Fr, 06.12.2013 - 07:38 — Christian Noe
Vor wenigen Tagen fand die Verleihung des Ignaz-Lieben Preises statt. Dieser prestigeträchtige, älteste Preis der Österreichischen Akademie der Wissenschaften wurde 1863 gestiftet und 1938 auf Grund der Verfolgung der Stifterfamilie eingestellt. Durch großzügige finanzielle Unterstützung von Isabel und Alfred Bader konnte der Preis 2004 reaktiviert werden. Der Chemiker Christian Noe war essentiell in diese Reaktivierung involviert; der nachfolgende Text ist die leicht gekürzte Fassung seines Vortrags zum heurigen 10-Jahresjubiläum der Preisvergabe.
Unser Dasein scheint kontinuierlich dahinzufließen, manchmal gemächlich, manchmal in reißendem Fluss. Ganz selten sind jene besonders intensiv erlebten Momente, welche sich bildhaft im Kopf festsetzen - manchmal für die Dauer des ganzen Lebens. Von einige wenigen solcher unvergesslicher Momente soll hier die Rede sein, um das scheinbar zufällige Zustandekommen und den Ablauf des Lieben-Projektes zu schildern, das seinen Höhepunkt in der Wiedererrichtung des Ignaz-Lieben Preises vor 10 Jahren fand.
Das Ignaz-Lieben Projekt ist ganz eng mit Alfred Bader verknüpft, jenem Mann der - als Kind aus Wien vertrieben - in einer schier unglaublichen Karriere das weltweit größte Feinchemieunternehmen geschaffen hat: Sigma-Aldrich. Es gibt kaum ein chemisches oder biologisches Labor in der Welt, in welchem sich nicht ein Katalog dieser Firma findet.
Alfred Bader und das Loschmidt-Projekt
Alfred Bader habe ich vor etwa 30 Jahren durch meinen Mentor Paul Löw-Beer kennengelernt.
Abbildung 1. Alfred Bader (Quelle: http://www.chemheritage.org)
Einige Jahre später hat mich Alfred Bader gebeten in der Österreichischen Nationalbibliothek jenes weithin unbekannte Buch von Josef Loschmidt aus dem Jahre 1861 aufzustöbern, in welchem die erste Benzolformel abgebildet sein sollte [1]. Als ich das Buch aufschlug war ich perplex: Eine Abbildung des Äthylens war vor meinen Augen, dargestellt als Überlappung zweier Kohlenstoffatome, mit eingezeichneter Doppelbindung und den kleinen Wasserstoffatomen an den richtigen Positionen (siehe [2]: p. 198) – ein unvergesslicher Moment: Das sollte 1861 gezeichnet gewesen sein, lange bevor es auch nur die üblichen Strichformeln gab? Sei´s drum! Ich schickte die Kopien in die USA und Alfred Bader hielt – mit mir als Koautor - einen Vortrag bei der Jahrestagung der Amerikanischen Chemischen Gesellschaft „Loschmidt, not Kekule, published first benzene-ring diagrams“. Dies war der Beginn eines langen, gemeinsamen Weges, der in die Chemiegeschichte führte und Josef Loschmidt zum Mittelpunkt hatte.
Der großartige Visionär Loschmidt stellte ein Faszinosum für den spontan bilderfassenden Eidetiker Alfred Bader dar [2]. Mir wiederum wurde durch diese Beschäftigung immerhin klar, weshalb Loschmidt seine Zahl errechnet hat [1], und dass er in der Vorbereitung dazu quasi nebenher in genialer Weise einen geradezu perfekten Entwurf zur Konstitution der organischen Moleküle vorgelegt hat.
Alfred Bader trieb mich beharrlich an und hielt Vortrag um Vortrag: Für ihn war das Ganze auch ein Kampf gegen die Borniertheit von Chemiehistorikern. Josef Loschmidt musste einfach die ihm gebührende Anerkennung erhalten. Das Anliegen beherrschte ihn. Loschmidt wurde so zum Loschmidt-Projekt. 1995 zum 100 jährigen Todesjahr sollte ein Symposium stattfinden.
Robert Rosners Weg zum Chemiehistoriker
Ein weiterer unvergesslicher Moment: Ich stand an der Ecke Ring-Währingerstrasse. Wegen meiner anstehenden Berufung an die Universität Frankfurt musste ich eine Lösung für das Loschmidt-Projekt finden. Wilhelm Fleischhacker, damals Dekan der Naturwissen-schaftlichen Fakultät hatte sich bereit erklärt, die Schirmherrschaft über das Projekt zu übernehmen. Aber wer würde die notwendige wissenschaftliche Detailarbeit koordinieren? In diesem Moment tauchte aus der Tiefe der Rolltreppe Dr. Robert Rosner auf, der engste und treueste Mitarbeiter von Paul Löw-Beer in der Loba-Chemie. War das gar ein „deus ex machina“?
