Fr, 14.02.2013 - 04:20 — Gottfried Schatz
Die sieggewohnten Naturwissenschaften sind heute dreifach bedroht. Sie kämpfen gegen den Verlust einer gemeinsamen Sprache, überbordendes Konkurrenzdenken und die Grenzen menschlicher Vorstellungskraft.
Für den Astronomen Carl Sagan war Wissenschaft eine Kerze in einer dunklen und von Dämonen besessenen Welt. Und in der Tat: Das Licht dieser Kerze schützt uns vor dem Dunkel unbegründeter Ängste, sinnloser Zwänge und entwürdigender Vorurteile. Es wuchs aus vielen Funken, die sich in den letzten zwei Jahrhunderten zu einer mächtigen Flamme vereinten. Vor allem gilt dies für die Naturwissenschaft. Noch im frühen 19. Jahrhundert war sie in unzählige Einzelfächer aufgespalten, die sich emsig dem Schaffen und Ordnen von Detailwissen widmeten und im Schatten genialer Denker wie Kant und Schopenhauer standen
Sprachverlust…
Wissen ist jedoch keine Ware, die sich verpacken, etikettieren und für alle Zeiten ablegen lässt; es gehorcht seinen eigenen Gesetzen, die wir weder genau kennen noch ändern können. Wissen gleicht einem Zoo wilder Tiere, die ihre trennenden Gitter durchbrechen und unerwartete Nachkommen zeugen. Jean-Paul Sartres Ausspruch «Nicht wir machen Krieg; der Krieg macht uns» gilt auch für das Wissen. Unter dem Ansturm der wissenschaftlichen Forschung verändert es sich ohne Unterlass und verändert damit auch uns. Wir mögen es zwar kurzfristig bändigen oder sogar verfälschen, doch auf lange Sicht ist es stets stärker als wir. Das Victor Hugo zugeschriebene Zitat «Nichts ist mächtiger als eine Idee, deren Zeit gekommen ist» ist zwar nicht authentisch, aber dennoch wahr.
Diese Dynamik des Wissens schöpft ihre Kraft aus der Zwiesprache der Wissenschafter und deren Bereitschaft, Wissen an die folgenden Generationen weiterzugeben. Erst als Naturwissenschafter verschiedener Disziplinen miteinander zu sprechen begannen, offenbarte sich ihr gemeinsames Wissen als Quelle grosser Wahrheiten über uns und die Welt. Das einigende Band dieser Zwiesprache machte die Naturwissenschaften zu einer philosophischen Kraft des 20. Jahrhunderts.
Heute droht dieses Band zu zerreissen. Eine Vorwarnung war die Entfremdung zwischen den «Natur»- und den «Geistes»-Wissenschaften, die der britische Physiker Charles Percy Snow in seiner berühmten Rede «The Two Cultures» am 7. Mai 1959 im Senate House der Universität Cambridge mit grosser Eindringlichkeit beklagte: Seine Worte «Ich hatte dauernd das Gefühl, mich zwischen zwei Gruppen zu bewegen, die kaum noch miteinander sprachen» haben nichts von ihrer Gültigkeit eingebüßt. Naturwissenschafter sollten sie besonders ernst nehmen, sind sie doch auf dem besten Wege, ihre gemeinsame Sprache zu verlieren.
…und babylonische Sprachverwirrung
Diese babylonische Sprachverwirrung bedroht vor allem die Biologie und andere schnell wachsende Disziplinen, in denen die genaue Beschreibung einer rasant anwachsenden Vielfalt von Objekten und experimentellen Methoden eine zentrale Rolle spielt. Wohl deshalb sind die meisten biomedizinischen Vorträge heute mit wissenschaftlichem Jargon und unnötigen technischen Details derart überfrachtet, dass nur Experten des jeweiligen Spezialfachs sie noch verstehen können. Vorträge mit weit über hundert Power-Point-Projektionen komplexer Collagen aus vielen Einzelbildern sind keine Seltenheit, wobei meist nur ein winziger Bruchteil der projizierten Datenflut im Vortrag Erwähnung findet.
Berauscht von der technischen Virtuosität ihrer schwierigen Experimente verzichten Vortragende immer häufiger darauf, das Ziel und die breitere Bedeutung ihrer Ergebnisse in einfachen Worten zusammenzufassen. Während meiner aktiven Forschertätigkeit hatte ich mich an diesen Verfall wissenschaftlicher Kommunikation gewöhnt, doch jetzt, in der Distanz meiner Emeritierung, zeigt er sich mit bestürzender Klarheit.
