behält, „probiert“ die Evolution manchmal eine neue Funktion in einem Genduplikat aus, ohne die Aktivität des ursprünglichen Gens auszulöschen.
Die Evolution ist nicht zielorientiert
Elegante Experimente haben erklären lassen, wie bestimmte Pflanzen einen Geruch entwickelten, der an Kohl, stinkende Füße, Furze und fauliges Fleisch erinnert. Leider werden in einem begleitenden Artikel von Lorenzo Caputi und Sarah E. O'Connor vom Max-Planck-Institut für chemische Ökologie in Deutschland die üblichen Fehler bei der Erklärung der Evolution gemacht, die die falsche Annahme nähren, dass diese zielgerichtet ist [4].
Die Evolution verfolgt kein Ziel. Würden Bakterien, Würmer, Kakteen oder Pilze neue Eigenschaften entwickeln, weil sie es einfach wollten?
Caputi und O'Connor verfallen auch in einen phantasievollen Anthropomorphismus; sie bezeichnen den Geruch als „strategische Täuschung, bei der Insekten, die sich normalerweise von verrottenden organischen Stoffen ernähren, dazu verleitet werden, diesen Blumen einen Besuch abzustatten, was zu einer ungewollten Bestäubung durch die Insekten führt. Die Aufnahme dieser schwefelhaltigen Moleküle hat es den Pflanzen also ermöglicht, das Verhalten der Insekten zu überlisten, ohne ihnen etwas dafür zu bieten."
Die begleitende Pressemitteilung von Science ist nicht viel besser: "Manche Pflanzen locken Bestäuber nicht mit süßen Düften, sondern mit dem Gestank der Verwesung. In einer neuen Studie zeigen Forscher, wie Pflanzen das anstellen." Und wir sind wieder bei den "just so Geschichten.
Mutationen geschehen zufällig, als eine Folge der Chemie. Wenn eine genetische Veränderung zu einer nützlichen Merkmalsvariation führt - wie einem fauligen Geruch, der für bestimmte Insektenbestäuber köstlich ist - dann bleibt sie bestehen, weil diese Pflanzen einen Fortpflanzungsvorteil haben. Mehr Insekten besuchen sie.
In diesen Zeiten der Kürzungen in der wissenschaftlichen Forschung und an Universitäten ist es wichtiger denn je, experimentelle Ergebnisse in einer entsprechenden Sprache zu kommunizieren - es gibt keinen Grund, die Wissenschaft zu verdummen.
[1] Yudai Okuyama et al., Convergent acquisition of disulfide-forming enzymes in malodorous flowers. Science 8 May 2025 Vol 388, Issue 6747, pp. 656-661
[2] Rudyard Kipling (1902): Just So Stories. Nachzulesen (in Englisch) https://www.telelib.com/authors/K/KiplingRudyard/prose/JustSoStories/index.html
[3] Ricki lewis, 5..1.2017: Wie das Schuppentier zu seinen Schuppen kam.
[4] Lorenzo Caputi et al., Flowers with bad breath. How an old gene acquired a new function to exploit an insect’s sense of smell, Science 8 May 2025 Vol 388, Issue 6747, pp. 586-587
*Der Artikel ist erstmals am 8.Mai 2025 in PLOS Blogs - DNA Science Blog unter dem Titel "How Flowers Came to Smell like Rotted Flesh: Another Genetic Just-So Story" erschienen (https://dnascience.plos.org/2025/05/08/how-flowers-came-to-smell-like-rotted-flesh-another-genetic-just-so-story/) und steht unter einer cc-by Lizenz . Die Autorin hat sich freundlicherweise mit der Übersetzung ihrer Artikel durch ScienceBlog.at einverstanden erklärt. Die Übersetzung folgt so genau als möglich der englischen Fassung. Abbildung 1 wurde von Redn eingefügt.
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