„Wie geht es Ihnen?“
„Ich bin jetzt in Pension.“
„Was machen Sie jetzt?“ „Ich studiere Geschichte.“
„Sie sind ein ausgezeichneter Chemiker. Sie sollten Chemiegeschichte studieren. Es gibt da ein ganz tolles Projekt, noch dazu gemeinsam mit Alfred Bader“.
Rosner wurde ein Eckpfeiler des Loschmidt Symposiums 1995 und nebenher einer der profiliertesten österreichischen Chemiehistoriker.
Die Geburt des Lieben-Projekts
Ein nächster Moment, ca. 15 Jahre später: Zurückberufen in die Heimat, immer noch voller Sendungsbewusstsein und optimistischem Gestaltungswillen, hatte mich der Zufall zum Dekan der Fakultät für Naturwissenschaften und Mathematik der Universität Wien gemacht. Dr. Rosner besuchte mich im imperialen Büro:
„Haben Sie schon etwas vom Ignaz-Lieben Preis (Abbildung 2) gehört?“
„Nein!“
„Der größte Preis der Akademie der Wissenschaften, von den Nationalsozialisten abgeschafft [3]. Man müsste ein Symposium dazu machen. Das ist aber nicht einfach zu finanzieren.“
„Wen interessiert schon ein Symposium über einen nicht mehr existierenden Preis. Wenn schon, dann muss man den Preis wiedererrichten.“
Abbildung 2. Ignaz-Lieben Preis (benannt nach dem Gründer des Bankhauses Lieben, rechts): Stiftungsbrief datiert 1862, signiert von Adolf Lieben.
Es kam spontan, von naivem Optimismus getragen. Das war der Beginn des Lieben-Projektes. Natürlich benötigten wir vor allem die Rückendeckung der Akademie der Wissenschaften. Peter Schuster, der damalige Vizepräsident, den ich persönlich kannte und als besonders konstruktiv schätzte, gab - wie erhofft - sofort die Zustimmung. Das Projektteam konnte aufgestellt werden.
Ein Kern von „Aktivisten“ hatte sich schon im Zuge des Loschmidt Projektes gebildet. Hans Desser konnten wir als Generalsekretär gewinnen. Dr. Wolfgang Lieben-Sutter vertrat die Stifterfamilie. Die Chemiehistoriker waren u.a. mit Bobby Rosner, Werner Soukup und Gerhard Pohl präsent, für journalistische Kontakte war Reinhard Schlögel zuständig.
Nicht nur der Preis selbst sollte wiedererrichtet werden. Es sollte auch Ausstellungen geben. Also fand sich auch Georg Haber, der Direktor des Jüdischen Museums, in unserer Runde. Die Ideen sprudelten nur so: Ein wissenschaftliches Symposium anlässlich der Eröffnung, künstlerische Portraits der Preisträger von Udo Wid, und sogar eine Lesung von Carl Djerassi.
Wer aber wird den Lieben-Preis finanzieren?
Wie immer im Juni, war Alfred Bader mit seiner Frau Isabel auch 2003 nach Wien gekommen. Wie üblich sollte es vor allem eine Woche des Beisammenseins mit alten Freunden und mit viel Kunst sein. Der Zufall wollte es, dass zeitgleich im Kleinen Festsaal der Universität eine Tagung stattfand: „Österreich und der Nationalsozialismus – Die Folgen für die wissenschaftliche und humanistische Bildung“. Bader ging mehrmals hin und war sichtlich beeindruckt. „Ich dachte, es gibt in Wien nur wenige anständige Freunde, der Rest verwurzelt in der braunen Vergangenheit. Aber die Jugend ist ganz anders. Ich will das Geld für die Wiederrichtung des Lieben-Preises geben.“
Er sagte das spontan mit leichtem Lächeln und kam mir glücklich und irgendwie befreit vor. Ein vertriebener Jude als Stifter des neuen Lieben-Preises, rückblickend fast beschämend, voraussehend ein anhaltendes Zeichen des Sieges der Humanität über alle Gemeinheit hinweg.