Die grossen internationalen Wissenschaftskongresse drohen zu Trade-Shows zu verkommen, an denen die ausgestellten Geräteneuheiten und Bücher den wissenschaftlichen Dialog in den Hintergrund drängen. Wenn Kongressteilnehmer die meisten wissenschaftlichen Vorträge nur noch vage verstehen, zerbröckelt die mühsam erkämpfte Einheit der Naturwissenschaften. Datenflut und Konkurrenzdenken
Zu diesem Sprachverlust gesellt sich eine gewaltige Herausforderung des Wissenschaftsbetriebes durch das dramatische Anwachsen von Daten und Wissen. Dieses Wachstum begann im frühen 18. Jahrhundert, beschleunigte sich bald darauf exponentiell und ist seit einigen Jahrzehnten sogar hyperbolisch. Sollte es ungebremst andauern, würde es um die Mitte dieses Jahrhunderts ins Unendliche explodieren. Natürlich ist dies unmöglich, da auch jedes nichtlineare Wachstum in einer endlichen Welt unweigerlich an seine Grenzen stößt. Doch schon heute haben Naturwissenschafter immer grössere Mühe, ihre Ergebnisse in wissenschaftlichen Zeitschriften zu veröffentlichen, obwohl auch deren Zahl unablässig anschwillt.
Die Folge ist eine bizarre Zeitschriften-Hierarchie, in der einige wenige «Prestige-Zeitschriften» das Feld beherrschen. Und diese ermahnen ihre Begutachter oft unverblümt, möglichst viele der eingesandten Manuskripte ohne Prüfung durch unabhängige Experten abzulehnen, um das Renommee der Zeitschrift zu wahren. Da auch die Zahl der biomedizinischen Forscher in den letzten Jahrzehnten stark angewachsen ist, sind Konkurrenzdenken, Unsicherheit und Aggressivität im heutigen Forscheralltag weit verbreitet. Der Wettstreit der Besten wird zu dem der Lautesten. Könnte dies erklären, weshalb immer noch so wenige Frauen eine Karriere in der biomedizinischen Forschung anstreben? Wie weit geht unsere Vorstellungskraft?
So beunruhigend der drohende Verlust einer gemeinsamen Sprache und des Gemeinschaftssinns auch ist – die größte Bedrohung der Naturwissenschaft könnte ihr eigener Erfolg sein. Sie schenkte uns atemberaubende Erkenntnisse über unsere Welt, unser Wesen und unsere Herkunft und hat dabei jahrtausendealte Traditionen über den Haufen geworfen. Die Entdeckungen von Physik, Astronomie, Chemie und Biologie begeisterten die Menschen und machten die DNS-Doppelhelix und das Satellitenbild unseres blauen Planeten zu Ikonen unserer Zeit. Je tiefer die Naturwissenschaft jedoch in die Geheimnisse der Welt eindringt, desto abstrakter werden ihre Entdeckungen.
Schon längst verstehen nur wenige Eingeweihte, was die unterirdischen Riesenmaschinen am CERN uns verkünden sollen oder was kurz vor dem Urknall geschah. Ich vermute, dass das öffentliche Interesse am Higgs-Boson, am Raum-Zeit-Kontinuum oder an den Geheimnissen des Universums sich nicht so sehr an den wissenschaftlichen Resultaten, sondern an dem gigantischen personellen und finanziellen Aufwand für den Large Hadron Collider, dem exzentrischen Charisma eines alternden Albert Einstein oder der Tragik des genialen, schwerstbehinderten Astrophysikers Stephen Hawkings entzündet. Immer häufiger beantwortet die Natur unsere Fragen mit mathematischen Formeln, die den meisten von uns ebenso unverständlich und unvorstellbar sind wie ein vierdimensionaler Würfel oder die Heilige Dreifaltigkeit. Wo sind die Wissensvermittler?
Selbst die bisher so anschauliche Biologie wagt sich nun als Systembiologie in ein Labyrinth immens komplexer Netzwerke, in denen nur elektronische Gehirne sich noch zurechtfinden. Die Erkenntnisse der Naturwissenschaft nähern sich heute den Grenzen menschlicher Vorstellungskraft und verlieren damit das Vermögen, unser inneres Leben zu bereichern. Mehr denn je braucht es Wissensvermittler, welche die Bedeutung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse für unser Menschenbild und unser tägliches Leben in einfachen Worten und dennoch sachlich korrekt erklären. Dies können nur wenige Naturwissenschafter; bei ihren Fachkollegen gelten sie oft als publicitysüchtig, und wenn sie Hilfe bei den Geisteswissenschaften suchen, kämpfen sie nicht selten gegen eine tief verwurzelte Abwehrhaltung und eine unnötig komplizierte Sprache, die ebenso unverständlich sein kann wie das detailbesessene Newspeak der Naturwissenschaften.
Wenn es uns nicht gelingt, diese Hürden zu überwinden und weiterhin junge Menschen für naturwissenschaftliche Forschung zu begeistern, werden die lachenden Dritten Esoterik, Spiritismus und Aberglaube sein. Sie sind die lichtscheuen Dämonen, von denen Carl Sagan sprach.
Nur das Licht der Wissenschaft schützt uns vor ihnen.
Anmerkungen der Redaktion
Zum Problem des Niedergangs wissenschaftlicher Kommunikation (des „Sprachverlusts“) ist im Science-Blog kürzlich der Artikel »Umweltökologie und Politik - Der Frust der nicht gehörten Wissenschaftler« erschienen.
Der 2-teilige Beitrag: »Woraus unsere Welt besteht und was sie zusammenhält« demonstriert, wie Wissen in einem unsere Vorstellungskraft übersteigenden Gebiet vermittelt werden kann.
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