Ich musste Dr. Wolfgang Lieben-Seutter zum Kaffee nach Hause einladen. Alfred Bader, ganz schüchtern:
„Erlauben Sie mir, dass ich das Geld für einen Preis gebe, welcher wieder den Namen Ihrer Familie trägt?“
Ein Brautvater, den der Bräutigam mit einem Heiratsantrag für seine Tochter überrascht, konnte nicht verdutzter sein, als es Dr. Lieben war. Auch das: ein unvergesslicher Moment und Anblick – alle waren glücklich. Es galt noch einige Feinheiten festzulegen: Der Preis sollte über die Grenzen hinweg, auch in den anderen Ländern der ehemaligen Donaumonarchie, ausgeschrieben werden. Das Preisgeld sollte 18.000 Dollar – später 36.000 Dollar – betragen, wie beim alten Preis: Nicht ohne Grund: 18 - Chai: die Zahl, die bei den Juden für das Leben steht! Auch der Preis lebte wieder.
Die Wiedergeburt des Lieben-Preises
Die zahlreichen Veranstaltungen zur Wiedererrichtung verliefen wie geplant, samt einem Konzert im Wiener Konzerthaus. Beim Gespräch im Senatsaal der Universität trafen sich die beiden Schulkollegen Alfred Bader und Carl Djerassi – und redeten erstmals seit jener Zeit wieder in deutscher Sprache miteinander.
Der erste neue Lieben-Preis wurde an den ungarischen Neurophysiologen Zoltan Nusser verliehen. Isabel und Alfred Bader nahmen zufrieden und glücklich an der Veranstaltung teil. Im Englischen gibt es den Ausdruck der „good chemistry“ zwischen Menschen. Eine solche bestand zwischen den Ehepaaren Bader und Mang, dem damaligen Präsidenten der Akademie. Auch das erwies sich als gute Fügung.
und die Stiftung der Baderpreise
Die Wien-Besuche der Baders in den nächsten Jahren waren eine Zeit voller positiver Dynamik. In fast logischer Konsequenz wurden die beiden Bader-Preise nacheinander ins Leben gerufen:
- Der Bader Preis für Geschichte der Naturwissenschaften, inspiriert durch die Loschmidt-Forschung und
- der Bader Preis für Kunstgeschichte, getragen von dem Wunsch des Stifters und genialen Experten für Barockkunst, dass diese in der Stadt des Barocks auch umfassend gewürdigt werden sollte.
Bader - der Mäzen
Das Triptychon der von Bader gestifteten Preise – ein Zufall? „Als zufällig bezeichnen wir eine Sache nur, wenn wir ihre Ursache nicht kennen.“ hat schon Baruch Spinoza in den Ethika geschrieben.
Alfred Bader hat sein erfolgreiches Leben aus der Wissenschaft heraus entwickelt. Die Chemie hat ihm von Anfang an Halt gegeben und ihn zeitlebens begleitet. Der Lieben Preis soll daher den Besten ihres Faches den weiteren Berufsweg ebnen. Das war neben der großartigen Versöhnungsgeste sein eigentliches Motiv, das Preisgeld bereitzustellen.
In der Chemiegeschichte wiederum hat der Industrielle Alfred Bader in späten Jahren wieder zu eigener Forschungsarbeit gefunden, mit dem Ziel zur historischen Wahrheit zu gelangen, dabei Wesentliches aufzuzeigen und zugleich einem großen Wissenschaftler Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Dieser Preis soll vor allem auch jüngere Naturwissenschaftler motivieren, sich mit der Geschichte und der gesellschaftlichen Bedeutung ihres Faches zu befassen.
Der Preis für Kunstgeschichte scheint da zunächst nicht hineinzupassen: „Studiere die Wissenschaft der Kunst! Studiere die Kunst der Wissenschaft! Nimm wahr, dass alles mit allem anderen verbunden ist!“ heißt es allerdings schon bei Leonardo da Vinci. Die Liebe zum Sammeln, die Liebe zur Kunst sind gleichermaßen wie alles andere Tun von Alfred Bader Ausdruck einer intellektuellen Gesamtpersönlichkeit. Im Geschäftsleben handelt er beherrscht und scharf logisch denkend. Auf der anderen Seite vermag er durch seine besondere eidetische Begabung in Bruchteilen von Sekunden spontan Verborgenes in Bildern wahrzunehmen, das dem normalen Betrachter verschlossen bleibt.
Das erfüllte und erfolgreiche Leben Alfred Baders ist somit zugleich auch eine Mahnung an Naturwissenschaftler, sich aus der Beschränktheit ihrer Disziplinen herauszubewegen.
Die Ignaz-Lieben Gesellschaft zur Erforschung der Geschichte der Naturwissenschaften
Das Ignaz-Lieben-Projekt war mit der Preis-Wiedererrichtung allerdings nicht ganz abgeschlossen. Die Idee einer engen Zusammenarbeit von Naturwissenschaftlern und Historikern sollte in einem Initiativkolleg der Universität weiterleben. Der Wissenschaftshistoriker Mitchell Ash, Professor an der Universität Wien, hat hier von Anfang an die Federführung übernommen, mit großem Erfolg das Initiativkolleg zur Bewilligung geführt und aus diesem mittlerweile ein großes FWF-Doktoratsprogramm entwickelt.
Zusätzlich wurde 2006 die Ignaz-Lieben-Gesellschaft gegründet, deren Ziel eine umfassende Förderung und Dokumentation der Geschichte der Naturwissenschaften in Österreich und den angrenzenden Ländern der ehemaligen Donaumonarchie ist, wobei die gegenseitige Durchdringung von Wissenschaft, Gesellschaft, Politik und Kultur herausgearbeitet werden soll. Die systematische Zusammenarbeit von an Geschichte interessierten Naturwissenschaftlern mit professionellen Historikern bewährt sich, die Gesellschaft verweist auf ein sehr erfolgreiches Wirken. Parallel zur Lieben-Preisverleihung findet jährlich entweder ein Workshop oder ein Symposium statt, beispielsweise „Über die Wurzeln der Sexualhormonforschung“ (2008), in welchem Zeitzeugen vortrugen, „Zentraleuropäische Wissenschaft und Technologie im frühen 20. Jahrhundert“ waren Themen der folgenden Veranstaltungen. Auch das heurige Symposium knüpft mit „Wissenschaft, Technik, Industrie und das Militär in der Habsburgermonarchie im 1. Weltkrieg” an diese Themen an. welches vor zwei Wochen an der Technischen Universität stattfand, war ein Erfolg. Details zur Ignaz-Lieben-Gesellschaft und zu ihren Veranstaltungen finden sich auf der homepage: http://www.i-l-g.at/. .
Vor nicht einmal 200 Jahren, hat der große Wortschöpfer William Whewell den Begriff „scientist“ als Bezeichnung für jene Naturphilosophen geprägt, welche ihre Wissenschaft auf das Messbare und Wägbare beschränken wollten. Letztlich ging es dabei um den aufkommenden grundsätzlich reduktionistischen Ansatz der Experimentalforschung, welcher mittlerweile den Triumph und die Dominanz der modernen Naturwissenschaften herbeigeführt hat. Die damals kreierten Fachdisziplinen - wie Physik, Chemie, Biologie - haben sich mittlerweile zu Wissenschaftsstämmen mit eigener Kultur entwickelt. Von manchen werden sie bereits als beengende Silos wahrgenommen. Heute ist es daher ein wichtiges Anliegen geworden, die reduktionistische Enge der Wissenschaftsdisziplinen aufzubrechen. Diese Forderung gilt nicht zuletzt auch für die unzeitgemäße Trennung von Geistes- und Naturwissenschaften. Mit ihrer verpflichtenden Zusammenarbeit von Geistes- und Naturwissenschaftlern kann die Lieben Gesellschaft dazu sicher einen Beitrag leisten.
[1] Der Chemiker und Physiker Joseph Loschmidt (1821 - 1895), Professor an der Universität Wien. stellte in seinem 1861 erschienenen Buch „ Chemische Studien“ als erster Strukturformeln organischer Verbindungen dar - insgesamt von 368 Verbindungen -, wobei er für Benzol eine ringförmige Struktur vorschlug (4 Jahre vor Kekule, dem die Entdeckung des Benzolrings zugeschrieben wird). Loschmidt folgerte, daß die meisten aromatischen Verbindungen als Derivate des Benzols C6H6 angesehen werden können, ebenso wie die aliphatischen Verbindungen als Derivate des Methans CH4. Bekannt wurde Loschmidt vor allem durch die nach ihm benannte Konstante: der Zahl der Moleküle eines idealen Gases, die sich in einem definierten Volumen befinden.
[2] A.Bader, Josef Loschmidt the father of Molecular Modelling . Royal Institution Proceedings 64 (1992), pp. 197–2–05. http://www.loschmidt.cz/pdf/father.pdf (link existiert nicht mehr)
[3] Der Ignaz-Lieben-Preis - 1862 von Adolf Lieben gestiftet –wurde 1937 zum letzten Mal verliehen. Durch eine großzügige Stiftung von Alfred Bader konnte er 2004 zum ersten Mal wieder vergeben werden.
Weiterführende Links
http://www.i-l-g.at/PDF/dokumente/Lieben-Preis-2.pdf
http://stipendien.oeaw.ac.at/de/geschichte-des-ignaz-l-lieben-preises
Zur Preisvergabe 2013: http://www.oeaw.ac.at/deutsch/aktuell/presse/pressemeldungen/aktuelle-na...
Sigma-Aldrich – weltweit größte, von Alfred Bader aufgebaute Feinchemikalienfirma: http://www.sigmaaldrich.com/customer-service/about-us/sigma-aldrich-hist...
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